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Anthroposophie, Ihre Erkenntniswurzeln und Lebensfruchte

Schmidt-Nummer: S-4595

Online seit: 15th June, 2013

ACHTER VORTRAG

Stuttgart, 6. September 1921

Durch dasjenige, was ich mir erlaubte zu charakterisieren als imaginative, inspirierte, intuitive Erkenntnis, wird der Mensch geführt vor Ergebnisse einer übersinnlichen Forschung, die ihn so recht erst vor sein eigenes Wesen hinführen. Es muß aber immer wieder betont werden, daß es sich dabei nicht handelt um das Erringen von Imagination, Inspiration und Intuition selbst, in welchen man die Forschungsmittel, ich möchte sagen, in welchen man für die übersinnliche Welt dasjenige hat, was man in der Waage, im Maßstab für die physische Welt hat. Es handelt sich vielmehr darum, daß diese Forschungsmittel innerhalb der Geistesforschung so entwickelt werden, daß der Ausgangspunkt genommen wird von etwas, das im gewöhnlichen Bewußtsein, in dem Bewußtsein des Alltags, in dem Bewußtsein, das der gewöhnlichen Wissenschaft zugrunde liegt, schon durchaus vorhanden ist, wenn man sich nur in der richtigen Weise zu diesem gewöhnlichen Bewußtsein mit seiner Möglichkeit zu wirklichen sinnlichkeitsfreien> im Geiste erfaßbaren Ideen erheben kann. Einfach eine höhere Belebung desjenigen, was man im gewöhnlichen Bewußtsein unbeachtet läßt, ist dasjenige, was in die übersinnlichen Welten hineinführt. Und derjenige, der selber zum Geistesforscher werden will durch Imagination, Inspiration und Intuition, der hat vor allen Dingen anzustreben, daß dasjenige in Bewußtheit vor ihm liege, was schon bei einer wirklichen physischen Forschung vorhanden sein muß, damit diese physische Forschung zu wirklichkeitsgemäßen Resultaten führt.

Was ich jetzt eben gesagt habe, gilt eigentlich erst für unsere Zeit, denn erst diese unsere Entwickelungsepoche der Menschheit seit dem 15. Jahrhundert hat, indem sie sich erhob zu der eigentlich naturwissenschaftlichen Forschung, auch in der Handhabung dieser Forschung solche Begriffe in das menschliche Bewußtsein hereingebracht, die in der angedeuteten Weise ausbildungsfähig, belebbar sind. In älteren Zeiten mußte man ganz andere Mittel anwenden. Es wurde — wenigstens andeutungsweise — von ihnen gesprochen, indem auf das Jogasystem hingewiesen worden ist und auf dergleichen, aber diese alteren Mittel können nicht mehr die unsrigen sein. So wie dasjenige, was im Leben der erwachsene Mensch vollbringt, nicht das sein kann, was das Kind vollbringt, ebensowenig kann das, was die zivilisierte Menschheit des 20. Jahrhunderts als Mittel der Geistesforschung anwendet, dasselbe sein, das die Menschheit der alten orientalischen oder der alten griechischen Kulturen angewendet hat.

Wir müssen von dem sinnlichkeitsfreien, reinen Denken ausgehen, wie ich es versuchte zu charakterisieren in meiner «Philosophie der Freiheit». Dieses sinnlichkeitsfreie Denken, so paradox es klingt, entwickelt sich am allerbesten, allerintensivsten, wenn man sich einlaßt auf diejenige naturwissenschaftliche Forschung, von der ich auch in diesen Abendbetrachtungen gesprochen habe. Ich habe nicht umsonst geschildert — trotz der Fehler, die ich bei ihm durchaus einsehe und zugebe — den Haeckelismus, diese besondere Art, sich in die Entwickelung des tierischen und des menschlichen Lebens zu versenken. Wenn man im strengen Sinne des Wortes dasjenige anwenden will, was gerade Geistesforschung für die äußere Sinneswelt fordern muß: das lebendige Durcheinanderwirken der reinen Wahrnehmung und des reinen Denkens, dann kommt man mit Bezug auf die durch äußerliche sinnliche Empirie gegebene organische Welt zu keinen andern Resultaten als zu denen, zu denen der Haeckelismus gekommen ist. Und will man anschaulich machen dasjenige, wozu man auf diesem Wege kommt, auf dem Wege der äußerlich-sinnlichen Anschauung und des methodischen Denkens, das diese Anschauung durchwebt, so muß man in folgendem Sinne verfahren. Man kann dann nicht aus irgendeinem abstrakten Denken heraus allerlei Spekulationen anstellen über eine Lebenskraft, wie es der Neovitalismus tut. Man kann nicht Spekulationen aus den reinen Begriffen heraus aufstellen, ob demjenigen, was äußerlich-sinnlich verfolgbar ist, noch irgendein Übersinnliches zugrunde liegt und dergleichen, sondern man muß in der Weise bei der Tatsachenwelt stehenbleiben, wie es der Haeckelismus getan hat. Gerade aus geisteswissenschaftlichen Forderungen heraus muß man die äußere Naturforschung auf dieses Gebiet und in diesem Sinne beschränken, sonst führt das Spekulieren über die äußere Natur in nebulosen Mystizismus hinein. Dadurch aber kann man sich leicht den Vorwurf des Materialismus erwerben. Dieser Vorwurf kann dann so gewendet werden, daß man sagt: Da ist von mir auch einmal etwas dargestellt worden vom materialistischen Standpunkt, und dann sei ich wieder davon abgekommen. — Darum kann es sich nicht handeln. Das sind nur törichte Einwände, welche sich an Worte halten und in den ganzen Geist der geisteswissenschaftlichen Forschung eben nicht eindringen können. Denn gerade, wenn man sich auf dem Gebiete der reinen Naturwissenschaft auf das Phänomenale beschränkt, wenn man in der Lage ist, jene innere Resignation des Denkens zu üben, die notwendig ist, um nicht nebulosen Mystizismus zu treiben, sondern phänomenalistisch die Tatsachenwelt verfolgt, dann kommt man dazu, das Denken überhaupt für die äußere Forschung nur, ich möchte sagen, als Arbeitsmittel zu gebrauchen, gar nicht als irgend etwas Konstitutives, als irgend etwas, was über die äußere Sinneswelt anders etwas aussagen kann, als daß es die Phänomene dieser äußeren Sinneswelt ordnet, so daß sie selbst ihre Geheimnisse ausspricht, wie das durchaus im Sinne des Goetheanismus liegt. Dann aber, wenn man diese Resignation übt, dann kommt man eben für dieses Feld der Forschung an eine Grenze. Und an dieser Grenze fängt man nicht an, philosophisch zu spekulieren, allerlei auszudenken über Transzendentes, das erschlossen werden soll, sondern man fängt an, jene inneren Kämpfe und Überwindungen zu erleben, welche das Denken jetzt nicht zum Spekulieren anregen, sondern ihm gewissermaßen ein Lebenselixier einflößen, so daß dieses Denken sich umwandelt in jene Anschauungen, die dann in den Imaginationen auftreten, und daß es herankommen kann an die Welt, die es durch Spekulieren niemals, sondern nur dadurch erreichen kann, daß es sich eben metamorphosiert zu übersinnlichem Schauen.

