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Antworten der Geisteswissenschaft auf die Grossen Fragen des Daseins

Schmidt-Nummer: S-2289

Online seit: 8th July, 2013

DAS WESEN DER GEISTESWISSENSCHAFT UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE GEGENWART

Berlin, 20. Oktober 1910

Schon seit mehreren Jahren wird hier von diesem Orte aus die Wintermonate hindurch von mir der Versuch gemacht, Vorträge über ein Gebiet zu halten, welches ich mir gestatte mit dem Namen der Geisteswissenschaft zu bezeichnen. Auch in diesem Winter soll von diesem Gesichtspunkte aus in der Reihe der Ihnen angekündigten Vorträge wiederum ein Bild gegeben werden von Tatsachen der geistigen Welt. Es soll betrachtet werden, was zu den großen Fragen des Daseins gehört: das Verhältnis von Leben und Tod, von Schlaf und Wachen, von Menschenseele und Tierseele, Menschengeist und Tiergeist und Geist im Pflanzenreich. Es soll dann betrachtet werden das Wesen der menschlichen Entwickelung durch die verschiedenen Lebensalter, durch Kindheit, Jugend und die späteren Lebensjahre, der Anteil der Erziehung an dem Hauptcharakter des Menschen. Es soll das Geistesleben beleuchtet werden, indem der Blick hingewendet wird zu großen Individualitäten der Menschheitsentwickelung, zu Zarathustra, Moses, Galilei, Goethe. Es soll versucht werden an einzelnen Beispielen zu zeigen, welches Verhältnis das, was hier Geisteswissenschaft genannt wird, zur Naturwissenschaft hat: an dem Beispiel der Astronomie und der Geologie. Und dann soll versucht werden zu sagen, was aus den Quellen der Geisteswissenschaft selbst über die Rätsel des Lebens zu sagen ist. Diesen Betrachtungen ging ín jedem Jahre eine Art orientierender, allgemeiner Betrachtung voraus. Dieser Gepflogenheit soll auch in diesem Jahre gefolgt werden, indem heute gesprochen wird über die Bedeutung der Geisteswissenschaft, ihr Wesen und ihr Verhältnis oder — man könnte auch sagen — ihre Aufgabe innerhalb der verschiedenen geistigen Bedürfnisse der Gegenwart.

In dem Sinne, wie hier von Geisteswissenschaft gesprochen wird, darf man wohl sagen, daß Geisteswissenschaft heute noch in den weiten Kreisen unserer Menschheit eine recht unbeliebte Sache ist. Zwar spricht man wohl auch außerhalb derjenigen Gesichtspunkte, die hier eingenommen werden sollen, von «Geisteswissenschaft». Man versteht zum Beispiel unter Geschichte etwas, was man mit dem Namen Geisteswissenschaft belegt, und wohl auch unter noch anderen Wissensgebieten der Gegenwart. In anderem Sinne als gewöhnlich von Geisteswissenschaft gesprochen wird, soll das hier geschehen. Wenn man heute von «Geisteswissenschaft» spricht und den Namen etwa auf Geschichte anwendet, so wird man im äußersten Falle zugeben, daß neben dem, was der menschlichen Beobachtung, der Sinnes- und Verstandeserfahrung vorliegt, für die Geschichte noch gewisse große Tendenzen in Betracht kommen, die sich wie Kräfte im Strom des Weltgeschehens hindurch wirksam zeigen und gleichsam die Geschicke der einzelnen Völkerschaften und der einzelnen Staaten bewirken. Man spricht wohl auch von allgemeinen Ideen in der Geschichte und im menschlichen Leben. Wer sich besinnt, was in solchem Falle gemeint ist, der wird bald darauf kommen, daß abstrakte Ideen gemeint sind, an was man appelliert, wenn man von den Kräften, von dem Wesenhaften spricht, von dem, was die menschlichen Geschicke leitet. Es sind in gewisser Beziehung allgemeine Ideen, zu welchen die menschliche Verstandesfähigkeit ein Erkenntnisverhältnis gewinnen kann.

In anderem Sinne wird hier von Geisteswissenschaft gesprochen, indem als geistige Welt vorausgesetzt wird eine Welt, welche wesenhaft ist, wie die Menschenwelt innerhalb des physischen Daseins wesenhaft ist. Es wird gezeigt werden: wenn man hinausgeht mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen über das, was der äußeren Sinnesbeobachtung, der Verstandeserfahrung sich darbietet, und zu den leitenden Kräften des Menschen- und Weltendaseins überhaupt geht, daß man nicht zu Abstraktionen, zu saft- und kraftlosen Begriffen bloß kommt, sondern zu etwas Wesenhaftem, zu etwas, was lebendig, inhaltsvoll, geistig mit Dasein durchtränkt ist wie das Wesen des Menschen selber. Also von einer geistigen Welt mit realem Dasein wird hier gesprochen. Und eben das macht es, daß die Geisteswissenschaft für die Standpunkte der weitesten Kreise unseres gegenwärtigen Geistesstrebens keine beliebte Sache ist. Es ist ja noch das Geringste, wenn man diejenigen, die sich auf solche geisteswissenschaftlichen Forschungswege begeben, als Schwätzer, als Träumer oder Phantasten bezeichnet. Und es ist heute noch etwas Gewöhnliches, zu sagen, daß alles, was als strenge Methode, was als wirkliche Wissenschaftlichkeit auf diesem Boden auftritt oder sich dafür ausgeben will, eine ziemlich zweifelhafte Sache ist.

Große, gewaltige Fortschritte haben ja auf die Menschheit immer, zu allen Zeiten, eine große suggestive Wirkung auch in bezug auf alles Denken, Fühlen und Empfinden ausgeübt. Und wenn wir auf die großen Fortschritte im allgemeinen Menschenleben in den letzten Zeiten — wir können fast sagen in den letzten Jahrhunderten — hinblicken, so liegen sie nicht auf dem geisteswissenschaftlichen

Gebiet, von dem hier gesprochen werden soll, sondern vielmehr auf demjenigen Gebiet, auf das die Menschheit heute — und zwar wie gleich betont werden soll — mit vollem Recht so stolz ist und auf das sie noch große Hoffnungen für die Fortentwickelung der Menschheit in der Zukunft setzt. Es liegen diese Fortschritte der letzten Jahrhunderte bis in unsere Tage hinein auf dem Gebiet, das aus den Naturwissenschaften herauswächst. Wenn man denkt, wie gewaltig alles ist, was heute nicht nur theoretisch auf naturwissenschaftlichem Gebiet für die menschliche Erkenntnis gewonnen ist und was verspricht aus dem naturwissenschaftlichen Boden noch gewonnen zu werden, und wenn man außerdem in die Waagschale legt, welche große Bedeutung diese naturwissenschaftlichen Errungenschaften für das äußere Leben haben, so muß man sagen: der Segen, das Bedeutungsvolle dieses naturwissenschaftlichen Fortschrittes konnte und mußte eine suggestive Macht auf das menschliche Gemüt in unserer Zeit ausüben. So ist es denn gekommen, daß diese suggestive Wirkung auch nach einer andern Seite sich geäußert hat. Hätte sie sich nur dahin geäußert, daß das Menschengemüt vor allen Dingen etwas empfand wie eine Art weltlichen Kultus gegenüber diesen gewaltigen Fortschritten, wer könnte auch nur ein Sterbenswörtchen dagegen sprechen? Aber es hat sich diese suggestive Macht auch nach jener Richtung geäußert, daß nicht nur anerkannt wird, was die naturwissenschaftliche Forschung und der daraus folgende Fortschritt für unsere Zeit bedeutet, sondern es hat sich nach der Richtung ausgelebt, daß in den weitesten Kreisen der Glaube entstanden ist, daß alle Erkenntnis, alles Wissen der Menschheit nur auf demjenigen Boden gewonnen werden kann, der heute eben als der naturwissenschaftliche anerkannt wird. Und weil man von diesem Glauben aus zu dem Schlüsse sich berechtigt glaubt, daß mit diesen naturwissenschaftlichen Methoden die geisteswissenschaftlichen in Widerspruch stehen, daß es unmöglich sei für den, der auf naturwissenschaftlichem Boden steht, überhaupt von der Erforschung einer geistigen Welt zu sprechen, so ist in den weitesten Kreisen das Vorurteil verbreitet, daß Geisteswissenschaft gegenüber den berechtigten Anforderungen der Naturwissenschaft; abgelehnt werden müsse. Bei dieser Ablehnung kann es vor allen Dingen auffallen, daß man etwas außerordentlich schwer in die Waagschale Fallendes geltend macht.

