[Steiner e.Lib Icon]
Rudolf Steiner e.Lib Section Name Rudolf Steiner e.Lib



Highlight Words

Anthroposophie, soziale Dreigliederung und Redekunst

Schmidt-Nummer: S-4632

Online seit: 30th April, 2010

VIERTER VORTRAG

Dornach, 14. Oktober 1921


Gestern versuchte ich zu entwickeln, wie man den ersten Teil eines Dreigliederungsvortrags vor einem gewissen Publikum behandeln könnte, und ich machte darauf aufmerksam, daß es namentlich notwendig ist, eine Empfindung hervorzurufen für den besonderen Charakter des auf sich selbst gestellten Geisteslebens. Im zweiten Teil wird es sich darum handeln, überhaupt einer gegenwärtigen Menschheit erst begreiflich zu machen, daß es so etwas geben kann wie einen demokratisch-politischen Zusammenhang, der Gleichheit anzustreben hat. Denn eigentlich – und das muß man bedenken, namentlich wenn man sich für einen solchen Vortrag vorbereitet – ist das der Fall, daß der gegenwärtige Mensch gar keine Empfindung hat für ein solches Staatsgebilde, das auf das Recht als auf sein eigentliches Fundament aufgebaut ist. Und dieser Teil, der politisch-staatliche Teil des Vortrags, er wird ganz besonders schwierig zu behandeln sein innerhalb der schweizerischen Verhältnisse. Und es wird sich ganz besonders darum handeln, daß die Redner, welche innerhalb der schweizerischen Verhältnisse die Dreigliederung des sozialen Organismus vertreten wollen, gerade von den also bedingten schweizerischen Verhältnissen ausgehen, und besonders darum, daß sie bei dem mittleren, dem rechtlich-staatlichen Teil, Rücksicht darauf nehmen, wie man aus den schweizerischen Verhältnissen heraus zu reden hat. Denn die Sache liegt ja im allgemeinen so: Durch die Verhältnisse der neueren Menschheitsentwickelung ist das eigentliche Staatsleben als solches, das sich eigentlich im Rechtsstaat ausleben sollte, im wesentlichen verschwunden, und was sich im Staate auslebt, ist eigentlich ein chaotisches Zusammensein der geistigen Elemente des menschlichen Daseins und der wirtschaftlichen Elemente. Man könnte sagen: In den modernen Staaten haben sich allmählich die geistigen Elemente und die wirtschaftlichen Elemente durcheinandergeschweißt, und das eigentliche Staatsleben ist zwischendurch eben heruntergefallen, eigentlich verschwunden.

Dies ist besonders innerhalb der schweizerischen Verhältnisse bemerkbar. Da haben wir es überall zu tun mit einer in ihren eigentlichen Ausgestaltungen unmöglichen, scheinbaren Demokratisierung des geistigen Lebens und mit einer Demokratisierung des Wirtschaftslebens, und damit, daß die Leute glauben, dieses scheinbar demokratisierte Gemisch von Geistesleben und Wirtschaftsleben, das wäre eine Demokratie. Und da sie sich ihre Vorstellung von Demokratie gebildet haben aus dieser Mischung heraus, da sie also eine vollständige Scheinvorstellung von Demokratie haben, so ist es so schwierig gerade zu den Schweizern von wirklicher Demokratie zu sprechen. Eigentlich verstehen gerade von wirklicher Demokratie die Schweizer am alleraller-wenigsten.

Man denkt in der Schweiz darüber nach, wie man die Schulen demokratisieren soll. Das ist ungefähr so, als wenn man darüber nachdenken und aus wirklichen, wahren Begriffen heraus eine Vorstellung davon bekommen sollte, wie man einen Stiefel zu einer guten Kopfbedeckung macht. Und in ähnlicher Weise werden hier die staatlichen sogenannten demokratischen Begriffe behandelt. Es nützt ja nichts, über diese Dinge, ich möchte sagen, leisetreterisch zu sprechen, um, wenn man hauptsächlich vor Schweizern spricht, höflich zu sprechen; denn dann würden wir uns doch nicht verstehen können. In der Höflichkeit über solche Dinge kann man sich ja niemals ordentlich verstehen. Nun, gerade deshalb ist es notwendig, den Begriff des Rechts und der Gleichheit der Menschen vor einer solchen Bevölkerung zu erörtern, wie es die schweizerische ist.