Dadurch aber, daß der Mensch solche Erkenntnismittel anwendet, wird er wirklich eigentlich erst so recht sich selbst gegeben. Und indem der Geistesforscher gerade von diesem Denken ausgeht und es überall mitnimmt, muß er überall dasjenige, was er imaginativ erschaut, was sich ihm durch Inspiration offenbart, zurückführen bis zur Gestaltung der reinen Idee. Aber in bezug auf dasjenige, was er dann als Ideen gibt, kann ihm jeder folgen, der nur in der richtigen Weise sich auf das gewöhnliche Bewußtsein besinnt. Daher ist der Geistesforscher nachprüfbar selbst in seinen höchsten Ergebnissen, und nur die Denkbequemlichkeit behauptet, man müsse selber hineinkommen in die geistige Welt, um die Ergebnisse richtig finden zu können. Dadurch aber, daß die Ergebnisse der Imagination zutage treten, wird dem Menschen dasjenige vor die Seele gerückt — ich habe es in diesen Vorträgen bereits ausgeführt —, was sein ganzes Leben seit der Geburt als einen zusammenhängenden Strom umfaßt. Das Ich erweitert sich über den Augenblick hinaus, indem es sich erfühlt und erlebt im ganzen Lebensstrom seit der Geburt. Und indem dann der Mensch aufrückt zur Inspiration, eröffnet sich ihm die Welt, in welcher er gelebt hat vor der Geburt beziehungsweise vor der Konzeption, und in welcher er leben wird, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen sein wird. Dasjenige also, was mit dem Menschen lebt als sein Unsterbliches, es wird auf diese Weise Erkenntnisobjekt. Und in der Intuition eröffnet sich der Blick über die wiederholten Erdenleben der Vergangenheit, so daß dasjenige, wovon anthroposophische Geisteswissenschaft spricht, so charakterisiert werden kann, daß man überall die einzelnen Schritte angibt, durch die man zu diesen Ergebnissen kommt und die dann, wie gesagt, nachprüfbar sind, weil sie in Gedanken, die jedem zugänglich sind, gegeben werden müssen.

Damit aber ist zunächst hingestellt vor den Menschen das rein menschliche Ergebnis dieser anthroposophischen Geisteswissenschaft. So wie wir beginnen, zu uns selbst zu kommen, wenn wir dasjenige zusammenfassend aussprechen lernen, was wir in unserem Geiste erleben, im Ich, so kommen wir zu unserem ganzen auseinandergelegten Selbst, das Zeitlichkeit und Ewigkeit umspannt, indem wir die Ergebnisse der Geisteswissenschaft zu unseren eigenen machen. Der Mensch kommt dadurch zu sich selbst, und das ist zunächst das bedeutsamste ganz allgemein menschliche Resultat. Damit aber ist dem Menschen zu gleicher Zeit eine Erweiterung seines ganzen Bewußtseins gegeben; denn indem die Ergebnisse der Geistesforschung hervorgehen aus belebtem, umgestaltetem Denken, wirken sie auch wiederum, wenn sie aufgenommen und nachgeprüft werden von den Menschenseelen, auf diese Menschenseelen belebend. Eine neue Art der Einsicht in die Welt kommt dadurch für das menschliche Bewußtsein zustande, und ich will zunächst zwei von den Lebensfrüchten mit wenig Worten charakterisieren, die gerade durch diese Erweiterung, durch dieses Intensivermachen des Bewußtseins zustande kommen.

