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Aus der Akasha-Forschung. Das Fuenfte Evangelium

Schmidt-Nummer: S-2850

Online seit: 6th November, 2007

DAS FÜNFTE EVANGELIUM

München, 8. Dezember 1913
Erster Vortrag

Es hat sich durch gewisse Pflichten, die einem aus der geistigen Welt heraus auferlegt werden, für mich die Notwendigkeit ergeben, in der letzten Zeit einiges zu erforschen in bezug auf das Leben des Christus Jesus. Sie wissen, daß es möglich ist, durch die sogenannte Akasha-Chronik-Forschung zu Ereignissen, die sich in der Vergangenheit vollzogen haben, Zugang zu gewinnen. So wurde denn versucht, einen Zugang zu gewinnen zu dem wichtigsten Ereignis der Erdenentwickelung, dem Ereignis, das zusammenhängt mit dem Mysterium von Golgatha. Mancherlei hat sich da ergeben, was ergänzend wirken kann zu den mehr geisteswissenschaftlichen Ausführungen, die Ihnen bei verschiedenen Gelegenheiten über das Mysterium von Golgatha gegeben wurden. Von anderer Art ist das, was jetzt aus der Akasha-Chronik-Forschung sich ergeben hat; es ist gewissermaßen mehr konkreter Art, eine Summe von Tatsachen, die sich auf das Leben des Christus Jesus beziehen. Es werden sich, wie zu hoffen ist, diese Tatsachen im Laufe der Zeit zusammenschließen zu einer Art von Fünftem Evangelium, und wir werden am nächsten Zweigabend darüber sprechen, warum es gerade in unserer Zeit notwendig ist, aus den okkulten Quellen heraus das zu holen, was man in gewisser Beziehung als ein Fünftes Evangelium bezeichnen kann.

Heute will ich zunächst einzelne Erzählungen geben, welche sich beziehen auf die Jugend des Jesus von Nazareth und welche gipfeln sollen in einem wichtigen Gespräch, das er mit seiner Stief- oder Ziehmutter geführt hat. Einiges von dem, was so als Fünftes Evangelium nunmehr zu besprechen sein wird, hat ja Fräulein Stinde einigen von Ihnen schon mitgeteilt; aber ich werde des Zusammenhanges wegen auch die Dinge kurz erwähnen müssen, welche so schon einigen von Ihnen vorgetragen worden sind.

Beginnen möchte ich heute in meiner Erzählung mit jenem Ereignis, das ich Ihnen schon öfter charakterisieren durfte, mit dem Hinübergehen des Zarathustra-Ichs in die leiblichen Hüllen jenes Jesusknaben, der abstammt aus der nathanischen Linie des Hauses David. Kurz erwähnen will ich, daß nach der Akasha-Chronik-Forschung zwei Jesusknaben ungefähr zu gleicher Zeit geboren worden sind. Der eine ist geboren worden aus dem, was wir nennen können die salomonische Linie des Hauses David, der andere aus der nathanischen Linie des Hauses David. Sehr verschieden waren die beiden in bezug auf ihr ganzes Knabenleben. In dem Leibe, der abstammte aus der salomonischen Linie des Hauses David, war enthalten dasselbe Ich, das einstmals als Zarathustra über die Erde gegangen ist, und das war vorgerückt zu einem Geiste, der allerdings, wie es in solchen Fällen vorkommt, in den ersten zwölf Jahren kindlich wirkte, aber mit den allerhöchsten Gaben ausgestattet sich zeigte, der mit großer Schnelligkeit alles lernte, was die menschliche Kulturentwickelung bis in jenes Zeitalter hervorgebracht hatte. Einen Knaben von höchster Begabung würden wir — nach dem, was sich ergibt aus der Akasha-Chronik — diesen Knaben aus der salomonischen Linie des Hauses David nennen können. Den anderen Jesusknaben aus der nathanischen Linie können wir nicht mit solchen Prädikaten ansprechen. Er war im Grunde genommen das, was man unbegabt nennen möchte für alles das, was man durch die Errungenschaften der Erdenwissenschaften und Künste des Menschen erlernen kann. Er erwies sich sogar ziemlich abgeneigt, irgend etwas von dem zu erlernen, was sich die Menschheit errungen hat. Dagegen zeigte dieser Jesusknabe im höchsten Maße tiefe Genialität des Herzens; er strahlte schon im frühesten Knabenalter die wärmste Liebe aus, die sich denken läßt, nahm alles das auf an menschlich-irdischen Begriffen, was dazu führen kann, ein Leben in Liebe zu entfalten.

Wir wissen nun auch schon, daß, nachdem die beiden Knaben ungefähr zwölf Jahre alt geworden waren, das Ich des Zarathustra herausging, wie das ja in okkulten Vorgängen der irdischen Menschheitsentwickelung zuweilen vorkommt. Es ging heraus aus dem darnach absterbenden Leib des Jesusknaben aus der salomonischen Linie und ging hinüber in die leiblichen Hüllen des anderen Jesusknaben. Das Lukas-Evangelium deutet das dadurch an, daß es erzählt, wie dieser Jesusknabe dann unter den Schriftgelehrten saß und seine staunenswerten Antworten gab und von seinen eigenen Eltern kaum wiedererkannt wurde. So haben wir fortan heranwachsend vom zwölften Lebensjahre an jenen Jesusknaben mit dem Genie des Herzens, der gleichsam die Summe aller menschlichen Gaben, die sich auf Gefühl und Gemüt beziehen, in sich vereinigt hatte; wir haben die Vereinigung des Ich des Zarathustra mit diesem Jesusknaben, der aber in dieser Zeit ja noch nicht wußte, was sich mit ihm vollzog: daß es das Ich des Zarathustra war, das den Leib des salomonischen Jesusknaben verließ und in ihn einzog und in seinen leiblichen Hüllen schon wirkte, so daß beide Elemente sich in höchster Vollkommenheit nach und nach durchdrangen.