Man muß sich da durchaus angewöhnen, wenn man rednerisch aktiv sein will, auf jedem Boden anders zu sprechen. Wenn man, wie es der Fall war vom April 1919 ab, in Deutschland über die Dreigliederung sprach, sprach man unter ganz anderen Verhältnissen als etwa hier in der Schweiz, und auch unter so ganz anderen Verhältnissen, als in England oder in Amerika von der Dreigliederung gesprochen werden kann. Gerade in jenem Frühling, im April 1919, unmittelbar nach der deutschen Revolution, waren in Deutschland alle, sowohl proletarische wie bürgerliche Kreise, die einen natürlich mehr revolutionär, die anderen resignierend, davon überzeugt, daß irgend etwas Neues kommen müsse. Und in diese Empfindung hinein, daß irgend etwas Neues kommen müsse, sprach man ja eigentlich. Man sprach doch damals zu verhältnismäßig vorbereiteten Leuten, und man konnte natürlich damals auch in Deutschland ganz anders sprechen, als man etwa heute sprechen kann. Zwischen heute und dem Frühling 1919 liegt ja auch in Deutschland eine Welt. Heute kann man höchstens hoffen, in Deutschland mit irgend etwas, was an Dreigliederung anklingt, eine Vorstellung davon hervorzurufen, wie das geistige Leben als solches selbständig gestaltet werden kann und eigentlich gerade unter solchen Verhältnissen, wie sie in Deutschland sind, heute gestaltet werden müßte, wie unter gewissen Verhältnissen auch das innerstaatlich-rechtliche Leben gestaltet werden könnte. Aber man kann natürlich heute in Deutschland nicht von einer völlig im Sinne der Dreigliederung gelegenen Gestaltung des Wirtschaftslebens sprechen, denn das Wirtschaftsleben in Deutschland ist ja tatsächlich etwas, was unter Zwangsmaßregeln, unter Druck und so weiter steht, was sich nicht frei bewegen kann, was keine Gedanken haben kann über seine eigene freie Beweglichkeit. Es ist dies zum Beispiel ganz auffällig in der ganz verschiedenen Art des Lebens, sagen wir, des «Futurum» und des «Kommenden Tages». Der «Kommende Tag» steht mitten drin, so wie wenn er in einer Zwangsjacke wäre, und hat die Aufgabe, unter solchen Verhältnissen zu arbeiten; das «Futurum», wie es sich hier in der Schweiz entwickelt, muß eben mit schweizerischen Verhältnissen arbeiten, über die wir ja gleich noch etwas mehr werden zu sprechen haben. Es ist also durchaus eine Rede verschieden zu gestalten, ob sie hier in der Schweiz, ob sie in Deutschland, ob sie zu dieser oder jener Zeit gehalten wird.