Wir stehen heute vor der brennenden sozialen Frage. Was im sozialen Leben bis in unsere Tage hinein gewirkt hat, ging aus unbestimmten und unterbewußten Instinkten der Menschheit hervor. Die Menschen haben sich soziale Zusammenhänge gegründet, die hervorgegangen sind wie naturgesetzlich aus allerlei instinktiven Verhältnissen. Wer unbefangen das soziale Leben zu überblicken vermag, dem ergibt sich das. Aber wir leben in einem Zeitalter, wo man mit diesen instinktiven Zusammenhängen im sozialen Menschheitsorganismus nicht mehr auskommen kann. In demselben Maße, in dem Einzelwirtschaft, Stammeswirtschaft, dann Nationalwirtschaft zur Weltwirtschaft geworden sind, in demselben Maße mußte das wirtschaftliche Denken immer bewußter und bewußter werden. Und die Notwendigkeit ist eingetreten für den Menschen der Gegenwart, hinzuschauen auf die möglichen Verhältnisse, die sich ergeben zwischen den wirtschaftenden Menschen, überhaupt zwischen den Menschen, die im sozialen Leben miteinander auskommen müssen. Von diesen Verhältnissen wird man zugeben, daß sie komplizierter Natur sind. In demselben Maße, in dem man genötigt war, diese Verhältnisse aus dem instinktiven in das klare Bewußtsein hereinzubringen, hat man versucht, dies von demselben Gesichtspunkt aus zu tun, von dem man überhaupt in den letzten Jahrhunderten wissenschaftlich denken gelernt hat. Ich brauche ja nicht wieder diese wissenschaftliche Methode zu rühmen, die sich herausgebildet hat als diejenige, die in richtiger Weise die äußeren Naturgeheimnisse erforschen kann. Für diese äußeren Naturgeheimnisse ist diese aus dem Kopernikanismus, aus dem Galileismus hervorgegangene Methode durchaus die fruchtbare. Die Menschheit hat sich im Laufe der neueren Jahrhunderte eingewöhnt in diese Methode; sie hat sich dasjenige, was sie dunkel als Natur erschaut mit dem sinnlichen Anschauen, zur Klarheit geführt durch diese Methode.

Nun trat die Notwendigkeit ein, auch das zu durchschauen, was sich im sozialen Leben als menschliche Verhältnisse darstellt. Kein Wunder, daß man zunächst mit demjenigen an diese menschlichen Verhältnisse gegangen ist, das man sich erobert hat im Anschauen der äußeren Natur. Und so sind unsere nationalökonomischen und unsere sozial-Ökonomischen Anschauungen entstanden, von denjenigen, die nur auf den Kathedern vertreten worden sind bis zu derjenigen, die Millionen und Millionen von Menschen ergriffen hat, bis zum Marxismus. Ich habe das dargestellt in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage». Man versuchte zu begreifen, wie das Kapital seine Funktionen vollzieht, wie die Arbeit im sozialen Zusammenhang wirkt, wie Warenzirkulation, Warenerzeugung, Warenkonsumtion wirken. Das alles steht in komplizierten Verhältnissen darinnen; das alles stellt sich vor unsere Seele als, ich möchte sagen, lebendige Prozesse mit unendlichen Möglichkeiten. Für dasjenige, was sich da als solche Prozesse darstellt, reicht die beste naturwissenschaftliche Methode nicht aus, und weil sie nicht ausgereicht hat und doch dies soziale Leben durchdringen wollte, stehen wir heute im breitesten Umfange in der Weltenmisere drinnen. Wer nicht an der Oberfläche bleiben will, sondern in die Tiefen unserer sozialen Nöte hineindringt, der wird schon sehen, daß diese mit dem zusammenhängen, was ich eben versuchte zu charakterisieren. Man kann nicht mit jenem Denken, das sich in der Naturwissenschaft bewährt hat, soziale Gestaltung hervorrufen. Dagegen dringt dasjenige Denken, das sich durcharbeitet zur Imagination, das ein Objektives ergreift, das sich darlebt als ein Bewegtes, nicht als ein Ruhendes, sondern als ein Prozeß mit unendlichen Möglichkeiten im verhältnismäßig kleinen Gebiet oder auch über ein großes Gebiet hin — das dringt in dieses bewegliche Leben von Kapital, Arbeit, Wirtschaft und so weiter hinein. Es kann erfassen dasjenige, was Menschen darleben in der sozialen Ordnung, und das ist schließlich kein Wunder, denn dasjenige, was Menschen so darleben, entspringt schließlich doch aus dem Inneren des Menschen. Das Innere des Menschen ist das Geistig-Seelische oder es ist wenigstens vom Geistig-Seelischen dirigiert. Man stößt also, indem man auf die soziale Ordnung stößt, selber auf ein Geistiges. Kein Wunder, daß geistige Methoden notwendig sind, um die sozialen Verhältnisse zu durchschauen.

Das, meine sehr verehrten Anwesenden — verzeihen Sie, wenn ich die Sache jetzt in persönlicher Färbung ausspreche —, das gab mir den Mut, aus denselben Untergründen heraus, aus denen ich die «Philosophie der Freiheit», meine «Theosophie», meine «Geheimwissenschaft im Umriß» geschrieben habe, das heißt aus denselben Untergründen heraus, aus denen ich versuchte, die geistig-übersinnliche Welt zu beschreiben, auch den Geist da zu erfassen, wo er sich darlebt im unmittelbaren sozialen Menschenleben. Und das führte mich auf den Weg zu meinen «Kernpunkten der sozialen Frage». Es ist nur in Form einer persönlichen Nuance geschildert, aber in dieser persönlichen Nuance verbirgt sich dasjenige, was meine objektive Überzeugung ist mit Bezug auf das Verhältnis des Menschen zum Erfassen der sozialen Ordnung, die er im heutigen Zeitalter völlig bewußt, das heißt aber, aus dem Geiste heraus gestalten muß. Das ist das eine.