Die naturwissenschaftliche Methode, so wird gesagt, sei eine solche, deren Forschungsresultate, deren Erkenntnisse von jedem Menschen in jedem beliebigen Zeitpunkt nachgeprüft werden können, und daß bei der Gewinnung dieser Erkenntnisse, dieser Forschungsresultate nichts mitspielen darf von dem, was im subjektiven Menschen als Empfinden, Sympathie oder Antipathie, Sehnsucht oder Begierden waltet. Daß nichts sich einmischen darf von der Voraussetzung: man möchte dieses Resultat so oder so haben; ausschließen müsse sich das menschliche Element von der Forschung und rein die Objektivität der Dinge sprechen lassen, wenn es sich um Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung handele.

So ohne weiteres kann die Geisteswissenschaft diese Forderung nicht aufstellen. Für denjenigen, der sich rasch ein Urteil über das Allgemeingültige dieser Forderung bildet, wird einfach schon der Grund hinlänglich sein, die Geisteswissenschaft abzulehnen, daß sie dieser Forderung nicht genügen kann. Warum ist das so? Die Naturwissenschaft hat die Gegenstände ihrer Forschung, von denen sie spricht, um den Menschen herum. Sie geht von demjenigen aus, was vor jeden Menschen hingestellt werden kann, worüber jeder Mensch mit den naturwissenschaftlichen Methoden nachdenken kann, wenn er vor die Sache geführt wird. Und es ist scheinbar ganz gleichgültig, mit welchen Voraussetzungen der Mensch an das herantritt, was da in seiner Umgebung dem Blickfelde sich darbietet. Es ist gerade das, was sich in der allgemeinen Forderung ausspricht: Naturwissenschaftliche Erkenntnis muß für jeden Menschen in jedem beliebigen Zeitpunkte nachgeprüft werden können.

Wie die Naturwissenschaft ihre Resultate gewinnt, in der Art, in welcher sie vorgeht, kann auch die wahre Geisteswissenschaft gar nicht vorgehen. Sie kann zunächst nicht sagen: Es ist notwendig, daß ihre Ergebnisse von jedem Menschen in jeder Zeit nachgeprüft werden können. Denn sie muß voraussetzen, daß diese Ergebnisse, diese Forschungsresultate dadurch gewonnen werden, daß der Mensch gerade sein Inneres nicht als ein Festes, als ein Abgeschlossenes betrachtet, daß er seine subjektive Wesenheit nicht als etwas Fertiges ansieht, sondern sich sagt: Meine subjektive Wesenheit, diese ganze Summe meines Seelendaseins, wie ich sie der Welt entgegensetzen kann, ist nichts Abgeschlossenes, nichts Fertiges, sie kann entwickelt werden, das Seelenleben kann vertieft werden. Das Seelenleben kann so verlaufen, daß dasjenige, was man findet, wenn man die Sinne auf die äußere Welt richtet und den Verstand auf das anwendet, was die Sinne sagen, nur gleichsam eine Unterlage ist für weitere Seelenerfahrungen. Weitere Seelenerfahrungen ergeben sich dann, wenn sich die Seele in sich selber vertieft, an sich selber arbeitet, wenn sie die unmittelbare Lebenserfassung nur als einen Ausgangspunkt betrachtet und dann durch Kräfte, die zunächst in ihr schlummern, die aber herausgeholt werden können, sich durch Stufen des Daseins ringt, die nicht so angeschaut werden können, daß man sie durch ein äußeres Auge nachprüfen könnte.

Was also der Geistesforscher zur Vorbereitung für seine Studien durchmachen muß, ist ein innerliches Ringen der Seele, das ganz und gar unabhängig ist von dem, was der Mensch selber in sich hat. Wenn man also von Wissenschaft überhaupt verlangt, daß der Mensch nichts hinzubringen soll zu den Ergebnissen, die sich ihm äußerlich vorstellen, so könnte von Geisteswissenschaft gar nicht die Rede sein. Wer sich aber ein wenig besinnt und sich fragt: Welches 1st denn der wichtigste Teil der Forderungen, welche da für die Geisteswissenschaft geltend gemacht werden, — könnte sich sagen, daß ihre Ergebnisse für jeden Menschen Gültigkeit haben, daß sie nicht der persönlichen Willkür dieser oder jener Menschenindividualität unterliegen, und nicht bloß eine Bedeutung haben für das Innenleben dieses oder jenes Menschen, sondern eine Bedeutung für alle Menschen haben.

Das ist ja das Bedeutsame bei allem Wissenschaftlichen, daß es nicht bloß bei dem gilt, dem sich die Gegenstände der Wissenschaft vor Augen stellen, sondern daß, wenn die Gegenstände erforscht sind, dies zu Erkenntnissen führen kann, die für alle Menschen Gültigkeit haben können.

Wenn es nun wahr wäre, daß das, was so als Entwickelung des Menschen charakterisiert worden ist, nur subjektiv wäre, nur für den einen oder andern Menschen Geltung habe, und daß ihm so auch nur ein persönlicher Glaube zukäme, so könnte von Geisteswissenschaft auch wirklich nicht gesprochen werden. Es wird sich uns aber in diesem Winter auch noch zeigen, daß dieses Innenleben des Menschen, das Ringen der Seele aus Kräften heraus, die zunächst schlummern, die aber erwachen können, sich entfalten und entwickeln und dann den Menschen von Erlebnis zu Erlebnis führen kann, und daß dieses Seelenleben noch aufsteigen kann zu einer Stufe, wo seine Erlebnisse eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit haben.