In England, in Amerika müßte man natürlich wieder ganz anders sprechen. Es ist ja, was zunächst von hier aus in bezug auf England und Amerika gemacht werden kann, doch nur eine Art Surrogat, denn schon zum Beispiel «Die Kernpunkte der sozialen Frage»: es ist gut, wenn sie übersetzt werden, gut, wenn sie überall verbreitet werden; aber, was ich von Anfang an gesagt habe, das wirklich Richtige, das letztlich Richtige wäre, wenn für Amerika und auch für England die «Kernpunkte» ganz anders geschrieben würden als für Mitteleuropa und auch für die Schweiz. Für Mitteleuropa und die Schweiz können sie schon ganz wörtlich und satzgemäß lauten, wie sie sind, aber für England und Amerika müßten sie eigentlich ganz anders verfaßt werden, denn da spricht man zu Menschen, die ja zunächst das Gegenteil von dem haben, was in Deutschland zum Beispiel im April 1919 vorhanden war. In Deutschland war die Meinung vorhanden, etwas Neues müsse kommen, und man müsse nur zunächst wissen, was dieses Neue sei. Man hatte nicht die Kraft, es zu verstehen, aber man hatte zunächst das Gefühl, man müsse wissen, was irgend etwas vernünftiges Neues sein könnte. Davon ist natürlich im ganzen Gebiete von England und Amerika auch nicht einmal die allergeringste Empfindung vorhanden. Da ist nur die Empfindung vorhanden: Wie kann man das Alte festlegen, retten? Was muß man tun, damit das Alte nur ja recht fest bleibt? Denn das Alte ist ja gut! An dem Alten ist ja nicht zu rütteln. – Ich weiß selbstverständlich, daß da, wenn man so etwas ausspricht, erwidert werden kann: Ja, aber es sind doch so viele progres-sistische Bewegungen in den westlichen Gebieten! – Diese progressisti-schen Bewegungen sind aber alle, ganz gleichgültig, ob sie auch dem Inhalte nach neu seien, der Führung nach durchaus reaktionär, konservativ. Da muß also die Empfindung davon erst hervorgerufen werden, daß es so nicht weitergeht, wie es bisher gegangen ist.

An einzelnen Fragen kann das durchaus bemerkt werden. Nehmen wir eine furchtbare, schreckliche, ich möchte sagen, die schrecklichste Frage, die hat heraufkommen können vom rein menschlichen Standpunkte aus, nehmen wir die Frage der Verhungerung Rußlands. Innerhalb Deutschlands – wenn auch die Anschauungen noch so chaotisch sind, wenn auch aus Agitationsgründen gegen das gehandelt wird, was vernünftig wäre, und aus menschlichen Gründen wiederum in selbstverständlicher Weise dem Mitleid gehuldigt wird, gegen welches Walten des Mitleids natürlich gar nicht gesprochen werden soll –, innerhalb Deutschlands kommt man endlich, wenigstens in einzelnen Kreisen, mehr oder weniger darauf, daß es ja ein Unsinn ist für den ganzen Gang der Menschheitsentwickelung, in Form von Unterstützungen für die Verhungerung Rußlands etwas zu tun, durch Schenkungen gewissermaßen von westlicher Seite. Man kommt darauf, daß das ganz gewiß vom menschlichen Standpunkte aus sogar gefordert wird, daß aber, was nach dieser Richtung getan wird, so selbstverständlich ist, daß man nur ja nicht sagen soll, es habe irgend etwas mit den Aufgaben zu tun, die heute die Verhungerung Rußlands stellt. Im Westen werden höchstens einige Theoretiker – aber dann auch nur auf dem Boden des Theoretischen – zu einer solchen Anschauung kommen. Es ist also natürlich, daß man im Westen erst eine Empfindung davon hervorrufen muß, daß die Welt eine Neugestaltung braucht.

Die Schweiz hat so dagestanden während der furchtbarsten Katastrophe der neueren Zeit, daß sie eigentlich nur theoretisierend – nämlich durch die journalistische Theorie – daran teilgenommen hat, und durch das, was von außen eben in die geistigen und die wirtschaftlichen Verhältnisse hereingewirkt hat. Die schweizerische Bevölkerung hat deshalb gar nicht eine eigentliche Empfindung, weder davon, daß etwas Neues kommen müsse, noch davon daß das Alte bleiben müsse. Wenn heute der Schweizer, je nach der einen oder anderen Parteirichtung davon spricht, daß ein Neues kommen müsse oder das Alte bleiben müsse, so hat man immer das Gefühl: Er erzählt einem nur, was er gehört hat, gehört hat auf der einen Seite von Mitteleuropa, gehört hat von England und dem Westen auf der anderen Seite. Er erzählt einem nur, was zu seinen beiden Ohren hineingegangen ist, und nicht, was er eigentlich erlebt hat. Und daher erscheint es einem auch als so schweizerisch, wenn diejenigen Menschen, die sich nicht gern nach rechts oder nicht gern nach links engagieren – und das sind ja maßgebende Schweizer heute sehr häufig –, daß diese Menschen sagen: Ja, wenn das geschieht, dann geschieht es eben so, wenn das andere geschieht, geschieht es eben so! Wenn ein Neues kommt, dann verläuft die Sache halt so, wenn das Alte bleibt, dann verläuft die Sache so! – Es wird gewissermaßen ausgeknobelt, was man in die eine oder andere Waagschale noch zu legen hat.