Wir wissen auch, daß die leibliche Mutter des nathanischen Jesusknaben bald starb, ebenso der Vater des salomonischen Jesusknaben, und wir wissen, daß eine Familie wurde aus den beiden Familien, denen die zwei Jesusknaben entsprossen waren, so daß der nathanische Jesus aus der anderen Familie herüber Stiefgeschwister bekam und ihm die leibliche Mutter des salomonischen Jesusknaben zur Stiefoder Ziehmutter wurde. In dieser Familie wuchs er nun in Nazareth heran. Die außerordentliche Begabung, die er gezeigt hatte, als er im Tempel unter den Schriftgelehrten jene großen, gewaltigen Antworten gab, die alle in Erstaunen versetzte, das steigerte sich des weiteren. Es war etwas Wunderbares, was in der Seele dieses nathanischen Jesusknaben, in dem das Ich des Zarathustra enthalten war, vorging vom zwölften bis etwa zum achtzehnten Lebensjahre: Wie aus den untergründigen Tiefen seines Seelenlebens heraufkam etwas, was ein anderer Mensch in der damaligen Zeit nicht hat erleben können; eine ungeheure Reife des geistigen Urteils neben einer tiefen Ursprünglichkeit seiner seelischen Fähigkeiten machte sich geltend. Zum Staunen seiner Umgebung sprach zu seiner Seele immer deutlicher und deutlicher jene gewaltige göttliche Stimme aus den geistigen Regionen, welche man in den hebräischen Geheimlehren die große Bath-Kol nannte. Aber anders als zu den Schriftgelehrten, in erhabener Weise sprach zu diesem heranwachsenden Knaben die große Bath-Kol. Wie eine innere, wundersame Erleuchtung kam es herauf. So kam es herauf, daß schon in dieser Jugend der Jesus von Nazareth sich in trauriger Stimmung sagen konnte: Was ist aus der hebräischen Menschheit geworden seit jenen Zeiten, seit diese Menschheit die alten Propheten vernommen hat, jene alten Propheten, welche noch selber durch ihre Inspirationen und Intuitionen die geistigen Geheimnisse aus höheren Welten herabbekommen haben? — Da ging diesem Jesus von Nazareth durch innere Erleuchtung auf, daß einstmals eine innige Kommunikation zwischen den alten hebräischen Propheten und den göttlich-geistigen Mächten da war; daß die größten Geheimnisse sich den alten Propheten offenbarten durch die heilig-ernste Stimme der großen Bath-Kol. Aber anders waren die Zeiten geworden bis zu der Gegenwart, in der damals Jesus von Nazareth lebte. Gelehrte, Schriftgelehrte waren da, auch einige Propheten, die nur Nachklänge, schwache Nachklänge erfassen konnten von dem, was einstmals die großen Propheten als Offenbarung erhalten hatten. Aber alles das, was in der Gegenwart erreicht werden konnte, war nur ein Schatten der alten Lehren. Was aber in den Schriften aufbewahrt war als Tradition, von dem fühlte und spürte Jesus — der es nun erhielt durch seine unmittelbare innere Inspiration, durch Lichter, die in ihm von Tag zu Tag immer mehr und mehr aufglänzten, daß es zwar da war, aber daß die Gegenwart nicht mehr geeignet war, es zu verstehen. Gewaltig war sein Leben in diesen Inspirationen.

Es ist ein ungeheuer starker Eindruck, den man bekommt, wenn man den geistigen Blick hinlenkt auf diese Stelle der Erdenentwickelung, wenn man das, was in uralten Zeiten gleichsam den urväterlichen Propheten geoffenbart war, wiederum aufleuchten sieht in der Seele des Jesus von Nazareth und sieht, wie einsam er dastand in der Menschheit, die ohne Verständnis war für das, was er erlebte. Er mußte sich sagen: Selbst wenn laut und vernehmlich die große Bath-Kol vom Himmel spräche, es sind keine Menschen da, die sie verstehen könnten. Was ist aus der Menschheit geworden? — Das legte sich als gewaltiger Schmerz auf seine Seele. So sehen wir den Knaben heranwachsen ins Jünglingsalter hinein. Von Woche zu Woche stiegen ihm neue Erkenntnisse auf, aber jede neue Erkenntnis verknüpfte sich für ihn mit einem immer mehr und mehr sich vergrößernden Leid, mit tiefem, tiefem Schmerz über das, was die Menschheit verlernt, vergessen hat, was sie jetzt nicht mehr verstehen kann. Der ganze Niederstieg der Menschheit lud sich ab auf die Seele des Jesus von Nazareth. Man lernt mancherlei von Schmerz und Leid kennen, das Menschen auf der Welt zu erdulden haben, wenn man den geistigen Blick hinrichtet auf die Menschheitsevolution; aber ungeheuer ist der Eindruck, den man bekommt aus jener Seele heraus, die aus reinem Mitgefühl mit der Menschheit den höchstgesteigerten Schmerz, den konzentriertesten Schmerz empfand über den Niederstieg der Menschheit, über das, was die Menschheit nicht mehr fähig war aufzunehmen von dem, was für sie aus geistigen Welten bereitet war. Dieser Schmerz steigerte sich um so mehr, als in der ganzen Umgebung des Jesus von Nazareth zwischen seinem zwölften und achtzehnten Lebensjahr niemand war, mit dem er irgendwie darüber hätte sprechen können. Selbst die besten Schüler der großen Gelehrten wie Hillel verstanden das Große nicht, das sich in der Seele des Jesus von Nazareth offenbarte. Er war allein mit seinen Offenbarungen und allein mit seinem unendlichen, die Menschheit in grenzenlosem Mitgefühl umfassenden Schmerz. Diese Seelenstimmung möchte ich Ihnen vor allen Dingen charakterisieren in Jesus von Nazareth. Während er das alles innerlich durchlebte, während Welten sich abspielten in seinem Inneren, arbeitete er äußerlich anspruchslos im Geschäfte seines Vaters, das eine Art Schreinerhandwerk, Zimmermannshandwerk war. Und so reifte er heran bis zu seinem achtzehnten Lebensjahre. Dann sollte er nach dem Willen der Familie eine Art Wanderung durch die Welt machen, von Ort zu Ort ziehen, um da und dort eine Zeitlang zu arbeiten. So tat er es auch. Und damit kommen wir zu einer zweiten Epoche in der Jugend des Jesus von Nazareth, die etwa vom achtzehnten bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahre dauerte. Er zog herum an mancherlei Orten, Orten inner- und außerhalb Palästinas. In allerlei Gegenden der Heiden kam er; Juden und Heiden suchte er schon dazumal auf. Ein Eigenartiges konnte man bemerken in dieser Persönlichkeit, das immer zum Lehrreichsten gehören wird, wenn man versucht, die Geheimnisse der menschlichen Tiefen zu erforschen: Man konnte bemerken, daß der ungeheure Schmerz, den er in seiner Seele durchlebt hatte, sich verwandelte in ungeheure Liebe, wie er so oft es tut, wenn er selbstlos ist, in eine Liebe, die nicht nur durch Worte, sondern schon durch die bloße Gegenwart wirkt. Wenn er in die Familien eintrat, in deren Mitte er arbeiten sollte, so wußte man durch die Art, wie er sich gab, durch die Art, wie er eben war, daß die Liebe, die überhaupt nur aus einem Menschen kommen kann, aus dieser Seele herausstrahlte; eine Liebe, die allen wohl tat, in deren Atmosphäre alle leben wollten, die sie gewahrten. Und diese Liebe war verwandelter Schmerz, war die Metamorphose des Schmerzes. Vieles trug sich zu, was bei den Leuten, in deren Mitte er lebte, den Eindruck hervorrief, daß man es mit einem Menschen zu tun habe, wie er noch niemals über die Erde gewandelt war. Bei Tag arbeitete er; abends versammelten sich die Familien an den Orten, wo er arbeitete und da war er unter ihnen. Alles was von seiner Liebe ausstrahlen konnte, lebte in solchen Familien. Man glaubte mehr als einen bloßen Menschen vor sich zu haben, wenn er seine einfachen Worte sprach, die aber durchtränkt waren von dem, was er vom zwölften bis zum achtzehnten Lebensjahre durchlebt hatte. Und dann, wenn er wiederum weggezogen war von dem Orte, dann war es in diesen Familien, wenn sie sich zusammensetzten, so als ob sie ihn noch unter sich fühlten, wie wenn er gar nicht weg wäre. Man fühlte seine Gegenwart noch immer. Ja, es kam immer wieder und wiederum vor, daß alle zusammen eine reale Vision hatten: Während sie von dem sprachen, was er gesagt hatte, während sie innerlich frohlockten in dem, was sie nachfühlten von seiner Gegenwart, sahen sie, wie er zur Türe hereinkam, sich unter ihnen niedersetzte, fühlten seine liebe Gegenwart, hörten ihn sprechen. Er war nicht da in physischer Gegenwart, aber eine allen gemeinsame Vision war da.