Das andere aber — ich führe nur Beispiele an von den Lebens fruchten anthroposophischer Forschung, ich könnte vieles dergleichen anführen —, das andere, das ich noch anführen will, kann sich uns entgegenstellen, wenn wir den menschlichen Organismus betrachten. Wir haben diesen zunächst vor uns in bezug auf seine äußere Gestalt. Von dieser wollen wir absehen. Die Umhüllung dieser äußeren Gestalt verbirgt die inneren Organe. Diese inneren Organe erforschen wir in Physiologie, in Biologie nach ihrer Gestaltung, nach ihrer Struktur. Wir können nicht anders, wenn wir uns zunächst auf dem Boden der in der neuen Zeit gewohnten Naturforschung bewegen. Aber in Wirklichkeit sind Lungen, Magen, Herz, Leber, Nieren, sind alle Organe des Menschen nicht dasjenige, als was sie sich dem Blick darstellen, wenn dieser Blick sie anschaut in ihrer umschlossenen Gestalt, mit ihrer, ich möchte sagen, in der Hauptsache doch ruhenden Struktur, insbesondere ruhend für das menschliche sinnliche Anschauen. Nein, diese Organe täuschen nur diese Gestalt vor, denn im lebendigen Menschen sind diese einzelnen Organe in einer fortdauernden lebendigen Bewegung. Sie sind gar keine ruhig gestalteten Organe, sie sind lebendige Prozesse, und wir sollten eigentlich gar nicht sprechen von Lunge, Herz, Nieren, Leber. Wir sollten sprechen von einem Herzprozeß, von einer Summe von Herzprozessen, von einer Summe von Lungenprozessen, von einer Summe von Nierenprozessen; denn, was sich da abspielt, ist eine fortdauernde Metamorphose, die sich nur in solcher Verschlossenheit abspielt, daß das Ganze für eine Gestalt gehalten werden kann, ja, für die äußere Anschauung gehalten werden muß. Vordringen aber von dem Anschauen dieser Gestalt, die eigentlich nur das Äußere offenbart, zu dem, was lebendiger Prozeß ist, zu dem, was im Grunde genommen in jedem Augenblick ein anderes wird in diesen Organen, zu demjenigen, was den Lebensprozeß von diesen Organen aus eigentlich macht, vordringen zu dem kann man nicht mit dem Anschauen der Sinne, sondern mit dem bewegten inneren Anschauen, das in der imaginativen Erkenntnis da ist.

Wenn die sozialen Prozesse so sind, daß sie gewissermaßen in ihrer Komplikation sofort uns entlaufen, wenn wir mit den naturwissenschaftlichen Vorstellungen an sie herankommen, so sind die Prozesse in Lungen, Herz, Leber, Nieren so, daß sie durch dasjenige, was wir für diese gewöhnlichen naturwissenschaftlichen Begriffe erfassen, eigentlich ihr inneres Wesen verbergen. Und man kommt hinein in die so verdichteten Prozesse mit der Imagination. Auf der einen Seite ist die Imagination in der Lage — wenn ich mich trivial ausdrücken darf —, nachzulaufen den flüchtigen, komplizierten sozialen Prozessen. Auf der andern Seite ist sie in der Lage, dasjenige, was uns ruhende Gestalt vortäuscht in den menschlichen Organen, in das bewegte Leben der Organprozesse aufzulösen, die dann, unmittelbar angeschaut, nicht erspekuliert, nicht erschlossen werden. Denn das Denken muß stehenbleiben, wenn Sinnenforschung vorliegt, bei demjenigen, was in den Phänomenen da ist, und von da aus muß es sich umwandeln zu lebendiger übersinnlicher Anschauung. Dann dringt es erst in die wirklichen Vorgänge ein, die sich der Sinnesanschauung auch in dem einzelnen menschlichen Organprozesse verbergen.

Und hier liegt der Weg zu der Befruchtung unserer durchaus von der Geisteswissenschaft voll anerkannten äußeren Medizin durch dasjenige, was Geistesforschung zu dieser äußeren Medizin hinzufügen kann. Geistesforschung will nicht an die Seite der Kurpfuscherei, nicht an die Seite des Mystelns auf therapeutischem Gebiet treten. Geistesforschung will rechnen auch auf diesem Gebiete mit echter, wahrer Forschung, mit echter, wahrer Sinneserkenntnis, diese aber fortführen bis zu denjenigen Geheimnissen des Daseins, die wir doch auch erforschen müssen, wenn wir in das Gesamtleben eindringen wollen, so daß uns dieses Eindringen wiederum Früchte liefert für das unmittelbare Leben am gesunden oder am kranken einzelnen Menschen oder an der menschlichen Sozietät. Das führt zu einer Anschauung der Lebensfrüchte, die sich aus der übersinnlichen anthroposophischen Erkenntnis ergeben.

All das schließt sich dann zu etwas zusammen, das ich in der folgenden Weise charakterisieren mochte. Die Menschen glauben vielfach, den Materialismus dadurch zu überwinden, daß sie die ganze Welt der Materie, ich möchte sagen, draußen in der Welt liegen lassen, von ihr im Geiste Abschied nehmen und sich nun in ein Geistiges, Abstraktes, in ein Wolkenkuckucksheim erheben und dadrinnen herummysteln, sich recht so benehmen, daß sie das materielle Leben als ein niedriges ansehen, über das man sich erheben muß. Dann erhebt man sich allerdings zu einem Geiste, in dem sich wohlgefällig leben läßt, zu einer Art humanem Sonntags vergnügen im Geiste neben der groben Arbeit der Wochentage, der man sich hingibt innerhalb eben der Materie, innerhalb welcher man schon einmal leben muß. Auf diesem Boden kann eine wirkliche anthroposophische Erkenntnis nicht stehen. Diese versucht den Geist so zu fassen, daß sie, wenn sie ihn hat in seinem Schaffen, in seiner schöpferischen Tätigkeit, ihn hineinverfolgen kann bis in die äußersten Ranken des materiellen Lebens. So ist es für diese Geisteswissenschaft, die hier gemeint ist, nicht etwa bloß wichtig, zu konstatieren, daß es neben dem menschlichen Leibe, der aus Gehirn, Lunge, Leber und so weiter besteht, auch eine Seele und einen Geist im Menschen gibt. Das führt kaum zu weiterem als zu einem Herumreden in Worten, denn es führt zu Abstraktionen mit Bezug auf die Welt, in der wir zwischen Geburt und Tod drinnenstehen. Was Geisteswissenschaft anstrebt, das ist, mit dem Geiste, mit dem sie sich durchdrungen hat, nun überall unterzutauchen, zu sagen, wie lebt geistige Artung, geistig Wesenhaftes in jedem einzelnen Organ des Menschen, wie ist die Wesenheit von Lunge, Leber, Herz, Magen und so weiter geistig durchschaut, wie durchdringen Geist und Seele den gesamten menschlichen Organismus, mit dem Geiste hineinzuleuchten bis in die einzelnsten Zellen, so daß nichts mehr übrigbleibt, was nicht von dem Lichte des Geistes durchleuchtet ist. Dann hat man gar nicht mehr auf der einen Seite Materie, auf der andern Seite den abstrakten Geist; dann ist zur Einheit zusammengewachsen dasjenige, was Geist auf der einen Seite in Abstraktion und Materie auf der andern Seite in Abstraktion ist. Und ebenso geht es mit dem sozialen Leben.