Es ist so: Wenn man versucht, jemanden in der Schweiz zu erwärmen für das, was der Welt heute bitter notwendig ist, so gerät man in Verzweiflung, weil es ihn eigentlich gar nicht angreift, weil es gleich zurückprallt, weil er eigentlich in Wirklichkeit mit dem Herzen gar nicht dabei ist. Es ist ihm zu sehr zuwider, als daß es für ihn interessant sein könnte, und er hat zu wenig Erfahrung über diese Dinge, als daß es ihm irgendwie sympathisch sein könnte. Er möchte Ruhe haben. Aber er möchte doch auch wiederum Schweizer sein. Das heißt: Wenn da alle möglichen Fortschrittsgeschichten mit «Freiheit» und «Demokratie» über die Grenze herübertönen, so kann man doch, weil man sich durch viele Jahrhunderte hindurch immerfort demokratisch genannt hat, wiederum nicht sagen, man wolle die Demokratie nicht! Kurz, man hat wirklich das Gefühl, als ob in der Schweiz die Menschen einen sehr gut ausgebauten Kanal hätten zwischen dem rechten und dem linken Ohr, so daß alles, was auf der einen Seite hineingeht, auf der anderen Seite wiederum herausgeht, ohne daß es zu Verstand und Herzen gekommen ist.

Daher wird man wenigstens an den Punkten eben angreifen müssen, wo gezeigt werden kann, daß ja solch ein Staatswesen wie die Schweiz wirklich etwas ganz Besonderes ist. Und es ist etwas ganz Besonderes. Denn erstens ist die Schweiz – was schon während des Krieges bemerkbar war, wenn man es nur sehen wollte – etwas wie ein Schwerpunkt der Welt. Und gerade ihr Unengagiertsein gegenüber den verschiedenen Weltverhältnissen könnte sie benützen, um ein freies Urteilen und auch ein freies Handeln gegenüber ringsherum zu bekommen. Die Welt wartet ja nur darauf, daß die Schweizer das auch in ihren Köpfen bemerken, was sie in ihrer Tasche bemerken. In ihrer Tasche bemerken sie, daß der Franken vom Auf- und Absteigen der Valuta, von der Korrumpierung der Valuta, eigentlich nicht betroffen worden ist. Daß ja die ganze Welt sich um den Schweizer Franken bewegt, das bemerken die Schweizer. Daß das auch in geistiger Beziehung der Fall ist, das bemerken die Schweizer eben nicht. Aber so, wie sie den unbeweglichen Franken, der gewissermaßen der Regulator geworden ist der Valuta der ganzen Welt, wie sie den zu würdigen verstehen, so sollten sie auch ihre durch die Weltverhältnisse wirklich unabhängige Stellung, durch die die Schweiz tatsächlich eine Art Hypo-mochlion sein könnte für die Weltverhältnisse – dies sollten die Schweizer verstehen. Daher ist es notwendig, daß man ihnen dies eben begreiflich macht.