So bildete sich allmählich in vielen Gegenden eine Gemeinsamkeit heraus zwischen Jesus von Nazareth und den Leuten, mit denen er in Berührung kam im Laufe der Jahre. Und überall erzählte man von dem Manne der großen Liebe. Mancherlei bezog man auf ihn, was in den heiligen Schriften stand. Die Schriften verstand man zwar nicht, auch ihn verstand man wenig mit dem Verstand; aber mit dem Herzen erfühlte man um so inniger seine Liebe, das Außerordentliche seines Daseins und seiner Wirkung. Er kam nicht nur in hebräische, sondern auch in heidnische Gegenden, auch außerhalb Palästinas. Sein Weg führte ihn merkwürdigerweise auch in solche heidnische Gegenden, wo die heidnischen Lehren in den Niedergang gekommen waren. Manche heidnische Orte lernte er kennen, deren alte Kultstätten verfallen waren.

Und da kam er eines Tages in einen Ort, der besonders unter dem Verfall der alten heidnischen Kultstätten, der alten heidnischen Priesterschaft gelitten hatte. Die heidnischen Kultstätten waren ja ein äußerer Abdruck dessen, was da oder dort in den Mysterien gepflegt worden war. Die Zeremonien in den Kultstätten waren Abbilder der Mysteriengeheimnisse. Aber das alles war im Niedergang begriffen, war in vielen Gegenden verfallen. Da kam denn Jesus von Nazareth an eine Kultstätte, wo auch die äußeren Bauanlagen aus ihm unbekannten Gründen in Verfall geraten waren. Ich weiß heute noch nicht, an welchem Orte diese Kultstätte war. Leider ist es nicht möglich gewesen, den Ort nach genauer Lage und Namen in der Akasha-Chronik zu ermitteln; aus irgendeinem Grunde ist der Eindruck des Ortes sozusagen auf der Landkarte der Erde verwischt. Was ich Ihnen erzähle, ist absolut richtig beobachtet, wie ich meine, nur ist es nicht möglich, den Ort anzugeben; aus irgendwelchem Grunde ist er nicht aufzufinden. Aber es war ein heidnischer Ort, eine verfallene Kultstätte, ringsherum das Volk traurig und krank und mit allerlei Krankheiten und Mühsalen beladen. Weil es beladen war mit solchen Krankheiten und Mühsalen, war die Priesterschaft fortgezogen, war geflohen. Die Kultstätte war verfallen. Das Volk fühlte sich unglücklich, weil seine Priester es verlassen hatten. Ein ungeheures Elend war da, als Jesus in dieser heidnischen Kultstätte einzog. Als er herannahte, wurde er von einigen bemerkt und gleich ging es wie ein Lauffeuer durch das Volk: Da zieht einer heran, der uns helfen kann! — Denn durch das, was als Kraft von seiner Liebe, die schon zu einer Art heiligender Liebe geworden war, ausstrahlte, fühlten die Menschen, wie wenn jemand Besonderer herankäme, wie wenn ihnen der Himmel selber geschickt hätte wiederum einen ihrer Kultpriester. In großen Scharen strömten sie zusammen; sie hofften, daß nun wiederum ihr Kult verrichtet werden könne. Jesus von Nazareth war nicht geneigt, den heidnischen Kult zu verrichten, wie das ja begreiflich ist; aber als er sich die Leute ansah mit seinem jetzt schon bis zu einer Art von Hellsehertum gesteigerten Blick, der aus Schmerz und Liebe geboren war, ging ihm schon etwas auf von dem Wesen des Verfalls des Heidentums. Da lernte er eben das Folgende erkennen. Er wußte: In uralten Zeiten, in denen einstmals die noch guten Priester gedient und geopfert haben, da neigten sich an diesen Kultstätten herab zu den heidnischen Opfern und Kulthandlungen gute geistige Wesenheiten aus der Sphäre der höheren Hierarchien. Aber nach und nach — das ging ihm aufwar das Heidentum verfallen. Während früher die Ströme der Barmherzigkeit und Gnade der guten, von den Heiden verehrten Götter auf die Opferaltäre herabgesendet wurden und sich verbanden mit dem Opfer, waren jetzt Dämonen, Sendlinge von Ahriman und Luzifer herabgekommen. Die schaute er unter dem Volke und er erkannte, daß diese dämonischen Wesenheiten eigentlich die Ursache der bösen Krankheiten waren, die unter dem Volke wüteten, das ihn jetzt in tiefster Seele erbarmte. Und als er diese geheimnisvollen Zusammenhänge wahrgenommen, als er so hinter das Geheimnis des niedergehenden Heidentums kam, fiel er wie tot hin. Furchtbar wirkte dieser Vorgang auf das Volk, das glaubte, ein vom Himmel gekommener Priester sei da. Es sah nun den Menschen hinfallen und floh, floh verstört hinweg von dem Orte, zu dem es noch eben hingeströmt war. Mit dem letzten Blicke, den er noch in seinem gewöhnlichen Bewußtsein hinrichtete auf das fliehende Volk, sah Jesus von Nazareth mit dem Volke fliehen die Dämonen; aber noch immer umgaben ihn andere Dämonen. Dann trat das alltägliche Bewußtsein zurück und er fühlte sich wie hinauf entrückt in eine höhere geistige Welt, aus der einstmals der Gnadesegen der Heidengötter geflossen war, die mit den Opfern sich vereinigt hatten. Und so, wie er sonst die Stimme der großen Bath-Kol vernommen hatte, so vernahm er jetzt die Klänge aus den göttlich-geistigen Reichen, aus jenen Hierarchien, welchen die heidnischen guten Götter angehörten. Menschliche Uroffenbarung vernahm er in diesem entrückten Zustand. Ich habe versucht, in deutsche Worte zusammenzufassen, was er da hörte; so gut es mir möglich war, das wiederzugeben, was er gehört hat. Und charakteristisch ist es: Es war mir möglich, diese Worte zuerst bei der Grundsteinlegung unseres Dornacher Baues mitzuteilen. Es ist wie das umgekehrte christliche Vaterunser, das er dann erst viel später selber zu offenbaren hatte in der bekannten Art. Jetzt aber wirkte es auf ihn so, wie es einstmals vor dem Beginne der Erdenentwickelung hätte geoffenbart werden können als kosmisches Vaterunser. So klingt es, wenn man es in deutsche Worte überträgt:

Amen

Es walten die Übel

Zeugen sich lösender Ichheit

Von ändern erschuldete Selbstheitschuld

Erlebet im täglichen Brote

In dem nicht waltet der Himmel Wille

In dem der Mensch sich schied von Eurem Reich

Und vergaß Euren Namen

Ihr Väter in den Himmeln.

Also so:

Amen

Es walten die Übel

Zeugen sich lösender Ichheit

Von ändern erschuldete Selbstheitschuld

Erlebet im täglichen Brote

In dem nicht waltet der Himmel Wille

In dem der Mensch sich schied von Eurem Reich

Und vergaß Euren Namen

Ihr Väter in den Himmeln.

Was so aus den Regionen, aus denen einstmals die Götter der Heiden gewirkt hatten, zu ihm sprach, war ihm wie eine große, gewaltige Offenbarung. Diese Worte, die sich zunächst einfach anhören, enthalten in der Tat das Geheimnis des ganzen Eingekörpertseins des Menschen in die physisch-irdische Leiblichkeit, das Verbundensein mit der physischen Erdenleiblichkeit. Dieses Geheimnis enthalten sie. Man kommt immer mehr und mehr darauf, wie ich mich selbst überzeugt habe durch nach und nach erfolgende Meditation dieser Worte, zu erleben, welch ungeheure Tiefen in diesen Worten enthalten sind. Man möchte sagen, der ganze uralte heidnische Himmel, der sich in diesem Geheimnis der Menschheitwerdung wie in einem makrokosmischen Vaterunser aussprach, wirkte dazumal auf den hingefallenen Jesus von Nazareth, der in einem entrückten Zustand war. Und als er wieder zu sich kam, da sah er noch die letzten entfliehenden Dämonen, die an die Stelle der alten guten heidnischen Götter getreten waren, sah in weiter Ferne das Volk fliehen. Er aber hatte zu dem Schmerz, den er erlitten hatte durch die Offenbarungen der Bath-Kol, für die die Menschheit nicht mehr reif war, nun den zweiten Schmerz erlitten dadurch, daß er erkennen mußte: Auch das, was einstmals zu dem Heidentum gesprochen hatte, auch das, was göttlich-geistige Offenbarungen für das Heidentum waren, ist im Niedergang begriffen. Wenn auch alle Stimmen der Himmel heute ertönen würden: die Menschheit hätte nicht die Fähigkeit, sie aufzunehmen. — So mußte er sich sagen.

Es ist ein ungeheurer Eindruck, zu sehen, wieviel Schmerz notwendig war, der aufgehäuft werden mußte in einer Seele, damit das Mysterium von Golgatha vorbereitet werden konnte. Der Eindruck ist ein ungeheurer, zu erkennen durch diese Dinge, welch ein Schmerz einfließen mußte in jenen Impuls, den wir den Christus-Impuls für die weitergehende Erdenentwickelung nennen. So hatte Jesus auch das Wesen des Heidentums und das Wesen seines Verfalls kennengelernt.

Als er etwa vierundzwanzig Jahre alt geworden war, begab er sich nach Hause; es war ungefähr um dieselbe Zeit, da sein leiblicher Vater starb. Mit seinen Geschwistern, die alle seine Stiefgeschwister waren, und seiner Zieh- oder Stiefmutter war er nun allein. Jetzt stellte sich etwas Eigentümliches ein: Nach und nach entflammte die Liebe und das Verständnis der Stief- oder Ziehmutter für ihn immer mehr und mehr, während die Geschwister ihn nicht verstanden. Es keimte in ihr etwas wie ein Genie des Herzens auf. Sie konnte mit ihrem Gemüt den Einsamen, der das Leid der Menschheit in sich trug, nach und nach — wenn auch nur nach und nach — verstehen, während sich die Brüder nicht daran kehrten.

Zunächst aber sollte er noch etwas anderes kennenlernen: die Gemeinschaft, die ihm sozusagen den dritten Aspekt des Verfalls der Menschheit zeigte. Er sollte kennenlernen die Essäergemeinschaft. Diese Essäergemeinschaft, die ihren Hauptsitz am Toten Meer hatte, war damals in der Welt weit verbreitet. Sie war ein strenger, in sich geschlossener Orden, der anstrebte, durch ein gewisses geregeltes, entsagungsvolles Leben wieder hinaufzudringen zu jenen Stufen, über die die Menschheit bei ihrem Verfalle herabgestiegen war; durch Übungen der Seele hinaufzukommen zu jener Seelenhöhe, auf der wiederum etwas vernommen werden konnte von — gleichgültig, ob man es nun im jüdischen Sinne nennt die große Bath-Kol oder im heidnischen Sinne die alte Offenbarung. Durch strenge Trainierung der Seele und Abgeschlossenheit von dem, was sonst die Menschheit pflegte, wollten die Essäer das erreichen. Was sie erstrebten, hatte viele angezogen. Sie hatten mancherlei Besitzungen weithin über das Land. Wer Essäer werden wollte, mußte das, was er ererbt hatte oder noch ererben konnte, dem gemeinschaftlichen Besitz übergeben. Niemand durfte Eigentum für sich behalten. Viele Essäer hatten da oder dort ein Haus oder Landgut, das sie dem Orden verschrieben. Der hatte dadurch überall seine Niederlassungen zerstreut in den vorderasiatischen Gegenden, namentlich in Palästina, auch in Nazareth. Alles mußte Gemeingut sein. Große Wohltaten verrichtete der Essäerorden. Niemand besaß etwas für sich. Jeder durfte von dem gemeinsamen Besitz weggeben an jeden, den er für einen armen oder bresthaften Menschen hielt. Durch Übungen der Seele kam man zu einer gewissen Heilkraft, die ungeheuer wohltätig wirkte. Einen Grundsatz hatten sie, der heutzutage unmöglich wäre, der aber damals streng innegehalten wurde: Jeder konnte aus dem gemeinsamen Vermögen die Menschen, die er für würdig hielt, unterstützen, niemals aber seine Verwandten. Losgetrennt mußte er sich haben von all den Sinnesbanden, die mit der äußeren Welt zusammenhängen.