Wenn wir das Menschenleben betrachten, wie es sich im Innern der Menschenseele abspielt, so ist es zunächst ein ganz persönliches, für den einen so, für den andern anders. Wer eine gesunde Selbstbesinnung hat, wird bei diesem oder jenem, was in seiner Seele an Sympathie oder Antipathie aufsteigt, was gleichsam nur eine persönliche Note hat, sich klar sein können, daß dieses und wie es der Fall ist. Aber das innere Erleben führt zu einem gewissen Punkt, wo gerade eine methodisch getriebene Selbsterkenntnis, ein reines, von Persönlichem unbeeinflußtes Selbsterkennen sich sagen muß: das Persönliche ist eben abgestreift, bildet ein besonderes Gebiet, aber man kommt dann an einen bestimmten Punkt, wo für das innere Erleben, für das übersinnliche Erleben geradeso die Willkür aufhört, wie sie aufhört, wenn man diesen oder jenen sinnenfälligen Erscheinungen gegenübertritt, und wo man auch nicht denken kann, wie man will, sondern in Gemäßheit des Gegenstandes denken muß. So kommt der Mensch auch innerlich, seelisch in eine gewisse Sphäre, auf ein gewisses Gebiet, wo er sich deutlich bewußt wird, daß nicht mehr seine persönliche Subjektivität spricht, sondern daß jetzt nicht sinnlich anschaubare, aber übersinnliche Wesenheiten und Kräfte sprechen, für die seine Individualität ebensowenig Bedeutung hat, wie sie Bedeutung hat für das, was die äußeren Sinnesgegenstände sagen. Diese Erkenntnis muß allerdings gewonnen werden, wenn von dem Rechte gesprochen werden soll, daß dasjenige, was über die geistige Welt gesagt wird, überhaupt den Namen Wissenschaft trägt. Es sollen auch in diesem Winter diese Vorträge wieder ein Beweis dafür sein, daß die Betrachtungen über die Erforschung der geistigen Welt eine Wissenschaft genannt werden darf.

So muß man sagen, Geisteswissenschaft ist ihrem Wesen nach auf dem begründet, was durch die menschliche Seele erforscht werden kann, wenn diese in ihrem innerlichen Ringen und Erleben zu einem Punkte gekommen ist, an dem das Persönliche nicht mehr bei den Betrachtungen der geistigen Welt mitspricht, sondern wo sie sich von der geistigen Welt selber ihre Eigentümlichkeiten sagen läßt. Wenn man die Geisteswissenschaft dann einmal vergleichen wird mit der Naturwissenschaft, so wird mancher vielleicht sagen: Dann fehlt aber doch der Geisteswissenschaft das wichtige Kennzeichen, daß sie auf alle Menschen einen überzeugenden Eindruck machen kann, welches bei der Naturwissenschaft aus dem Grunde vorhanden ist, daß man überall, wo naturwissenschaftliche Resultate auftreten, das Bewußtsein hat: Wenn du das auch nicht selber erforscht und gesehen hast, so könntest du doch, wenn du auf die Sternwarte oder in das Laboratorium gingest und dich des Fernrohres und des Mikroskopes bedientest, das in derselben Weise erkennen wie der, welcher dir die Mitteilung gemacht hat. Und es könnte weiter gesagt werden: Wenn auf dem Wege der Geisteswissenschaft der Beweis ein rein innerlicher ist, und die Seele mit sich ringt, bis sie sagt: jetzt gibst du nichts mit von deiner Persönlichkeit zu dem, was dir die Gegenstände sagen, — es bleibt doch ein einzelnes Ringen. Und dem, der auf diesem Wege zu gewissen Ergebnissen gelangt ist, oder wem der geisteswissenschaftliche Forscher diese Ergebnisse mitteilt, dem müßte man sagen: Für mich bleiben diese Ergebnisse ein unbekanntes Land, bis ich selber aufsteige zu demselben Punkte!

Auch dieses — das soll sich uns noch zeigen — ergibt sich uns als ein unrichtiger Einwand. Gewiß, es gehört dieses einsame Ringen der Menschenseele, dieses Bloßlegen von in der Menschenseele schlummernden Kräften dazu, um in die geistige Welt, wo sie objektiv zu uns spricht, hinaufzudringen. Aber die geistige Welt ist so: Wenn die geisteswissenschaftlichen Resultate mitgeteilt werden, dann bleiben die Ergebnisse nicht etwa wirkungslos. Was aus einer durch die geisteswissenschaftliche Forschung geprüften Menschenseele als Mitteilungen zu andern Seelen tritt, kann von jeder Seele wieder, in einem gewissen Sinne allerdings, nachgeprüft werden, nicht so, daß man im Laboratorium sehen kann, was der andere gefunden hat, sondern so, daß man es einsehen kann. Denn in jeder Seele lebt ein unbefangener Wahrheitssinn, eine gesunde Logik, eine gesunde Vernünftigkeit. Und wenn die Ergebnisse der Geistesforschung in gesunde Logik gekleidet werden, in das, was zu unserem gesunden Wahrheitssinn spricht, dann klingt in jeder Seele oder kann wenigstens in jeder unbefangenen Menschenseele eine Saite mitklingen mit der mitteilenden Seele. Man kann sagen: Jede Seele ist in sich selber veranlagt, wenn sie sich auch noch nicht dem gekennzeichneten einsamen Ringen hingegeben hat, durch eine unbefangene Logik und durch einen gesunden Wahrheitssinn in sich aufzunehmen, was von der Geisteswissenschaft mitgeteilt wird. Wenn auch ganz gewiß zugegeben werden muß, daß im weitesten Umkreis, in dem heute dieses oder jenes von der Geisteswissenschaft getrieben wird, bei der Aufnahme der Mitteilungen der Geistesforschung nicht überall dieser gesunde Wahrheitssinn und diese gesunde Logik herrschen, so ist das ein Mangel einer jeden Geistesbewegung. Im Prinzip ist es aber durchaus richtig, was gesagt ist. Ja, im Prinzip sollte sogar beachtet werden, daß es zu Irrtümern über Irrtümern führen muß, wenn leichten Herzens und mit einem blinden Glauben das entgegengenommen wird, was so oft heute als Geisteswissenschaft an die Menschheit herangebracht wird. Wer wirklich auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, fühlt sich in strenger Art verpflichtet, logisch und vernunftgemäß das mitzuteilen, was er zu sagen hat, so daß es wirklich von einem gesunden Wahrheitssinn und von aller Logik geprüft werden kann. — So haben wir also von einer Seite das Wesen der Geisteswissenschaft dadurch bezeichnet, daß wir gezeigt haben, wie ihre Resultate gefunden werden müssen.