Es ist schon fast so, wie man es in ähnlicher Art einmal hat über Österreich sagen müssen. Leute, die etwas von den Dingen verstanden in Österreich, die haben oftmals darüber nachgedacht, warum denn dieses Österreich, das ja nur zentrifugale Tendenzen hatte, bestehen blieb, warum es nicht auseinandersplitterte. Ich habe in den achtziger, neunziger Jahren nie etwas anderes gesagt als: Was in Österreich selber geschieht, das hat zunächst noch gar keine Bedeutung für das Zusammenhalten oder Auseinandersplittern, sondern nur, was ringsherum geschieht. Weil die anderen – Deutschland, Rußland, Italien, Türkei und diejenigen, die an der Türkei interessiert sind, Frankreich und auch die Schweiz selber –, weil diese ringsherum liegenden Staatsgebilde Österreich nicht zerfallen lassen, sondern mitten drinnen zusammenhalten, weil keiner dem anderen ein Stück davon gönnte! Jeder sorgte dafür, daß der andere ja nichts bekomme: dadurch blieb Österreich beisammen. Es wurde von außen zusammengehalten. Das konnte man sehr genau sehen, wenn man einen Sinn hatte für solche Verhältnisse. Und erst als dieses gegenseitige Beschauen der umliegenden Mächte im Weltkrieg durch den Nebel der Kanonen getrübt wurde, erst da zerfiel Österreich, selbstverständlich. Das Bild besagt im Grunde genommen alles.

Nun, bei der Schweiz ist es ähnlich, aber doch wiederum anders. Ringsherum sind alle möglichen Interessen, aber diese Interessen haben einen kleinen Fleck da übriggelassen, wo sie sich nicht begegnen. Und heute, wo man Weltwirtschaftsleben, Weltgeistesleben hat, da ist die Sache so, daß ja dieser kleine Fleck allerdings dadurch aufrechterhalten wird, daß er nun etwas ganz Besonderes ist. Was ist er denn eigentlich? Er ist etwas, was innerhalb seiner Grenzen durch rein politische Verhältnisse zusammengehalten wird. Das geht Ihnen aus der schweizerischen Geschichte hervor. Die schweizerische Geschichte ist eine scheinbar ganz politische, so wie das schweizerische Denken ein scheinbar ganz demokratisches ist. Aber auch mit der Politik verhält es sich so für die Schweiz, wie ich es vorhin für die Demokratie auseinandergesetzt habe: Es ist eine Politik, die eigentlich keine ist, die auf einem kleinen Fleck Erde das Geistesleben und das Wirtschaftsleben verwaltet3 aber eigentlich in Wirklichkeit gar nicht Politik treibt. Vergleichen Sie, was in der Schweiz und was anderwärts Politik ist! Es muß manchmal das eine oder andere politisch gemacht werden, weil man mit den anderen Ländern in Korrespondenz treten muß. Aber wirkliche schweizerische Politik – man müßte eben die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man eine wirkliche schweizerische Politik finden wollte. Die gibt es eigentlich nicht. Auch daraus ist eben ersichtlich, daß hier ein Landgebilde geschaffen worden ist, auf dem im politischen Sinne das Geistesleben, im politischen Sinne das Wirtschaftsleben verwaltet wird, in dem aber eigentlich gar nicht eine wirkliche Empfindung, ein wirkliches Erleben von dem Rechtsdasein vorhanden ist.

Daher handelt es sich darum, daß man hier ganz besonders tief einschärft, daß das Recht etwas ist, was man nicht definieren kann, so wie man Rot oder Blau nicht definieren kann, daß das Recht etwas ist, was in seiner Selbständigkeit erlebt werden muß, und was erlebt werden muß, wenn sich als Mensch bewußt wird jeder mündig gewordene Mensch. Es wird sich also darum handeln, zu versuchen, für schweizerische Mittel gerade dieses menschliche Empfindungs- und Gefühlsverhältnis im Rechtsleben herauszuarbeiten, daß im einzelnen Menschen die Gleichheit leben müsse, wenn Rechtsleben da sein soll. Gerade die Schweiz ist nämlich dazu berufen, und ich möchte sagen: Die Engel der ganzen Welt schauen auf die Schweiz, ob hier das Richtige geschieht –, gerade die Schweiz ist dazu berufen, da sie, ich möchte sagen, völlig jungfräulich ist in bezug auf den Rechtsstaat, nur einen geistigen, nur einen Wirtschaftsstaat hat, einen Rechtsstaat zu schaffen unter Freigebung des geistigen und des Wirtschaftslebens.