Jesus von Nazareth war wie Johannes, den er bei den Essäern flüchtig kennenlernte, nicht eigentlich ein Essäer geworden; aber durch das Ungeheure, was seine Seele barg, behandelte man ihn in dem Orden mit großem Vertrauen. Vieles was sonst nur Angehörigen der höheren Grade eigen war, besprach man mit ihm im Vertrauen auf die Art, wie seine Seele wirkte. So lernte er erkennen, wie sie auf einem steilen Wege wiederum hinaufstrebten zu den Höhen, aus denen die Menschen herabgestiegen waren. So konnte es ihm oftmals scheinen, als ob er sich hätte sagen können: Ja, es gibt noch Menschen unter uns, die wiederum hinaufsteigen zu dem, was einstmals der Menschheit in Urzeiten geoffenbart worden war, was aber die Menschheit im allgemeinen heute nicht versteht.

Da hatte er einstmals, nachdem er eben ein tiefgehendes Gespräch über die Weltengeheimnisse innerhalb der Essäergemeinschaft gehabt hatte, einen großen, gewaltigen Eindruck. Als er wegging durch das Tor hinaus, da sah er in einer Vision zwei Gestalten. Als Ahriman und Luzifer erkannte er sie und er sah sie von den Essäertoren hinwegfliehen. In die übrige Menschheit hinein, wußte er, fliehen sie. Solch einen Anblick hatte er nunmehr öfters. Es war bei den Essäern der Brauch, daß sie nicht durch die gewöhnlichen Tore einer Stadt oder eines Hauses der damaligen Zeit gehen durften, die irgendwie mit Bildwerken geschmückt waren. Vor solchen Toren mußten sie wieder umkehren. Da aber die Essäer in großer Zahl waren — es lebten so viele Essäer wie Pharisäer damals in Palästina — , so hatte man Rücksicht auf sie genommen und ihnen eigene, ganz einfache Tore gebaut. Die Essäer durften also durch kein Tor gehen, das irgendwelche Bildnisse aufwies. Das hing mit ihrer ganzen Seelenentwickelung zusammen. Daher gab es eben besondere Essäertore in den Städten. Jesus von Nazareth war des öfteren durch solche Essäertore gegangen. Immer sah er, wie da Luzifer und Ahriman in einer die Menschheit besonders bedrohenden Weise sich von den Toren entfernten. Ja, sehen Sie, wenn man solche Dinge theoretisch kennenlernt, machen sie gewiß schon Eindruck; wenn man sie aber so kennenlernt, wie man sie kennenlernen kann durch den Blick in die Akasha-Chronik, wenn man wirklich die Gestalten des Luzifer und Ahriman unter solchen Bedingungen sieht, wie sie Jesus von Nazareth gesehen hat, dann macht das noch einen ganz anderen Eindruck. Dann beginnt man, nicht nur mit dem bloßen Intellekt, mit dem Verstand, sondern mit der ganzen Seele tiefste Geheimnisse zu erfassen, die man nicht nur weiß, die man erlebt, mit denen man eins ist.

Ich kann nur mit armen Worten stammeln, was sich jetzt als ein dritter großer Schmerz auf die Seele des Jesus ablud: Er erkannte, daß es in seiner Zeit für einzelne Individuen zwar möglich war, sich abzusondern und höchste Einsicht zu erreichen, aber nur, wenn die übrige Menschheit um so mehr abgeschnitten wird von aller Entwickelung der Seele. Auf Kosten der übrigen Menschheit suchen solche Menschen, so sagte er sich, die Vervollkommnung ihrer Seele, und weil sie eine solche Entwickelung anstreben, durch die Luzifer und Ahriman nicht an sie herankommen können, so müssen diese fliehen. Aber indem diese einzelnen Menschen loskommen, fliehen Luzifer und Ahriman zu den anderen Menschen hin. Diese werden um so mehr in die Dekadenz gestürzt, je mehr solche Menschen in ihrer Absonderung hoch hinaufkommen. Das war allerdings ein furchtbarer Eindruck für Jesus von Nazareth, der ungeteiltes Mitleid mit allen Menschen fühlte, der nicht ohne den tiefsten, allertiefsten Schmerz empfinden konnte, daß einzelne in ihrer Seelenentwickelung steigen sollten auf Kosten der allgemeinen Menschheit. So bildete sich ihm die Vorstellung: Luzifer und Ahriman erhalten in der allgemeinen Menschheit eine immer größere Macht gerade dadurch, daß einzelne die Reinen, die Essäer sein wollen. Das war der dritte große Schmerz, sogar der furchtbarste Schmerz; denn jetzt entlud sich in seiner Seele manchmal etwas wie Verzweiflung an dem Schicksal der Erdenmenschheit. Das Geheimnis dieses Schicksals der Erdenmenschheit kam furchtbar über ihn. Er trug dieses Schicksal der Welt zusammengedrängt in seiner eigenen Seele.

So war es etwa in seinem neunundzwanzigsten, dreißigsten Lebensjahre, so war es, nachdem die Mutter, die seine Stief- oder Ziehmutter war, immer mehr und mehr ein Gemütsverständnis für ihn erlangt hatte, daß er einmal, als sie gegenseitig fühlten, daß die Seelen sich verstehen konnten, in ein Gespräch mit dieser Stief- oder Ziehmutter kam, in jenes, für die Entwickelung der Menschheit so unendlich bedeutungsvolle Gespräch. Jetzt, während dieses Gespräches, wurde Jesus von Nazareth gewahr, wie er wirklich in das Herz der Stiefmutter hineingießen konnte, was er seit seinem zwölften Lebensjahre erlebt hatte. Jetzt konnte er allmählich ihr gegenüber in Worte fassen, was er durchgemacht hatte. Und er tat es. Er erzählte, was er gegenüber dem Verfalle des Juden- und des Heidentums, gegenüber den Essäern, gegenüber der Einsiedelei der Essäer gefühlt hatte. Und es war so, daß diese Worte, die aus der Seele des Jesus zur Seele der Stief- oder Ziehmutter hinübergingen, nicht wirkten wie gewöhnliche Worte, sondern so, als ob er jedem seiner Worte etwas hätte von der ganzen Kraft seiner Seele mitgeben können. Sie waren beflügelt von dem, was er gelitten hatte, was unmittelbar aus seinem Leid an Liebe, an Heiligkeit der Seele geworden war. Verbunden war er selbst mit diesem seinem Leid, seiner Liebe, so daß etwas von seinem Selbst auf den Flügeln seiner Worte hinüberschwebte in das Herz, in die Seele dieser Stief- oder Ziehmutter.