Daß es nun eine solche objektive Tatsache des Geistes gibt, kann ja nur diese Wissenschaft selber belegen. Darauf aber soll jetzt schon aufmerksam gemacht werden, daß diese Wissenschaft eben zu dem führt, was wir den realen, den wirklichen Inhalt der geistigen Welt nennen, einen Inhalt, der lebendig erfüllt ist von solcher Wesenhaftigkeit, wie etwa ein Menschenwesen selber von Wesenhaftigkeit erfüllt ist. Von diesem Gesichtspunkte aus ist sich die Geisteswissenschaft darüber klar, daß allem äußeren, physischsinnlichen Dasein, allem Dasein, von dem uns die Sinne sprechen und die verstandesmäßige Erfahrung, zuletzt eine geistige Welt zugrunde liegt, daß der Mensch so wie alle anderen Dinge aus dieser geistigen Welt herausgeboren ist, sich herausentwickelt hat, so daß also hinter der sinnenfälligen Welt, hinter dem, was man gewöhnlich das physische äußere Dasein nennt, das Gebiet der geistigen Welt sich ausdehnt. Wenn nun die Geisteswissenschaft allmählich dazu übergeht, aus ihren Beobachtungen heraus zu zeigen, wie es sich in dieser geistigen Welt ausnimmt, wie die geistige Welt unserer sinnenfälligen zugrunde liegt, dann fängt eben in vielen Kreisen unserer Gegenwart die Abneigung, die Antipathie an, was im Eingange der heutigen Betrachtung damit bezeichnet wurde: In weiten Kreisen der Gegenwart ist die Geisteswissenschaft eine ziemlich unbeliebte Sache. Und es ist keineswegs schwer zu begreifen, daß dieser Geisteswissenschaft heute noch ein gewaltiger Widerstand entgegengebracht wird. Es ist durchaus selbstverständlich und nicht nur selbstverständlich aus dem Grunde, weil dasjenige, was in einer gewissen Beziehung, wie die Geisteswissenschaft, neu dem menschlichen Kulturleben sich einverleibt, immer mit einer gewissen Zurückdrängung behandelt worden ist wie alle kleinen und großen Errungenschaften der Menschheit; sondern weil es in der Tat recht vieles gibt im Umkreis der Vorstellungen, die der Mensch heute zum Beispiel aus der naturwissenschaftlichen Beobachtung gewinnt, was gerade die Notwendigkeit hervorruft, daß sich der, der glaubt, ganz auf dem Boden der Naturwissenschaft zu stehen, in lauter Widersprüche verwickelt findet, wenn er von dem hört, was die Geisteswissenschaft sagt. Wer selbst auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, zweifelt gar nicht, daß mit einem gewissen Rechte Hundert und aber Hundert von sogenannten Widerlegungen dieser Geisteswissenschaft aufgebracht werden können. Nur wie in Parenthese möchte ich einfügen, daß ich selber in der nächsten Zeit an verschiedenen Orten und auch hier einmal, damit Klarheit in die angeregte Frage gebracht wird, zwei Vorträge halten werde, wovon der erste lauten wird: «Wie widerlegt man Theosophie?» und der andere: «Wie begründet man Theosophie?» Probeweise soll das geschehen, damit einmal gezeigt wird, wie der, der auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, wirklich alles zusammentragen kann, was an Widerlegungen gegenüber der Geisteswissenschaft aufgebracht werden kann. Ja, ich möchte sagen mehr noch als das, was schon angeführt worden ist, ist dies der Fall, daß die Widerlegungen der Geisteswissenschaft, wie man gewöhnlich heute von Widerlegungen spricht, in bezug auf ihre verschiedenen Resultate gar nicht so sonderlich schwierig sind. Es ist leicht, die geisteswissenschaftlichen Forschungen zu widerlegen.

Ich möchte diese Widerlegungen nicht direkt vergleichen, aber um zu verdeutlichen, was ich sagen will, anknüpfen an etwas, was einem oft auffällt, wenn man Werke von gewissen Philosophen über die Hegelschen Philosophie liest. — Ich will hier nicht über das sprechen, was an der Hegelschen Philosophie bedeutungsvoll ist, was wahr ist und was Irrtum ist; das wollen wir dahingestellt sein lassen. — Es wird unter den Kennern Hegels doch wenige geben, die nicht anerkennen, daß sie es in Hegel mit einem bedeutenden Geist zu tun haben. Nun findet sich in Hegels Schriften ein merkwürdiger Satz, der sozusagen einen tiefen Eindruck auf die machen kann, welche leichten Herzens Hegel widerlegen wollen. Und dieser Satz lautet: «Alles Wirkliche 1st verünftig!» Nun denken wir einmal, man möchte sagen, welch innerliches Lachen ein solcher Satz hervorrufen muß bei dem, der gern widerlegt! Ein Philosoph soll groß sein, der solchen Unsinn spricht: «Alles Wirkliche ist vernünftig!» Man braucht nur einen einzigen Blick in die Welt zu lenken und wird sehen, wie unvernünftig dieser Satz ist! Es gibt eine einfache Methode, um die Richtigkeit dieses Satzes zu widerlegen, und die besteht darin, daß man selbst eine knüppeldicke Dummheit macht. Denn davon kann man behaupten, es sei ganz gewiß nicht vernünftig. Soll die Tatsache, daß eine Widerlegung leicht wird, denn auch dazu führen, daß sie einfach leicht genommen und leicht als bedeutungsvoll genommen werde? Das ist eine ganz andere Frage, die sich vielleicht dadurch beantwortet, daß man sich folgendes überlegt: Sollte denn wirklich Hegel — man mag sich zu Hegel stellen wie man will — so dumm gewesen sein, daß er nicht eingesehen hätte, was es gegen diesen Satz als Widerlegung gibt? Sollte er wirklich geglaubt haben, daß kein Mensch eine knüppeldicke Dummheit machen kann? Sollte man nicht selbst veranlaßt sein, einmal darauf einzugehen, in welchem Sinne Hegel diesen Satz gemeint haben kann, und daß man mit einer solchen Widerlegung gar nicht das trifft, was gemeint ist?

So könnte es auch bei vielen Dingen der Geisteswissenschaft sein. Um an etwas Konkretes anzuknüpfen: Die Geisteswissenschaft muß voraussetzen — das kann heute nur angeführt werden daß das, was wir im Menschen als das Werkzeug des Denkens, des Vorstellens, des Fühlens und des Wollens anerkennen, nämlich das Nervensystem mit dem Gehirn, herausgebaut ist aus einem Geistigen, daß Gehirn und Nervensystem Werkzeug sind eines Wesenhaften, das man nicht in der Sinneswelt aufzeigen kann, sondern das durch die charakterisierten Methoden der Geisteswissenschaft erforscht werden muß. Die Geisteswissenschaft muß also zurückgehen von dem, was die äußere, auf die sinnenfälligen Erscheinungen sich stützende Wissenschaft über Gehirn und Nervensystem zu sagen weiß, auf etwas, was im Menschen als Seelisch-Geistiges selbst arbeitet, was nicht mehr mit den Sinnen erforscht werden kann, was nur auf den inneren Wegen der Seele erforscht werden kann. Es 1st nun wirklich kinderleicht zu widerlegen, was die Geistesforschung über ein Übersinnliches erzählt, das dem menschlichen Gehirn zugrunde liegt. Man kann sagen: Alles, was du da redest, ist selbst nur ein Produkt des Gehirns. Wenn du das nicht einsiehst, dann betrachte einmal, wie die geistigen Fähigkeiten in der Entwickelungsreihe steigen. Bei den niederen Tieren sind die geistigen Fähigkeiten noch ganz unvollkommen, bei den höheren Tieren und besonders bei den höheren Säugetieren sind sie schon bedeutender und vollkommener, und beim Menschen sind sie deshalb am vollkommensten erscheinend, weil sein Gehirn die größte Vollkommenheit erlangt hat. Das zeigt, daß aus dem Gehirn herauswächst, was als Geistesleben erscheint. Und wenn du das noch nicht glaubst, so wende dich einmal an den, der dir zeigen kann, wie in gewissen Krankheitsfällen gewisse Gehirnpartien unwirksam werden und gewisse Fähigkeiten vom Menschen nicht mehr ausgeübt werden können, so daß gleichsam gewisse Gehirnpartien abgetragen werden und das geistige Leben ausgeschaltet wird. Da siehst du also, wie Stück für Stück dein Geistesleben abgetragen werden kann durch das, was sinnenfälliges Organ ist! Warum sprichst du also da noch von geistigen Wesenheiten, die hinter den sinnenfälligen Dingen stehen sollen?