Dann aber, wenn man in dieser Weise den Geist in die Wirklichkeit untertauchen läßt und mit ihm selber in diese Wirklichkeit untertaucht, dann vertieft sich die menschliche Seele so, daß jene Seile und Schnüre, von denen ich gesprochen habe an diesen Abenden, die da führen von dem innersten Menschenwesen hinaus in das innerste Weltenwesen, daß diese Schnüre, diese Seile, dieser geistige Zusammenhang zwischen dem Menschen und der Welt in das Bewußtsein des Menschen so hereintritt, daß eine lebendige Strömung, ich möchte sagen, ein Ein- und Ausatmen der Welt entsteht. Was sonst in theoretischen, in abstrakten Begriffen erfaßt wird, das wird in freier Geistigkeit selber als lebendiges Erlebnis so durchsichtig, wie nur Ideen sind, und so lebendig aber auch auf der andern Seite, wie nur das Leben ist, und so frei, wie nur die freieste Handlung sein kann, deshalb aber durchaus objektiv, wenn auch das Objektive in diesem Falle in freier Geistigkeit erfaßt werden muß. Deshalb ist es nötig, diejenigen Fähigkeiten, die sonst beim Menschen unbewußt sich an die Oberfläche ringen, von dieser Geistesforschung, von dieser Geisteserkenntnis aus zu beleben.

Mit Bezug auf die gewöhnliche äußere Wissenschaft haben diejenigen, welche Künstler sind, mit Recht eine Art von Scheu. Und die moderne Ästhetik, die aus dem Denken der neueren Zeit, das man an der Naturwissenschaft gewohnt worden ist, hervorgegangen ist, sie ist etwas, was die Künstler meiden, und mit Recht, denn sie ist etwas Abstraktes, etwas, was von der Kunst eher wegführt als in sie hinein. Was Geisteswissenschaft ist, führt nicht zu solchen abstrakten Begriffen, bringt dasjenige, was erst nur Begriff, Idee ist, zum Leben, das wiederum belebt die andern menschlichen Fähigkeiten. Dadurch ist es möglich, daß aus dem Boden, aus dem diese Geisteswissenschaft hervorwächst, zu gleicher Zeit wirklich Künstlerisches auf naturgemäße Weise hervorwächst. Niemals hat man es zu tun bei der Kunst, die in Dornach gepflegt ist und von der ich morgen auch in Bildern einige Proben vorzuführen habe, niemals auch bei etwas, zum Beispiel wie bei Eurythmie, das hervorgeholt ist aus demselben Boden, aus dem die Geisteswissenschaft hervorgeholt ist, mit der Übersetzung von irgendwelchen Ideen in künstlerische Anschauung. Nein, der Boden ist nur ein gleicher, der Boden ist der des lebendigen Schaffens des Vollmenschen. Das eine Mal gestaltet er Ideen aus als den einen Ast, das andere Mal aus derselben Wurzel, geht der andere Ast, der künstlerische, hervor. Deshalb war es mir auch immer außerordentlich unsympathisch, wenn Allegorisierendes oder Symbolisierendes innerhalb der anthroposophischen Bewegung aufgetaucht ist. Was künstlerisch ist, wird zwar aus derselben Quelle stammen müssen, aus der Anthroposophie stammt, aber es ist nicht in Kunst übersetzte Anthroposophie. Damit wird auf künstlerischem Gebiete eine gewisse Lebensfrucht gezeitigt, wie die angedeutete auf sozialem oder medizinischem Gebiete.

Und wenn man bedenkt, wie die Art und Weise ist, wie da der Mensch mit seinem ewig Unsterblichen zusammengeführt wird mit jenen Kräften, die ihn selber eigentlich als Menschen aus der geistigen Welt heraus gestalten, dann wird man auch einsehen, wie zusammenhängt das, was der Mensch hat durch Anthroposophie an erlebter Erkenntnis, an erkennendem Erleben, mit religiöser Vertiefung. Wir brauchen in unserem religiös so gleichgültig gewordenen Zeitalter wiederum religiöse Elementarkräfte. Wir brauchen Wege hinein in diejenigen Stätten geistigen Erlebens, aus denen sich des Menschen Sittlichkeit, aus denen sich des Menschen künstlerisches Schaffen, aus denen sich alles dasjenige, was Menschenwert und Menschenwürde ist, als aus dem göttlichen Zentrum heraus befruchten läßt. Man verleumdet Anthroposophie, wenn man ihr sektiererische Bestrebungen zuschreibt, die sie durchaus nicht bilden will. Man verleumdet sie, wenn man glaubt, daß sie eine neue Religionsbildung sein will. Nein, das will sie nicht sein, einfach aus dem Grunde, weil sie sich bemüht, den Gang der Menschheitsentwickelung in seiner wahren Gestalt zu verstehen. Da muß man sagen: Diejenigen göttlichen Mächte, welche die Welt gestaltet und die Menschheitsentwickelung geleitet haben, sie wurden in älteren Zeiten nach dem Sinne älterer Bevölkerungen verstanden. Wir müssen zu andern Metamorphosen des Erkennens und der Handlungsmotive vorschreiten; wir müssen dasjenige, was ewig ist im Sinne der neuesten Zeit, unseren Seelen nahebringen. Gewiß wird Geisteswissenschaft nicht von einem andern Christus sprechen als von demjenigen Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist; aber Geisteswissenschaft muß sprechen von Stufen derjenigen Erkenntnis, die sie für notwendig hält im 20. Jahrhundert, auch gegenüber dem Christus-Ereignis. Denjenigen, die da glauben, vom Boden irgendeines bestehenden Bekenntnisses aus Furcht haben zu müssen, daß ihnen der Boden abgegraben werde durch Anthroposophie, denen muß immer wiederum gesagt werden: Ist denn derjenige der echte Bekenner des Christentums, der bei jeder Gelegenheit Furcht hat, daß die Wahrheiten des. Christentums beeinträchtigt werden können? Oder ist es derjenige, der weiß — mögen noch Millionen von Erkenntnissen auf physischem, auf seelischem, auf geistigem Boden erstehen —, daß die wirklichen Wahrheiten des Christentums dadurch nur um so glänzender vor die Menschenseele werden hintreten können? Niemand wird fragen, warum von Amerika nichts in der Bibel steht, und derjenige, der etwa die Entdeckung Amerikas hätte bekämpfen wollen vom Standpunkt der Bibel aus, der gliche dem, der heute vom Standpunkt der Bibel aus die Anschauungen anthroposophischer Geisteswissenschaft bekämpfen will.