Und dann, nachdem er erzählt hatte das, was er so durchlebt hatte, da brachte er noch etwas vor, was sich ihm als Erkenntnis ergeben hatte und was ich jetzt zusammenfassen will in Worte, die wir in der Geisteswissenschaft gewonnen haben. Es wird dadurch allerdings das, was Jesus von Nazareth zu seiner Stief- oder Ziehmutter gesagt hat, nur seinem eigentlichen Sinne nach getreu gesagt werden, die Worte werde ich aber so wählen, daß Sie sie leichter verstehen können, als wenn ich unmittelbar in deutschen Worten stammle, was sich mir aus Bildern der Akasha-Chronik ergab. Jesus von Nazareth sprach zu seiner Stief- oder Ziehmutter, wie ihm an all seinem Schmerz aufgegangen war das Geheimnis der Menschheitsentwickelung, wie die Menschheit sich entwickelt hatte. So sagte er zu ihr: Ich habe erkannt, daß einstmals die Menschheit durchgemacht hat eine uralte Epoche, in der sie, ihr unbewußt, in frischester Kindeskraft die höchsten Weisheiten empfangen hat. — Er deutete mit diesen Worten an, was wir in der Geisteswissenschaft bezeichnen als die erste nachatlantische Kulturepoche, wo die heiligen Rishis des alten indischen Volkes ihre großen, gewaltigen Weistümer an die Menschheit heranbringen konnten. Aber diese Weistümer, sie sah Jesus von Nazareth so, daß er sich sagen konnte: Wie waren diese Weistümer von den heiligen Rishis aufgenommen worden, welche Kräfte waren in den Seelen der Rishis und im ganzen uralt indischen Volk tätig? Es waren Kräfte, die sonst nur in der Kindheit, zwischen der Geburt und dem siebenten Jahre im Kinde walten, die dann absterben für die Einzelmenschen, damals aber ergossen waren über die gesamten menschlichen Altersstufen. Dadurch, daß ausgebreitet waren über das gesamte menschliche Alter die Kindheitskräfte, dadurch flössen inspirierend, intuitierend diese uralten heiligen göttlichen Wahrheiten hernieder in das menschliche Gemüt. Aber mit dieser ersten Epoche der Menschheit in der nachatlantischen Zeit, die wir als die altindische Kulturepoche bezeichnen, die Jesus von Nazareth seiner Mutter gegenüber verglich mit dem ersten Kindesalter, mit dem Vorübergehen dieser Epoche war auch die Möglichkeit vorübergegangen, die Kräfte der Kindheit bis ins spätere Alter hinauf noch zu bewahren. Sie schwanden dahin und daher war die Menschheit nicht mehr imstande, das was ihr einstmals geoffenbart worden war, jetzt in sich aufzunehmen und sich das zu erhalten. Weiter sprach Jesus von Nazareth davon, daß dann eine Epoche folgte, welche sich vergleichen lasse mit dem menschlichen Alter vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr, wo aber die Kräfte, die sonst nur vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahre da sind, über das ganze Menschenleben ausgegossen waren, so daß die Menschen sie noch als Greise erlebten. Dadurch daß das der Fall war, daß noch spätere Altersstufen von diesen Kräften durchsetzt sein konnten, war es möglich in dieser zweiten, der urpersischen Epoche, jene Weistümer zu erlangen, die wir als die Zarathustra-Weistümer anerkennen, die Jesus von Nazareth jetzt von der Menschheit durch Unverständnis zurückgewiesen sah. Über die dritte Epoche, in die Jesus von Nazareth zurückblicken konnte und von der er jetzt zu seiner Mutter sprach, war ausgegossen über alle Menschenalter das, was sonst zwischen dem vierzehnten und dem einundzwanzigsten Jahre erlebt wird, so daß die Menschen noch mit fünfzig, sechzig Jahren die Kräfte hatten, die sonst nur bis zum einundzwanzigsten Lebensjahre wirken. Dadurch waren erlangbar für diese dritte Epoche jene bedeutenden Wissenschaften vom Wirken der Natur, die wir so bewundern, wenn wir eindringen in die ägyptische, in die uralt chaldäische Wissenschaft, eindringen in die wahren Grundlagen ihres astrologischen Wissens, jenes tiefen Wissens, das nicht bloß von der Erde, sondern von den Weltgeheimnissen handelt in ihrer Wirkung auf die Menschen, und wovon die spätere Menschheit nur noch wenig verstehen konnte. Aber auch das dritte Zeitalter erblickte Jesus von Nazareth dahinschwindend. So wie der einzelne Mensch alt wird, sagte er, so ist die Menschheit älter geworden.

Die gewaltigsten Impulse hat die griechische Kultur durch die Mysterienweisheit erhalten, die in ihr eine Hochblüte des philosophischen Denkens und der Kunst hervorrief, aber auch den Übergang in die vierte Kulturperiode bewirkte, in der wir selbst leben, die schon an die Selbständigkeit des Menschen appelliert und neue soziale Gebilde schafft, die mit der Abhängigkeit vom alten Mysterienwesen brechen. Der Verfall der alten Mysterien beginnt mit dem Aufstieg der neuen Staatenwesen und deren Rivalitäten untereinander; aber auch der schnelle intellektuelle Aufstieg ist damit verbunden. Die Kräfte, die nur Geringstes erfassen können, wenn sie über das ganze Menschenalter ausgegossen sind, sind jetzt da. Wir leben innerhalb einer Menschheit, die nur noch begreifen kann mit den Kräften, die der Menschheit eigen sind zwischen dem einundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Lebensjahre. Aber wenn diese Kulturperiode hingeschwunden sein wird, dann wird die Menschheit ihr mittleres Zeitalter erreicht haben; damit ist ein gewisser Höhepunkt erreicht, der nicht weiter gehalten werden kann. Der Abstieg muß, wenn auch zuerst langsam, beginnen. Die Menschheit tritt in ein Zeitalter ein, wo die Kräfte ersterben, in einer ähnlichen Weise, wie der einzelne Mensch in den Dreißigerjahren das Lebensalter erreicht, von dem an der Abstieg beginnt. Der Abstieg der ganzen Menschheit beginnt mit dem nächsten Zeitalter schon, so sagte Jesus von Nazareth, indem der ganze Schmerz über diesen künftigen Niedergang der Menschheit durch seine Seele zog. Die Menschheit selbst, sagte er, tritt in das Zeitalter ein, wo die ursprünglichen Kräfte erstorben sind. Während aber für den einzelnen Menschen gleichsam noch die Jugendkräfte weiterwirken können, kann das für die gesamte Menschheit nicht der Fall sein. Sie muß in ein unbesiegbares Greisenalter hineingehen, wenn keine neuen Kräfte in sie kommen. Verödet sah er im voraus die Erdenkultur, wenn keine jungen Kräfte hineinkommen. Versiegt sind die natürlichen Kräfte, wenn die Menschheit in das Zeitalter eintritt, das für den einzelnen Menschen abläuft vom achtundzwanzigsten bis zum fünfunddreißigsten Lebensjahre. Wenn sich dann keine anderen Quellen öffnen, so würde die Menschheit vergreisen.