Dieser Einwand ist wirklich kinderleicht zu machen. Daß er aber nicht aus den naturwissenschaftlichen Ergebnissen heraus, sondern aus der Suggestion getan wird, die für viele aus gewissen naturwissenschaftlichen Theorien heraus gebildet wird, das muß uns als selbstverständlich in der Gegenwart erscheinen. Das alles hängt damit zusammen, daß unsere Zeit unter der suggestiven Gewalt dessen steht, daß man Wahrheit, Erkenntnis nur gewinnen könne, wenn man die Sinne nach außen richtet und den Verstand an dem Gewonnenen entzündet. Wenn nun auch — das muß in bezug auf die Geisteswissenschaft gesagt werden — diese Ergebnisse Widerlegungen der geisteswissenschaftlichen Resultate von allen Punkten nur so hervorquellen lassen müssen, so kann man doch sagen, daß auf der andern Seite in unserer Gegenwart ein tiefes Bedürfnis, eine tiefe Sehnsucht vorhanden ist, aus jenen Landen etwas zu hören, von denen Geisteswissenschaft zu berichten weiß. Eine tiefe Sehnsucht darnach hat sich zugleich herausgebildet und ist bei einer Gruppe von Menschen lebendig und bewußt vorhanden. Bei dem großen Teil der Menschen schlummert sie sozusagen unter der Oberfläche des Bewußtseins, wird aber immer mehr und mehr zur Erscheinung kommen. Immer größer und größer wird das Bedürfnis nach geisteswissenschaftlichen Resultaten werden. Diese Sehnsucht, dieses Bedürfnis nach geisteswissenschaftlichen Resultaten tritt — können wir sagen — als eine Nebenerscheinung neben der Bewunderung, der Hingabe gegenüber den naturwissenschaftlichen Errungenschaften auf. Gerade weil die naturwissenschaftlichen Errungenschaften notwendigerweise den Blick des Menschen nach außen wenden müssen, erwacht wie ein Gegenpol die Sehnsucht nach geisteswissenschaftlichen Resultaten. In bezug darauf sind wir innerhalb der Entwickelung, wie sie sich im neunzehnten und in unserem Jahrhundert ergeben hat, auf einem ganz anderen Gesichtspunkte angelangt, als die Menschheit ihn noch vor einem Jahrhundert hatte. Wenn man von dem Wert der geisteswissenschaftlichen Forschungen für die Gegenwart sprechen will, so ist es bedeutungsvoll, sich einmal vor die Seele zu rufen, daß selbst größere Geister vor einem Jahrhundert noch nicht das Bedürfnis gefühlt haben, von geisteswissenschaftlichen Ergebnissen in der Art zu sprechen, wie das heute im Sinne dieser Vortragsreihe geschehen soll. Und da die großen Individualitäten für die Menschheit nur tonangebend sind, in gewissem Sinne nur ausdrücken, was das Bedürfnis der gesamten Zeit ist, also auch der kleinen Individualitäten, so kann sich uns eine solche Sache anschaulich darstellen, wenn wir auf die größeren Individualitäten einmal hinblicken.

Da kann mit Recht gesagt werden: ein solcher Mensch wie Goethe hat vor einem Jahrhundert keineswegs das Bedürfnis gefühlt, sich über geisteswissenschaftliche Resultate auszusprechen, wie das heute etwa auf dem Boden der Geisteswissenschaft geschieht. Wo die Frage darauf kam, über etwas zu sprechen, was über dem äußerlich Sinnenfälligen liegt, hat sich auch Goethe wie so viele Menschen oft darauf berufen, daß das eine Sache des Glaubens, aber nicht einer strengen Wissenschaft sein könne. Und daß im Grunde genommen die Mitteilung von allgemein gültigen Resultaten auf diesem Boden kaum sehr fruchtbar sein könne, wenn sie von dem einen Menschen zu dem anderen gemacht werden, hat auch Goethe öfter geäußert. Wir sind im Laufe eines Jahrhunderts in bezug auf die Gesamtentwickelung der Menschheit nicht nur so fortgeschritten, daß Goethe in einem Zeitalter gelebt hat, welches keine Telegrafen, Telefone, Eisenbahnen und keine solche Aussichten gehabt hat, wie sie sich der Luftschiffahrt bieten; wir stehen auch in bezug auf die geistige Entwickelung vor Ergebnissen, die andere sind, als sie zur Zeit Goethes waren. Das können Sie an einem konkreten Fall sehen. Es gibt ein schönes Gespräch, das Goethe mit einem gewissen Falk geführt hat bei Gelegenheit des Todes Wielands. Da hat er sich über die Gebiete ausgesprochen, aus denen heraus eine gewisse Erkenntnis über das beim Menschen geschöpft werden soll, was über Geburt und Tod hinüberlebt, was nicht hinfällig ist mit der sinnlichen Hülle, was unsterblich ist gegenüber dem sterblichen Teil des Menschen. Der unmittelbare Anlaß des Todes des von ihm so geschätzten Wieland hatte Goethe dazu gedrängt, sich gegenüber einem Menschen wie Falk, der ihm Verständnis dafür entgegenbrachte, in populärer Weise auszudrücken. Und was er da sagte, ist höchst bezeichnend, wenn wir auf die Frage der Bedeutung der Geisteswissenschaft für die Gegenwart eingehen.

«... Sie wissen längst, daß Ideen, die eines festen Fundamentes in der Sinneswelt entbehren, bei allem ihrem übrigen Wert für mich keine Überzeugung mit sich führen, weil ich der Natur gegenüber wissen, nicht aber bloß vermuten und glauben will. Was nun die persönliche Fortdauer unserer Seele nach dem Tode betrifft, so ist es damit auf meinem Wege also beschaffen: Sie steht keineswegs mit den vieljährigen Beobachtungen, die ich über die Beschaffenheit unserer und aller Wesen in der Natur angestellt, im Widerspruch; im Gegenteil, sie geht sogar aus denselben mit neuer Beweiskraft hervor. Wie viel aber, oder wie wenig von dieser Persönlichkeit übrigens verdient, daß es fortdauere, ist eine andere Frage und ein Punkt, den wir Gott überlassen müssen. Vorläufig will ich nur dies zuerst bemerken: Ich nehme verschiedene Klassen und Rangordnungen der letzten Urbestandteile aller Wesen an, gleichsam der Anfangspunkte aller Erscheinungen in der Natur, die ich Seelen nennen möchte, weil von diesen die Beseelung des Ganzen ausgeht, oder noch lieber Monaden — lassen Sie uns immer diesen Leibnizischen Ausdruck beibehalten! Die Einfachheit des einfachsten Wesens auszudrücken, möchte es kaum einen besseren geben. Nun sind einige von diesen Monaden oder Anfangspunkten, wie uns die Erfahrung zeigt, so klein, so geringfügig, daß sie sich höchstens nur zu einem untergeordneten Dienst und Dasein eignen; andere dagegen sind gar stark und gewaltig. Die letzten pflegen daher alles, was sich ihnen naht, in ihren Kreis zu reißen und in ein ihnen Angehöriges, das heißt in einen Leib, in eine Pflanze, in ein Tier, oder noch höher hinauf, in einen Stern zu verwandeln. Sie setzen dies solange fort, bis die kleine oder große Welt, deren Intention geistig in ihnen liegt, auch nach außen leiblich zum Vorschein kommt. Nur die letzten möchte ich eigentlich Seelen nennen. Es folgt hieraus, daß es Weltmonaden, Weltseelen, wie Ameisenmonaden, Ameisenseelen gibt, und daß beide in ihrem Ursprung, wo nicht völlig eins, doch im Urwesen verwandt sind. Jede Sonne, jeder Planet trägt in sich eine höhere Intention, einen höheren Auftrag, vermöge dessen seine Entwickelungen ebenso regelmäßig und nach demselben Gesetze wie die Entwickelungen eines Rosenstockes durch Blatt, Stiel und Krone, zustande kommen müssen. Mögen Sie dies eine Idee oder eine Monade nennen, wie Sie wollen, ich habe auch nichts dawider; genug, daß diese Intention unsichtbar und früher, als die sichtbare Entwickelung aus ihr in der Natur, vorhanden ist... »

In gewissem Sinne spricht also Goethe in der damaligen Zeit von dem, wovon wir in diesen Vorträgen hier öfter sprechen werden: über Wieder Verkörperung der Menschenseele. Und er macht die Bemerkung: nach allem, was er sich selbst als Anschauung über die Menschenwelt, Tierweit und so weiter gebildet habe, widerspräche eine solche Anschauung nicht dem, was er als Wissenschaft da aufgebaut habe.