An den schweizerischen Bergen hat sich für die Herzen der Menschen eigentlich gebrochen das römische Recht, das in ganz anderer Weise in Frankreich und in Deutschland und anderen europäischen Ländern eingezogen ist. Es ist nur in das Äußerliche hineingegangen, nicht aber in das Empfinden der Menschen. Es ist also jungfräulicher Rechtsboden, auf dem alles geschaffen werden kann. Wenn nur die Menschen zur wirklichen Besinnung kommen, was es für ein unendliches Glück ist, hier zwischen den Bergen zu leben und einen eigenen Willen haben zu können, unabhängig von der ganzen Welt, die sich um dieses kleine Ländchen dreht. Hier können, gerade wegen dieser Weltverhältnisse, die Rechtselemente bloß aus dem Menschen herausgearbeitet werden.

Also ich deute Ihnen an, wie man die besondere Lokalität, die besondere örtlichkeit in das Vorbereiten hineinbringen muß für solch einen Vortrag, wie man tatsächlich mit sich selber völlig eins sein muß, was das Wesen des Schweizertums ist. Ich kann es natürlich hier nur skizzieren; aber jeder, der in der Schweiz reden will, müßte eigentlich sich bemühen, ganz zu verstehen, welch besonderer Art dieses Schwei-zertum ist.

Nicht wahr, Sie können sagen: Wir sind ja Schweizer – so wie die Engländer sagen können: Wir sind ja Engländer –, und du willst uns jetzt sagen, wie der Schweizer das Schweizertum kennenlernen soll, und was der Engländer alles nicht hat von solcher Empfindung und so weiter. – Gewiß, das kann man sagen. Aber diejenigen, die heute zu den Gebildeten gehören, haben ja nirgends eine wirklich erlebte Bildung, nirgends eine Bildung, die heraus ist aus dem Unmittelbaren des Erlebens. Daher muß gerade gegenüber dem Rechte auch sehr hingewiesen werden auf dieses unmittelbare Erleben.

Da kommen wir zu der Betrachtung, wie die Menschen allmählich unter der neueren Zivilisation in gegenseitige Verhältnisse, in soziale Verhältnisse hineingekommen sind auf dem Gebiete, wo sich eigentlich das Recht entwickeln sollte. Von Mensch zu Mensch sollte sich das Recht entwickeln. Und alles also, alles Parlamentarisieren ist eigentlich im Grunde genommen nur ein Surrogat für das, was sich von Mensch zu Mensch abspielen müßte in einem wirklich richtigen Rechtsgebiete.

Da hat man dann Gelegenheit, wenn man nun nachdenkt über das Rechtsgebiet, wiederum einzugehen – aber jetzt in einer realeren Weise einzugehen – auf dasjenige, was die Begriffe des Proletariats sind und die Empfindungen der Bourgeoisie. Man kann aber jetzt in einer realeren Weise dasjenige, was das Proletariat an Begriffen entwickelt hat, herüberführen in das Empfinden der Bourgeoisie. Ich sage: Begriffe des Proletariats, Empfindungen der Bourgeoisie. Die Erklärung dafür finden Sie in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage».

Das Proletariat hat aus den vier Begriffen, die ich gestern hier entwickelt habe, durchaus eben das Gefühl des Klassenbewußtseins entwickelt; es muß erobern, was im Besitze der Bourgeoisie ist, den Staat. Inwieweit der Staat nun ein wirklicher Rechtsstaat ist oder nicht, das ist natürlich dem Proletariat auch nicht klargeworden. Aber was als Rechtsstaat sich entwickelt hat, davon ist die Schweiz am allerwenigsten berührt, daher sie am leichtesten ohne Vorurteile einen wirklichen Rechtsstaat begreifen könnte. Was sich als ein wirklicher Rechtsstaat entwickelt hat, das lebt ja nur zwischen den Äußerungen des eigentlichen Seelenlebens der Menschen fast in der ganzen Welt heute, nur eben nicht in der Schweiz! Überall sonst in der Welt lebt eigentlich dasjenige, was Rechtsstaat ist, ein, ich möchte sagen, Unter-der-Hand-Dasein, währenddem dasjenige, was wirklich von Mensch zu Mensch erlebt wird, auf etwas ganz anderem beruht, und zwar auf etwas ganz durch und durch Bürgerlichem. Was der Mensch im öffentlichen Leben eigentlich sucht, was er hineinträgt in das ganze öffentliche Leben, wodurch ihm eine Verdunkelung des eigentlichen Rechtslebens geschieht, das kann man nur erfassen, wenn man ein wenig die konkreten Beziehungen ins Auge faßt.