Solches zusammenfassend sprach Jesus von Nazareth zu seiner Mutter: Was soll aus der ganzen Menschheit werden, wenn sie dem Schicksal des einzelnen Menschen verfallen ist? — Vor der Wucht dieser Frage fühlte denn Jesus und mit ihm die Stiefmutter die Notwendigkeit eines neuen geistigen Impulses. Etwas müßte kommen, was nur von außen kommen könnte, was in der Menschheit selber nicht war, weil in dem Menschen etwas Neues an innermenschlichen, nicht mit der Sinneswelt zusammenhängenden Kräften nach diesem mittleren Lebensalter nicht mehr sich frei entfalten konnte. Es mußte etwas von außen erwartet werden, was sonst in der Zeit zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahre aus dem Inneren wächst. Und mit einer ungeheuren Gewalt, die mit nichts zu vergleichen ist, entrang sich der Seele des Jesus von Nazareth der Schmerz darüber, daß nichts in der Umwelt vorhanden sei, was Kräfte der Erneuerung in die verfallende Menschheit hineingießen könne.

So war dieses Gespräch vor sich gegangen und mit jedem Wort floß etwas wie vom eigenen Selbst hinüber in die Stief- oder Ziehmutter. Die Worte hatten Flügel und in ihnen drückte sich aus, daß sie nicht bloß Worte waren, sondern daß sich etwas herausrang aus der Leiblichkeit des Jesus von Nazareth, was eben wie sein Selbst war, was eins geworden war mit seinem Schmerz und seiner Liebemacht. In diesem Augenblick, da sein Selbst sich losrang, leuchtete in ihm für einen Augenblick auf, was dieses Selbst in Wahrheit war: das Bewußtsein von dem eigenen Ich als dem des Zarathustra. Erglänzend, wie einen Augenblick erglänzend fühlte er sich als Ich des Zarathustra. Doch war es ihm so, als ob dieses Ich aus ihm herausginge und ihn wieder allein ließe, so daß er wieder derjenige war, nur größer, gewachsen, der er in seinem zwölften Lebensjahre gewesen war.

Auch mit der Mutter war eine ungeheure Veränderung vor sich gegangen. Wenn man in der Akasha-Chronik forscht, was sich da zuträgt, so kommt man darauf, daß bald nachdem Jesus aus der nathanischen Linie das zwölfte Jahr erreicht hatte und in ihm das Zarathustra-Ich innewohnend geworden war, die Seele seiner leiblichen Mutter in die geistigen Regionen hinaufgestiegen war. Nun senkte sie sich als Seele wieder herab und beseelte seine Stiefmutter, die dadurch wie verjüngt wurde. So war nun durchgeistigt von der Seele seiner eigenen Mutter die Stief- oder Ziehmutter, die die leibliche Mutter des salomonischen Jesusknaben war. So wandelte von jetzt ab auch wiederum auf der Erde in einem physischen Leibe herum, im Leibe der Mutter des salomonischen Jesusknaben, die Seele der leiblichen Mutter des nathanischen Jesusknaben. Er selber aber war wie allein mit seinen drei Leibern, aber von all den Erlebnissen aufs höchste durchgeistigt, allein mit seinem physischen, ätherischen und astralischen Leibe; das Selbst jedoch war weggegangen. Es wohnte ja in diesem physischen, Äther- und Astralleib alles das, was aus dem Ich des Zarathustra stammte. Obwohl das Zarathustra-Ich sich herausgezogen hatte, waren alle seine Eindrücke zurückgeblieben. Das bewirkte, daß in dieser merkwürdigen Persönlichkeit, die Jesus von Nazareth jetzt war, nachdem das Ich des Zarathustra von ihm gewichen, etwas ganz Besonderes war. Und was da in ihr war, das stellte sich mir, als ich in diesem Fünften Evangelium den weiteren Fortgang erblicken konnte, so dar wie ich es schildere.