Diese Dinge müssen in aller Ehrlichkeit durchschaut und durchdacht werden. Sonst wird dasjenige, was in den Bekenntnissen liegt, immerzu ein Hemmschuh werden müssen für wirkliche Forschung, während diese, wenn sie bis zum Geiste vordringt in der Art, wie anthroposophische Geisteswissenschaft das will, durchaus gerade auch die Lebensfrucht bringt, die in einer Belebung des religiösen Seins der Menschenseele besteht. "Wir müssen dasjenige, was wir erforschen in den verschiedenen Welten, in Einklang bringen mit dem, was unser religiöses Empfinden und Fühlen bildet. Und man nimmt den Religionen nichts, wenn man ihre Wahrheiten versucht in Harmonie zu bringen, in berechtigte Harmonie, in erkenntnismäßige Harmonie mit dem, was sich als die Erkenntnisse verschiedener Epochen ergibt. So wird gerade unser Zeitalter auch diese Lebensfrucht von anthroposophischer Forschung haben, die in einer Vertiefung des gleichgültig gewordenen religiösen Lebens besteht. Wenn diese Frucht reift, dann wird von dieser Seite herkommen jene Wärme, jener Enthusiasmus, die wir als Christen brauchen, wenn wir in unserer Zeit des Niedergangs vorwärtskommen wollen. Und was wir auch sonst einsehen im sozialen Leben, in der menschlichen Organisation, was wir hervorbringen können künstlerisch: fortentwickeln kann das alles die Menschheit nur, wenn es getragen wird von der Wärme innerster menschlicher Wesenheit und Schaffenskraft. Die ist aber enthalten in den wahrhaftigen religiösen Empfindungen der Menschheit.

Was sich nun aber in unserer Zeit gerade diesen geisteswissenschaftlichen Forschungsarten besonders stark entgegenstellt, das hängt doch tief zusammen damit, daß man allmählich den Zusammenhang verloren hat mit der Wirklichkeit, indem man auf der einen Seite hinsieht auf die entgeistigte Natur, die man daher nicht in ihrer wahren Gestalt, sondern nur in ihrer äußeren sinnlichen Gestalt haben kann für die moderne Wissenschaft, auf der andern Seite hinschaut auf die geistige Welt, vielleicht nur in einer Empfindungsgewißheit — ich habe darüber gestern gesprochen —, aber dann doch nicht über Abstraktionen hinauskommt. Das alles zusammen hat eben seine Wurzel darinnen, daß man allmählich dazu gekommen ist, zu bequem zu sein, um in geistiger Freiheit, im freien geistigen Erleben, in innerlicher Aktivität das Geistige erfassen zu wollen, so daß man es bis in die Schlupfwinkel des materiellen Geschehens hinein verfolgen kann. Weil die naturwissenschaftlichen Wahrheiten in engster Anlehnung an die äußeren Geschehnisse gefunden werden, weil sie überall gebildet werden an der Beobachtung, an dem Experiment, weil man nichts mehr zu denken unternimmt als dasjenige, was das Zufallsexperiment, die Zufallsbeobachtung ergeben, hat man sich gewöhnt, an die Stelle des ehemaligen Dogmas der Offenbarung — wie ich mich in meinen allerersten Schriften ausgedrückt habe — das Dogma der Erfahrung, nämlich der äußeren sinnlichen Erfahrung zu setzen. Dadurch ist man in seiner inneren Seelenverfassung unbefriedigt geworden. Man hat sich abgewöhnt, dasjenige, was die Seele erleben kann, als Objektives und nicht in Anlehnung an ein Äußeres zu erleben, sondern in freiem innerem Erleben. Dieses freie innere Erleben ist dasjenige, was wir vor allen Dingen suchen müssen, wenn wir zu einer wirklichen Geistesforschung kommen wollen. Und das ist dasjenige, dem sich die Menschen jetzt am meisten widersetzen.