Man kann sich nun leicht überlegen, was ein solcher Ausspruch im Munde Goethes besagt, wenn man sich darauf besinnt, daß Goethe 1784 eine Entdeckung gemacht hatte, die allein genügt haben würde, seinen Namen bis in die weitesten Zeiten zu erhalten, selbst wenn er sonst gar nichts geleistet hätte: die Entdeckung des sogenannten Zwischenkieferknochens in der oberen Kinnlade des Menschen. Man hat in der oberen Kinnlade des Menschen — wie bei den Tieren auch — einen Zwischenknochen. Das leugnete man gerade damals, als Goethe in die Naturwissenschaft hineinging. Man suchte, wo es sich um die Unterscheidung von Mensch und Tier handelte, nur nach äußeren unterscheidenden Merkmalen und meinte, die Tiere hätten im Oberkiefer einen Zwischenknochen, und der wäre beim Menschen nicht vorhanden. Das unterscheide die menschliche von der tierischen Organisation. Goethe wollte es nicht zugeben, konnte es nicht glauben, daß in dieser untergeordneten Beschaffenheit der Unterschied zwischen Mensch und Tier anzugeben sei, und ging mit allen Mitteln daran, zu zeigen, daß das, was man Zwischenkieferknochen nennt, beim Menschen zwar schon kurz nach der Geburt verwachse, aber doch in der Anlage vorhanden sei und nicht beim Menschen fehle. Daß nicht in so etwas Äußerem der Unterschied zwischen Mensch und Tier liege, war ihm wirklich gelungen zu beweisen.

Von diesem Ausgangspunkt aus hat Goethe auf allen Gebieten der Naturwissenschaft sich umgetan und war also wohl bekannt mit der wissenschaftlichen Denkweise seiner Zeit. Ja, er war seiner Zeit so weit voraus, daß Darwinianer, welche Goethe im Sinne Darwins umdeuten wollten, heute behaupten können: Goethe wäre ein Vorläufer Darwins. Obwohl Goethe so in der Wissenschaftlichkeit seiner Zeit wurzelt und darüber hinausgeht, kann er trotzdem sagen, was er sich als Ansicht über des Menschen unsterbliches Teil gebildet habe, was anklingt an die Wiederverkörperung, das sei durchaus mit seinen Wissenschaftlichen Vorstellungen vereinbar. Und was Goethe damals sagen konnte, könnte sich im Grunde genommen jeder Mensch sagen. Auch andere Forscher, die sich in wissenschaftlicher Weise die Erkenntnisbedürfnisse für das Leben zu erringen suchten, waren in derselben Lage. Charakteristisch dafür ist, daß man sich auf Haeckelschem Boden auf eine große Tat Kants beruft, auf die Begründung der mechanischen Weltanschauung durch Kant, und auf die im Jahre 1775 geschriebene «Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes» von Kant hinweist. Sie brauchen sich nur das Reclamheft zu nehmen, den Schluß sich anzuschauen und dann zu fragen: Wie stellen sich die, welche auf dem Boden des bloßen Haeckelismus stehen, zu Kant, wenn er von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele spricht, wo er über die großen Geheimnisse der Menschenseele spricht, über die Aussicht, die sich in der Bewohnbarkeit anderer Himmelskörper bietet und in dem Weiterleben der menschlichen Seele auf andern Planeten? Wie stellen sich solche Anhänger Haeckels zu der Möglichkeit einer Wiederverkörperung des Menschen, wie sie in dieser 1775 erschienenen Schrift Kants auftaucht? Man beruft sich heute auf Dinge so, daß man erstaunt sein müßte, wenn dieselben, die sich auf Kant berufen, diese Dinge wirklich gelesen hätten!

Es liegen die Dinge in der Gegenwart schon anders, als sie vor einem oder anderthalb Jahrhunderten lagen. Es lag im Zeitbedürfnis, daß man in einer gewissen Weise, die mit Wissenschaft nichts zu tun haben wollte, über die Dinge des geistigen Lebens sprach, weil man empfand, man spricht da von etwas, was in keinem Widerspruch steht zu dem, was von der Wissenschaft behauptet werden kann. Jeder, der die Wissenschaft von der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts auf sich wirken läßt, fühlt, wenn er nur durch die populären Schilderungen Wissenschaftliches aufnimmt, daß er so sprechen könnte wie Goethe: Die Überzeugungen, die ich mir von einem geistigen Leben gebildet habe, seien sie auch nur wie ein persönlicher Glaube, werden in keinem Punkte dem widersprechen, was als Wissenschaft heute geboten wird.

Die Dinge sind anders geworden und werden heute gegenüber der Wissenschaft sehr schwierig. Man muß bedenken, daß nach dem Tode Goethes die großen Entdeckungen von Schleiden und Schwann über die Menschen- und Tierzelle eingetreten sind, und daß sich da erst sinnenfällig ein Elementar-Organismus dargeboten hat. Was braucht man zu reden von einem «Leben auf andern Himmelskörpern» und so weiter, wenn man sehen kann, wie bei einem Tier oder einer Pflanze durch Zusammenwirken der rein materiellen, sinnenfälligen Zellen die Körper sich aufbauen!

Dann kamen die andern gewaltigen Errungenschaften. Wir brauchen nur nachzudenken, was für einen Eindruck es auf das menschliche Nachsinnen machen konnte, als Kirchhoff und Bunsen die Spektralanalyse brachten, die des Menschen Blick erweiterte über ferne Welten, und wo der Schluß gezogen werden durfte, daß das materielle Dasein, das wir auf der Erde finden, auch auf den fernsten Weltenkörpern dasselbe ist, so daß von einer Einheit des Stoffes in dem ganzen Weltendasein gesprochen werden durfte. Und jeder Tag vermehrt heute das, was uns auf diesem Gebiet entgegentreten kann. Ich könnte auf Hunderte und Hunderte von solchen Dingen hinweisen, die umwälzend gewirkt haben — nicht auf die Tatsachenwelt, sondern auf die Vorstellungsart der Menschen, so daß die Überzeugung entstehen mußte, daß man gegenüber dem, was die naturwissenschaftliche Methode bietet, kein Recht habe anders als so zu sprechen: Wartet ab, was die naturwissenschaftliche Forschung euch zu sagen hat über die Gründe des Lebens, über die Entstehung des Geisteslebens aus der Gehirntätigkeit, und redet nicht in phantastischer Art von einer geistigen Welt, welche dem allen zugrunde liegen soll! — Das ist alles nur zu leicht zu begreifen.