Nachdem das Gespräch mit der Mutter stattgefunden hatte, regte sich jetzt in Jesus von Nazareth, aus dem das Ich des Zarathustra fort war, etwas wie ein Drang, der sich wie ein mächtiger kosmischer Trieb ausnahm, der das, was jetzt von ihm da war, zu den Ufern des Jordan hindrängte, zu Johannes dem Täufer. Auf dem Wege dahin begegnete dieses merkwürdige Wesen — denn ein solches war jetzt der Jesus von Nazareth, ein Wesen, das höchste Menschlichkeit, wie sie sonst nur vereinbar ist bei voll entwickelten vier menschlichen Gliedern, nur in drei menschlichen Hüllen hintrug über den Erdboden, ein Wesen, das sich innerlich anders erfühlte als ein Mensch, das aber äußerlich die menschliche Gestalt hatte — , es begegnete dieses Wesen nach dem Gesprach mit der Mutter, nachdem es den Drang in sich verspürt hatte, zum Jordan hin zu Johannes dem Täufer zu gehen, zwei Essäern, zwei von jenen Essäern, die Jesus gut kannten. Sonderbar kam ihnen freilich vor, was da aus seinen Zügen sprach; aber sie erkannten ihn doch an der äußeren Gestalt, die sich nicht verändert hatte, die deutlich zu erkennen war. Aber sonderbar empfanden sie ihn. Durch die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, hatten seine Augen einen ganz besonderen Ausdruck bekommen. Es sprach etwas aus diesen Augen wie inneres Licht, das milde glänzte, wie die im Licht verkörperte, nicht irdische, sondern himmlische Menschenliebe. Einen alten Bekannten sahen die beiden Essäer in ihm. So empfanden sie ihn, daß sie sich nicht entziehen konnten dem ungeheuer milden, dem bis ins Unendliche gesteigerten milden Blick des Jesus, wie er jetzt war. Dann aber wiederum, wenn sie in diese Augen schauten, fühlten sie zugleich etwas wie einen Vorwurf, der nicht von ihm kam, der etwas war wie eine Kraft, die in ihrer eigenen Seele erquoll, hineinstrahlte in sein Auge und zurückstrahlte, gleichsam wie mildes Mondenlicht, aber wie ein ungeheurer Vorwurf über ihr eigenes Wesen, über das, was sie waren. Nur mit solchen Worten kann ich schildern, was konstatierbar ist durch den Blick in die Akasha-Chronik, was diese Essäer in der Seele des Jesus von Nazareth sahen, die sie durch seinen Leib, also durch seinen physischen, ätherischen und astralischen Leib erfühlten, die sie auf sich blicken sahen, die sie vernahmen. Schwer war für sie seine Nähe auszuhalten; denn es wirkte unendliche Liebe, die aber doch gleichzeitig etwas wie ein Vorwurf für sie war. Tief anziehend empfanden sie seine Nähe, von der sie doch wiederum zugleich den Drang hatten, wegzukommen. Einer von ihnen raffte sich aber auf, da sie beide ihn aus vielen Gesprächen, die sie mit ihm gehabt hatten, kannten, und frug ihn: Wohin geht dein Weg, Jesus von Nazareth? — Die Worte, die Jesus dann sprach, könnte ich etwa so in Worte der deutschen Sprache übersetzen: Dahin, wohin Seelen eurer Art nicht blicken wollen, wo der Schmerz der Menschheit die Strahlen des vergessenen Lichtes finden kann! — Sie verstanden seine Rede nicht und merkten, daß er sie nicht erkannte, daß er nicht wußte, wer sie waren. An der befremdlichen Art seines Blickes, der gar nicht war wie ein Blick, der die Menschen anschaut, die er kennt, aus seinem ganzen Verhalten und aus der Art, wie er die Worte sprach, merkten sie, daß er sie nicht erkannte. Und da raffte sich noch einmal einer der Essäer auf und sprach: Jesus von Nazareth, erkennst du uns nicht? — Und dieser gab zur Antwort etwas, was ich eben nur in folgenden Worten der deutschen Sprache wiedergeben kann: Was seid ihr für Seelen? Wo ist eure Welt? Warum umhüllt ihr euch mit täuschenden Hüllen? Warum brennt in eurem Innern ein Feuer, das in meines Vaters Hause nicht entfacht ist? — Sie wußten nicht, wie ihnen geschah, wußten nicht, was mit ihm los war. Noch einmal raffte sich einer der beiden Essäer auf und fragte: Jesus von Nazareth, kennst du uns denn nicht? — Jesus antwortete: Ihr seid wie verirrte Lämmer; ich aber war des Hirten Sohn, dem ihr entlaufen seid. Wenn ihr mich recht erkennet, werdet ihr alsbald von neuem entlaufen. Es ist so lange her, daß ihr von mir in die Welt entflohen seid. — Und sie wußten nicht, was sie von ihm halten sollten. Dann sprach er weiter: Ihr habt des Versuchers Mal an euch! Er hat mit seinem Feuer eure Wolle gleißend gemacht. Die Haare dieser Wolle stechen meinen Blick! — Und sie empfanden, daß diese seine Worte etwas waren wie der Widerhall ihres eigenen Wesens aus seinem Wesen. Und dann sprach Jesus weiter: Der Versucher traf euch nach eurer Flucht. Er hat eure Seelen mit Hochmut durchtränkt! — Da ermannte sich einer der Essäer, denn er fühlte etwas Bekanntes, und sprach: Haben wir nicht dem Versucher die Türe gewiesen? Er hat kein Teil mehr an uns. — Darauf sprach Jesus von Nazareth: Wohl wieset ihr ihm die Türe; doch er lief hin zu den anderen Menschen und kam über sie. So ist er nicht um euch, so ist er in den anderen Menschen! Ihr schaut ihn überall. Glaubt ihr, daß ihr euch erhöht habt, indem ihr ihn aus euren Toren wieset? Ihr seid so hoch geblieben, wie ihr wäret. Hoch scheint ihr euch geworden, weil ihr die anderen erniedrigt habt. In dem Verkleinern der anderen seid ihr scheinbar hoch gekommen.

Da erschraken die Essäer. In diesem Augenblick aber, wo unendliche Furcht über sie kam, war ihnen, wie wenn Jesus von Nazareth sich in Nebel aufgelöst hätte und vor ihren Augen verschwunden wäre. Dann aber waren ihre Augen gebannt von diesem verschwindenden Wesen des Jesus von Nazareth und sie konnten ihre Blicke nicht abwenden von dort, wohin sie gerichtet waren. Da fiel ihr Blick wie in kosmischer Ferne auf eine riesengroße Erscheinung, die wie das ins Maßlose vergrößerte Gesicht des Jesus von Nazareth war, das sie eben noch gesehen hatten. Was aus seinen Zügen zu ihnen gesprochen hatte, das sprach jetzt mit Riesengröße aus diesen vergrößerten Zügen, die sie wie bannten. Sie konnten den Blick nicht abwenden von der Erscheinung, deren Blick wie aus weiter Ferne auf sie gerichtet war. Dadurch senkte sich in ihre Seelen etwas wie ein Vorwurf, was ihnen vorkam wie verdient auf der einen Seite, aber wie unerträglich auf der anderen Seite. Wie in eine Fata Morgana am fernen Himmel verwandelt, so erschien diesen beiden Essäern riesenhaft vergrößert der Jesus, und auch die Verhältnisse, die in den Worten lagen, erschienen ins Riesenhafte vergrößert. Aus dieser Vision heraus, aus diesem Gesicht, ertönten die Worte, die etwa in der folgenden Weise in deutscher Sprache wiedergegeben werden können: Eitel ist euer Streben, weil leer ist euer Herz, das ihr euch erfüllet habt mit dem Geiste, der den Stolz in die Hülle der Demut täuschend birgt.

Das hatte das Wesen gesprochen zu den ihm begegnenden Essäern, nachdem das Ich des Zarathustra sich aus den leiblichen Hüllen des Jesus herausgelöst hatte und Jesus wiederum das geworden war, nur erwachsen, was er in seinem zwölften Jahre gewesen war, aber jetzt durchdrungen mit alledem, was das Ich des Zarathustra und alles das Erlebte, von dem ich erzählt habe, hineinsenken konnten in diesen eigenartigen Körper, der seine Eigenart schon dadurch angekündigt hatte, daß er gleich nach seiner Geburt wunderbare Worte der Weisheit sprechen konnte, in einer nur dem Gefühl der Mutter verständlichen Sprache.

Das ist das, was ich Ihnen heute geben wollte in einer einfachen Erzählung, die zunächst bis zu dem Wege geht, den Jesus von Nazareth nach dem Gespräch mit seiner Mutter zu Johannes dem Täufer, zum Jordan hin nahm. Übermorgen wollen wir dann in der Erzählung fortfahren und versuchen, die Brücke zu schlagen zu dem, was wir versucht haben zu begreifen als die Bedeutung des Mysteriums von Golgatha.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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