Ich möchte dafür ein Beispiel anführen, nicht weil ich diesen Aufsatz, der vor kurzem erschienen ist, hier in diesen Vorträgen benützen will, um gewissermaßen abzurechnen mit irgend etwas, was gegen Geisteswissenschaft in anthroposophischer Hinsicht selber eingewendet wird. Nein, ich will in diesen Vorträgen in dieser direkten Weise mit keinem Gegner mich auseinandersetzen, am wenigsten mit dem, was in diesem Auf satze steht, den ich hier meine. Denn derjenige, der in diesem Aufsatze spricht, der redet von etwas ganz anderem als von anthroposophischer Geisteswissenschaft, die er gar nicht kennt und die er nach dem Hörensagen und nach dem Hineinblicken, man könnte fast sagen, zugegebenermaßen nach dem Hineinblicken vielleicht in ein einziges Buch und nach dem Anhören von gewissen Nachrichten — für sich allerdings, das muß gesagt werden, in einer grundehrlichen Weise, so wie es ihm eben möglich ist — zu charakterisieren versucht. Was da gegenüber der Geisteswissenschaft auseinandergesetzt wird, auf das will ich hier nicht eingehen. Ich möchte die Sache nur in kulturgeschichtlicher, in zeitgeschichtlicher Weise betrachten. Da redet dieser außerordentlich angesehene Verfasser von denjenigen Übungen, von denen er gehört hat, daß ich sie schildere, damit der Mensch wirklich mit seinem Seelenleben den Weg hinauf in die geistige Welt gehen kann. Und da hat er offenbar auch gehört oder gelesen, daß man sich in den anfänglichen, ganz elementaren Übungen damit befassen soll, fünf Minuten an einen gleichgültigen Gegenstand zu denken, so daß man wirklich in innerer Freiheit, ohne daß einen etwas zwingt, sondern indem man nur dem folgt, was man selber will, den Gedanken festhält. Deshalb sagte ich, um anzudeuten, worauf es ankommt: Man kann ja eine Stecknadel oder einen Bleistift benützen; denn es ist ganz gleichgültig, an was man denkt. Nicht darauf kommt es an, daß man durch das Gedachte gefesselt wird, sondern darauf, daß in innerer Freiheit festgehalten wird das Denken durch fünf Minuten, daß das Denken versetzt wird in die Sphäre der freien Tätigkeit. Man ist nicht gewohnt im gewöhnlichen Leben, in dieser Art das Denken in der Sphäre der freien Tätigkeit zu halten. Wenn man das Denken an einen Gegenstand wendet, so will man von dem Gegenstand gefesselt sein; man denkt so lange daran, als einen der Gegenstand fesselt. Dadurch kommt man niemals in die Geistesforschung hinein, im Gegenteil, man kommt immer mehr von übersinnlicher Forschung und Anschauung dadurch ab. Daher ist es charakteristisch für einen Menschen, der eigensinnig ganz in dem gegenwärtig sich offenbarenden Niedergang drin stehenbleiben will, wenn er sagt: «Jetzt würde ich das überhaupt nicht fertigbringen; und ich fürchte, ich fürchte: mit aller Selbstüberwindung lerne ich das nie. Dagegen habe ich mir schon vorwerfen lassen müssen, ich könne von einem Gegenstand, der mich interessiert,... langer als fünf Minuten so weg sein, daß ich für die übrige Welt überhaupt nicht mehr vorhanden sei.» Das ist gerade der umgekehrte Weg. Wenn einen der Gegenstand so fesselt, daß man nicht mehr für die andere Welt vorhanden ist, dann gibt man sich an den Gegenstand hin, dann veräußert man seine Freiheit an den Gegenstand. Das ist es, worauf es ankommt: daß einen der Gegenstand nicht fesselt, daß man einen Gegenstand nimmt, der einen nicht fesselt, und daß man aus innerer freier Kraft das Bewußtsein auf dem Gegenstand durch fünf Minuten festhält. Daher ist es ungeheuer charakteristisch, wenn hier gesagt wird: «Da überlasse ich diese Fähigkeit doch lieber Menschen, denen nichts in ihrem wirklichen menschlichen Leben so viel ernstes Interesse einflößt, daß es sie fünf Minuten festhält.»

Für diesen Mann hier, der ein berühmter Mann der Gegenwart ist, ist so unendlich viel da, das ihn unfrei fesselt, immer wieder und wiederum fünf Minuten und wahrscheinlich länger — ich will es zu seiner Ehre annehmen —, daß er gar nicht dazu kommen kann, aus innerer Freiheit heraus einen inneren Gedankenkomplex durch fünf Minuten festzuhalten. Das will er denjenigen Menschen überlassen, die nicht von der äußeren Welt so gefesselt werden wie er selber, und das verrät ja auch sonst, wie er ganz klebt an demjenigen, was sich in der an diesem Abend charakterisierten Art in der modernen Anschauungs-, Denk- und Empfindungsweise herausgebildet hat. Das liegt weit ab von dem, was Geisteswissenschaft gerade fördern muß: das Sich-Hinein-versetzen in die Sphäre des freien Denkens.

Ein anderes Beispiel, das ich gebe, damit der Mensch in eine solche Sphäre des freien Denkens hineinkommt, ist dasjenige, das ich im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft» beschreibe als das Anschauen des Rosenkreuzes. Sie können dort nachlesen, wie diese Übung gemacht wird. Dazu sagt der betreffende Verfasser: «Das Kreuz stellt sich mir nicht selten ungerufen vor die Seele.» — also wiederum nicht durch inneren Ruf in Freiheit, sondern ungerufen kommt es —, «Aber es ist dann kein schwarzes Kreuz, etwa aus poliertem Ebenholz, sondern ein ganz gemeiner, roher Galgen von schmutzig-grauer Farbe. Und an diesem Kreuz hängt nicht ein Kranz von sieben roten, strahlenden Rosen, sondern ein bleicher, blutiggeschlagener Mensch in Todesqual, ja in Höllenqual.»