So hat sich für die menschliche Überzeugungskraft der Anblick des Naturwissenschaftlichen geändert. Goethe ist in dieser Beziehung wirklich ein Vorgänger Darwins. Aber trotzdem stieg er auf in Gemäßheit des Geistes seiner Zeit von seinen naturwissenschaftlichen Forschungen, von der Entwickelung der Lebewesen vom Unvollkommenen zum

Vollkommenen, zu einer rein geistigen Weltanschauung, die durchaus das Übersinnliche, das Geistige hinter allem Sinnlichen sucht. Die Menschen, welche in derselben Weise in unserer Zeit vorgehen, glauben, daß die naturwissenschaftlichen Resultate dazu drangen, haltzumachen vor dem, was diese naturwissenschaftlichen Resultate sein sollen, und daß alles, was Geistesgebiet ist, wie hervorquillt aus dem sinnenfälligen Hintergrunde. Heute konnte eben nicht in derselben Weise wie vor einem Jahrhundert der Mensch sagen, was er durch seine persönliche Glaubensüberzeugung weiß oder zu wissen glaubt oder sich angeeignet hat über die übersinnliche Welt, stehe nicht in Widerspruch zu den naturwissenschaftlichen Ergebnissen, sondern es scheint, daß es gar sehr in Widerspruch dazu stehen müsse. Und nicht bloß diesem oder jenem ernsten, würdigen Wahrheitsforscher und strebenden Menschen scheint es so.

Wenn das der Fall ist, so müssen wir sagen: Für unsere Gegenwart ist diejenige Überzeugungskraft, sind die Überzeugungsgründe, die herangebracht werden konnten noch vor einem Jahrhundert oder auch noch später, ohne daß sie mit den äußeren wissenschaftlichen Resultaten in Widerspruch standen, nicht mehr unmittelbar maßgebend. Es bedarf heute gewichtigerer Impulse, um das, was über die übersinnliche Welt gesagt wird, gegenüber den strengen wissenschaftlichen Resultaten der Wissenschaft aufrechtzuerhalten. Was wir über die geistige Welt zu glauben uns befugt halten, das müssen wir imstande sein, in derselben Weise einzukleiden, in derselben objektiven Weise zu gewinnen, wie die naturwissenschaftlichen Resultate — nur auf anderem Boden — gewonnen werden können. Nur von einer Geisteswissenschaft, die mit derselben Logik, mit demselben gesunden Wahrheitssinn arbeitet wie die Naturwissenschaft, wird man empfinden können, daß sie sich neben die gewaltig fortgeschrittene Naturwissenschaft stellen kann. Wenn man dies bedenkt, begreift man, in welchem Sinne Geisteswissenschaft heute für unsere Gegenwart eine Notwendigkeit geworden ist. Man begreift auch, daß diese Geisteswissenschaft einzig und allein den Sehnsüchten, von denen gesprochen worden ist, entgegenkommen kann. Und diese Sehnsüchte sind deshalb vorhanden, weil unbewußt für viele Menschenseelen wirkt, was eben charakterisiert worden ist — gerade bei den besten Wahrheitssuchern und auf einem Gebiet, wo man es sich gar nicht versieht wenn man anführt, wie der menschliche Erkenntnisdrang hinausstrebt aus dem, was immer auf wissenschaftlichem Gebiet früher zu sagen war.

Gewiß scheint das mathematische Gebiet, das Gebiet der Geometrie ein solches zu sein, auf welchem das, was man gewinnt, in seiner Anwendung auf die sinnliche Welt gesichert erscheint. Wer möchte sozusagen leichten Herzens glauben, daß irgend jemand behaupten könne, was die Welt über die Mathematik, über die Geometrie zu sagen habe, könnte irgendwie erschüttert werden? Und dennoch ist es charakteristisch, daß es im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts Geister gegeben hat, die sich rein mathematisch, durch strenge mathematische Untersuchungen dazu aufgeschwungen haben, Geometrien, Mathematiken auszudenken, die nicht Geltung haben innerhalb unserer sinnlichen Welt, sondern Geltung haben für ganz andere Welten. Also denken wir: streng mathematisch denkende Geister hat es gegeben, die empfanden, sie könnten über das hinausgehen, was es bisher als Mathematik und Geometrie über das Gebiet der Sinneswelt gegeben hat, könnten eine Geometrie erfinden, die für eine ganz andere Sinneswelt gilt! Und es gibt nicht eine, sondern mehrere solcher Geometrien. Mathematisch Geschulte wissen etwas über die Namen Riemann, Lobatschewski, Bolyai. Wir wollen hier nicht näher darauf eingehen, denn es kommt uns nur darauf an, daß aus dem menschlichen Erkennen so etwas werden konnte. — Es gibt zum Beispiel Geometrien, die nicht den Satz anerkennen: Die drei Winkel eines Dreiecks betragen zusammen 180 Grad, sondern für welche die Dreiecke eine ganz andere Eigenschaft haben, so daß zum Beispiel die drei Winkel eines Dreiecks stets kleiner sind als 180 Grad. Oder einen andern Fall: Für unsere euklidische Geometrie kann man durch einen Punkt zu einer gegebenen Linie nur eine Parallele ziehen. Geometrien sind ausgedacht worden, wo man unendlich viele Parallelen durch einen Punkt zu einer andern Linie ziehen kann. Das heißt also: Geister hat es gegeben, die sich gedrängt fanden, für andere Welten nicht bloß zu schwärmen, sondern sogar Geometrien für sie auszudenken! Das spricht gewaltig dafür, daß selbst in Mathematikerköpfen eine Sehnsucht waltete, darüber hinauszugehen, was in der unmittelbar uns umgebenden Welt ist.

Nur eines soll noch angeführt werden über die Tatsache, daß unsere Zeit etwas braucht, was aus der Geisteswissenschaft gewonnen werden kann. Es wird sich uns zeigen, daß in der Tat der Mensch in bezug auf das, was sein eigentliches geistig-seelisches Wesen ist, immer wieder und wieder in erneuerten Leben auf unserer Erde selbst erscheint. Daß das, was man Wiederverkörperung nennt, auf geistig-seelischem Gebiete eine ähnliche Tatsache ist wie die Entwickelungslehre oder Evolutionstheorie auf einer untergeordneten Stufe für das Tierreich. Daß also die menschliche Seele sich hindurchentwickelt durch Verkörperungen, die sie während ferner Vergangenheiten erlebt hat, und durch solche sich hindurchleben wird, die sie in fernen zukünftigen Verkörperungen erleben wird. Gewiß, gerade gegen solche Dinge wird sich die Widerlegungskunst gar sehr in der Gegenwart noch wenden. Aber man kann schon behaupten, daß die Gegenwart ein tiefes Bedürfnis nach solchen Ergebnissen hat, die zusammenhängen mit dem, wodurch sich der Mensch orientieren kann über seine Bestimmung, seine ganze Lage zur äußeren Welt.

Der Mensch hat seit kurzer Zeit erst angefangen, sich richtig als geschichtliches Wesen in die Weltentwickelung hineinzustellen. Das ist durch die äußeren Bildungsmittel gekommen. Denken Sie an den eingeschränkten Gesichtskreis der Menschheit des vierzehnten, fünfzehnten Jahrhunderts, bevor die Buchdruckerkunst die Bildungsmittel verbreitet hat. Dadurch traten an das menschliche Herz noch nicht Fragen heran wie die: Wie kann sich unsere Seele befriedigt gegenüberstellen dem, was wir als den geschichtlichen Fortschritt erkennen? Hier liegt der Ursprung einer Frage, die für viele Menschen heute schon eine Herzensfrage geworden ist. Der geschichtliche Fortschritt zeigt uns, daß immer neue Errungenschaften, die auch für die innere Entwickelung der Seele selber Wert haben, daß neue und immer neue Tatsachen eintreten in den Strom der fortschreitenden Menschheit. Da muß sich der Mensch fragen: Wie verhält es sich nun mit dem Menschen in seiner innersten Wesenheit selber? Waren die Menschen der Vergangenheit dazu verurteilt, in einem dumpfen Dasein ihr Leben erlebt zu haben und nicht Anteil zu nehmen an Entwickelungsprodukten eines späteren Fortschrittes? Wie ist denn der Anteil der menschlichen Wesenheit an den aufeinanderfolgenden Entwickelungen des Menschengeschlechtes?