Also man gibt behufs innerlicher Befreiung des Denkens eine Übung an, und dem Betreffenden fällt nichts anderes ein als dasjenige, was ihm unter Zwangsgewalten aus seiner ganzen Erziehung, aus seinen ganzen Lebensgewohnheiten einfällt, und er betrachtet das sogar als das Selbstverständliche, als das Richtige. Da kann man niemals mit solcher Gesinnung herankommen an dasjenige, was Geistesforschung wirklich bringen kann. Denn derselbe Mann brauchte gar nicht zu beschreiben das, was ich in meiner «Geheimwissenschaft» als ein Kreuz darstelle, das man sich in freier Geistigkeit herausformt, sondern er könnte zum Beispiel auch erfahren, daß ihm irgendwo einer von einem Fensterkreuz spricht und ihm das beschreibt. Da wird er auch sagen: Du hast kein Recht, von einem Fensterkreuz zu sprechen, denn mir fällt nicht etwa ein rötlich angestrichenes Fensterkreuz ein, sondern immerzu ein schwarzes Kreuz als ein gemeiner roher Galgen — und so weiter. Und wenn man dem Mann erzählen wollte, wie man mit dem Kreuz, nämlich mit der Abszissen- und Ordinatenachse, in der analytischen Geometrie arbeitet, so würde er einem das verbieten. Und wenn ihm Einstein hinzeichnete die Abszissen- oder Ordinatenachse, so würde ihm der rohe Galgen einfallen, einzig und allein. Man muß diese Dinge nur in ihrem wahren Inhalte anschauen, dann wird man sehen, welche Gewalten da sind in unserer Zeit, um gerade nach der entgegengesetzten Seite von dem zu führen, was, wie vielleicht doch die verehrten Zuhörer entnommen haben, unserer Zeit in sozialer, in religiöser, in wissenschaftlicher Beziehung so außerordentlich notwendig ist.

Kein Wunder, daß der betreffende Verfasser noch etwas anderes, höchst Merkwürdiges sagt. Ich habe dasjenige, was ich die Akasha-Chronik genannt habe, hingestellt als dasjenige, wodurch der Mensch versucht, seine Gedanken so zu gestalten, daß er das Weltenwerden in innerer Aktivität überschaue. Gerade darauf mußte ich rechnen, daß man bei der Schilderung von so etwas sich seine innere Seelenverfassung aktiv erhält und daß man diese Seelenverfassung in freier Geistigkeit heraufhebe in das Übersinnlich-Anschau-bare. Dieser Mann aber spricht folgendes: «Und — Sie mögen mir das glauben oder nicht — dieser Verzicht fällt mir nicht einmal so sehr schwer. Wenn mir Herr Dr. Steiner die Akasha-Chronik in illustrierter Prachtausgabe verehren wollte — ich würde sie nicht einmal lesen.» Nun, der Mann denkt also, es könnte ihm das passieren, daß ihm die Akasha-Chronik in illustrierter Prachtausgabe verehrt würde, damit er ja passiv sich hingeben kann, damit ja nicht irgendwie gerechnet werde auf seine innere Seelenaktivität.

Es ist schon durchaus notwendig in unserer Zeit, daß derjenige, der da mitarbeiten will an den Aufgangskräften, solche Erscheinungen ohne Haß, ohne Antipathie ins Auge faßt, aber so, wie sie dastehen, alle die Über-, alle die Niedergangskräfte. Viele Menschen stehen da und können nicht einmal bemerken, daß sie diese Übergangskräfte in sich haben, und denen wieder eilen zahlreiche andere Menschen nach, Tausende und aber Tausende Menschen. Sie eilen solchen passiven religiösen Naturen nach, weil man passiv bleiben will, weil man nicht will dasjenige, was so notwendig ist: die Objektivität, die objektive Wesenheit, das heißt, das Übersinnliche in freier Geistigkeit ergreifen. Dazu gehört eben aktive innere Seelenverfassung, freie innere Seelenverfassung.

Das ist es, was ich am Schlüsse noch zusammenfassend sagen möchte: Anthroposophische Geisteswissenschaft will übersinnliche Erkenntnisse pflegen, Erkenntnisse, die zu solchen Ergebnissen führen, wie ich sie in den vorangehenden Tagen und heute zusammenfassend charakterisiert habe. Diese anthroposophische Geisteswissenschaft will nicht zu toten Begriffen führen, die nur von einer toten äußeren Wirklichkeit künden. Anthroposophische Geisteswissenschaft will nicht die Wissenschaft, die Erkenntnis beschränken auf diejenigen Ergebnisse, die wie welke Blätter durch den abstrakten Verstand an der äußeren sinnlichen Wirklichkeit gewonnen werden und die, indem sie in die menschliche Seele versetzt werden als welke Blätter, verdorren und die innere Kraft des Menschen durch ihr Verdorren selber herablähmen.

Anthroposophische Geisteswissenschaft will vielmehr in ihren Ergebnissen bringen wahre Lebensfrüchte, nicht welke Blätter, Lebensfrüchte, die Geistesnahrung werden können der lebendigen Seele, wie das Blut in seiner Zirkulation dem Leibe die Nahrung bringt. Daß das aber möglich werde, dazu bedarf Geisteswissenschaft der Luft der Freiheit. Erkenntnis selber muß in die Geistesluft der Freiheit gerückt werden, jener Freiheit, welche die tiefsten Tiefen der menschlichen Seele zum Erkennen erwecken kann, sie aber auch erwecken kann zum wahrhaftig freien Handeln, zu einem Handeln, das Harmonie, soziale Harmonie begründen kann unter den Menschen. Denn dasjenige, was am sozialen Organismus notwendigerweise aus der Gegenwart heraus in die nächste Zukunft geschehen soll, es muß dann doch zuletzt hervorgehen aus dem, was der vollbewußte Mensch in freier Erkenntnis erringt, im Innersten der Seele als freie Lebensfrucht dieser Erkenntnis erleben kann und wiederum als soziales Wirken in die ganze menschliche Gesellschaft, in die ganze menschliche Entwickelung hinaustragen kann, so daß es die Menschheit aus der Gegenwart heraus in die nächste Zukunft hinein nicht durch Niedergangs-, sondern durch Aufgangskräfte führe zu neuem Menschlich-heilsam-Schöpferischem.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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