Mag das eine Frage sein, gegenüber der mancher Einwand gemacht werden könnte hier soll nur davon die Rede sein, daß in der Tat aus einem tiefen Gefühl der Menschenseele die Frage, das Rätsel entsteht: Ist es denn möglich, daß heute eine menschliche Seele lebt, die dadurch, daß ihr Leben eingeschlossen ist zwischen Geburt und Tod, nicht sich Errungenschaften einverleiben kann, die erst in der Zukunft dem Strom der Menschheitsentwickelung eingeprägt werden?

Diese Frage nimmt für die Bekenner des Christentums eine grundlegende Bedeutung an. Wer auf dem Boden eines geläuterten Christentums steht, unterscheidet in der Entwickelung der Menschheit die vorchristliche Epoche von der nachchristlichen und spricht davon, daß von dem Christus-Ereignis ein Strom neuen geistigen Lebens ausgegangen ist, der früher nicht für die Erdenmenschheit da war. Da muß sich für einen solchen Menschen besonders die Frage ergeben: Wie ist es mit den Seelen, die vor dem Christus-Ereignis gelebt haben, vor der Verkündigung dessen, was vom Christus-Ereignis ausströmte?

Eine solche Frage kann der Mensch stellen. Die Geisteswissenschaft beantwortet sie ihm nicht nur theoretisch, sondern so, daß sie ihm auch befriedigend ist, indem sie zeigt, daß dieselben Menschen, die in der Zeit vor dem Christus-Ereignis Errungenschaften der vorchristlichen Zeit aufgenommen haben, wiederverkörpert werden, nachdem der Strom der christlichen Entwickelung seinen Anfang genommen hat, so daß also keiner verlustig gehen kann dessen, was in der Kultur eintritt. So wächst für die Geisteswissenschaft aus der Geschichte etwas heraus, was nicht bloß allgemeine abstrakte Ideen sind, die kalt und abstrakt wie steife Kräfte den Menschheitsstrom durchkraften sollen, sondern es spricht die Geisteswissenschaft von der Geschichte als von etwas, an dem der Mensch mit seinem innersten Wesen allüberall beteiligt ist. Und da sich der menschliche Horizont durch die modernen Bildungsmittel erweitert hat, wird diese Frage jetzt in einem ganz anderen Sinne gestellt als etwa vor einem Jahrhundert, wo der Gesichtskreis der Menschen eingeschränkter war. Ein Verlangen nach Antwort 1st vorhanden, das nur durch die Geisteswissenschaft gestillt werden kann.

Wenn wir dies alles in Erwägung ziehen — und wir konnten stundenlang so fortsprechen und vieles anführen, was dafür spricht, daß die Geisteswissenschaft deshalb eine Bedeutung hat für die Gegenwart, weil die Gegenwart gar sehr nach ihren Resultaten verlangen muß dann bekommen wir eine Vorstellung von der Bedeutung der Geisteswissenschaft für die Gegenwart. Und alle Vorträge, die im Laufe dieses Winters hier gehalten werden, sollen nur dazu dienen, von den verschiedensten Seiten Material zusammenzutragen, um zu zeigen die geisteswissenschaftlichen Resultate und ihre Bedeutung für das menschliche Leben, wie für die Befriedigung der höchsten Bedürfnisse des Menschen überhaupt.

Nur das sei zum Schluß noch gesagt: Einer der gewöhnlichsten, allerdings nur von einem Schlagworte hergenommenen Einwürfe gegen die Geisteswissenschaft ist heute der, daß man sagt, so habe es die Naturwissenschaft glücklich dahin gebracht aus einem einheitlichen Prinzip, das gegeben ist durch die naturwissenschaftlichen Methoden, monistisch die Welt zu erklären. Und fast schon ist es zu einem Wort geworden, das bei vielen von selbst Antipathien hervorruft, daß jetzt die Geisteswissenschaft wieder komme und einen Dualismus gegenüber diesem erkenntnistheoretisch so segensreichen Monismus aufstelle! Mit solchen Schlagworten wird ja viel gesündigt. Ist denn das Prinzip, das Weltall einheitlich zu erklären, schon dadurch durchbrochen, daß im Weltall zwei Ströme zusammenwirken, von denen einer von außen, der andere von innen in der Seele sich treffen? Darf denn gar nicht vorausgesetzt werden, daß das, was so von zwei Seiten an die Seele herandringt — nämlich von der Sinneserfahrung auf der einen Seite und von der geisteswissenschaftlichen Forschung auf der anderen Seite —, dennoch in einem einheitlichen Dasein begründet ist und sich nur für die menschliche Auffassung zunächst in zwei Strömungen zeigt? Muß der Monismus durchaus oberflächlich genommen werden? Wenn das der Fall wäre, daß das monistische Prinzip dadurch durchbrochen würde, dann mag jemand nur gleich behaupten, daß das monistische Prinzip auch durchbrochen ist, wenn er zugesteht, daß Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht. Wasserstoff und Sauerstoff können dennoch einen einheitlichen Ursprung haben, wenn sie sich auch vereinigen in dem, was wir Wasser nennen. Ebenso können sinnliche und übersinnliche Welt einen einheitlichen Ursprung haben, wenn man auch durch die Tatsachen der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft gezwungen ist zu sagen: In der Seele des Menschen vereinigen sich zwei Ströme, von denen einer von der Sinnenseite, der andere von der Geistesseite hereinkommt. Dann kann man zwar das Einheitliche, das Monon, nicht sogleich aufzeigen, aber es widerspricht darum nicht der Anschauung von einer monistischen Welt. Was sich so von zwei Seiten zeigt, das erlangt erst dann die Kraft der vollen Wirklichkeit, wenn wir es sich zusammensetzend aus den zwei Strömungen erkennen. Wenden wir den Blick in die Außenwelt, erblicken wir durch die Einrichtung unserer Sinne und unseres Verstandes ein Weltbild, welches uns nicht das zeigt, woraus es herauswächst: den Geist. Wenn wir die Wege der geisteswissenschaftlichen Forschung gehen und in der Seele den Aufschwung durchleben, so finden wir den Geist. Und in der Seele ist es, wo sich begegnen Geist und Stoff. In der Zusammenfügung von Geist und Stoff innerhalb unserer Seele liegt erst die wahre, geist- und stofferfüllte Wirklichkeit!

So darf vielleicht das jetzt Gesagte zusammengefaßt werden in die Worte, die etwa in dichterischer Form dasselbe geben, was dennoch alle, die sich unbefangen bemüht haben, eine Anschauung zu gewinnen von Geist und Stoff, zu allen Zeiten gefühlt haben. Geisteswissenschaft im Verhältnis zur Naturwissenschaft lehrt uns erkennen, daß es wahr ist:

Es drängt sich an den Menschensinn
Aus Weltentiefen rätselvoll
Des Stoffes reiche Fülle.
Es strömt in Seelengründe
Aus Weltenhöhen inhaltvoll
Des Geistes klärend Wort.
Sie treffen sich im Menscheninnern
Zu weisheitvoller Wirklichkeit.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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