Sehen Sie, das Geistesleben ist allmählich aufgesogen worden vom Staatsleben. Das Geistesleben aber ist, wenn man ihm gegenübersteht als einem Elemente, das auf sich selbst gebaut ist, ein sehr strenges Element, ein Element, demgegenüber man fortwährend seine Freiheit bewahren muß, das deshalb nicht anders als auch in der Freiheit organisiert werden darf. Lassen Sie einmal eine Generation ihr Geistesleben freier entfalten und dann dieses Geistesleben organisieren, wie sie es will: es ist die reinste Sklaverei für die nächstfolgende Generation. Das Geistesleben muß wirklich, nicht etwa bloß der Theorie nach, sondern dem Leben nach, frei sein. Die Menschen, die darinnenstehen, müssen die Freiheit erleben. Das Geistesleben wird zur großen Tyrannei, wenn es überhaupt auf der Erde sich ausbreitet, denn ohne daß eine Organisation eintritt, kann es sich nicht ausbreiten, und wenn eine Organisation eintritt, wird sogleich die Organisation zur Tyrannin. Daher muß fortwährend in Freiheit, in lebendiger Freiheit gekämpft werden gegen die Tyrannis, zu der das Geistesleben selber neigt.

Dieses Geistesleben ist nun im Laufe der neueren Jahrhunderte aufgesogen worden vom Staatsleben. Das heißt: Wenn man das Staatsleben der Toga entkleidet, die es noch immer sehr stark anhat in der Erinnerung an die alte Römerzeit, obwohl schon sogar die Richter anfangen, den Talar abzulegen, aber im ganzen kann man doch sagen, daß das Staatsleben die Toga noch anhat; aber wenn man absieht von dieser Toga, wenn man auf das sieht, was darunter ist: dann ist es eigentlich überall das verzwangte Geistesleben, das im Staate und im sozialen Leben des Staates vorhanden ist. Es ist das verzwangte Geistesleben! Verzwangt, aber nicht wissend, daß es verzwangt ist, daher nicht nach Freiheit strebend, aber immerhin doch gegen die Verzwangt-heit fortwährend ankämpfend. Und vieles in der neuesten Zeit ist gerade aus diesem Ankämpfen gegen die Verzwangtheit des Geisteslebens hervorgegangen. Unser ganzes öffentliches Geistesleben steht eigentlich unter dem Zeichen dieser Verzwangtheit des Geisteslebens, und wir können nicht gesunde Verhältnisse gewinnen, wenn wir uns nicht einen Sinn aneignen für die Beobachtung dieser Verzwangtheit des Geisteslebens. Man muß ein Gefühl dafür haben, wie einem diese Verzwangtheit des Geisteslebens entgegenkommt im Alltag.

Ich wurde einmal von einer Anzahl Berliner Damen, die in einem Institute von mir Vorträge angehört hatten, dann eingeladen, einen Vortrag zu halten bei einer der Damen in ihrem Privatappartement, und die ganze Veranstaltung war eigentlich dazu da, daß die Damen entgegenarbeiten wollten einer gewissen dazumal recht gutmütigen Stimmung bei ihren Männern. Nicht wahr, diese Damen kamen so etwa um zwölf Uhr in das Unterrichtsinstitut, wo ich die Vorträge hielt. Und die Männer, wenn wiederum solch ein Tag kam – ich glaube, es war einmal in der Woche –, sagten dann: Na ja, da geht Ihr halt in eure verrückte Anstalt heute wieder hin; da wird die Suppe wieder schlecht sein, oder es wird etwas anderes nicht in Ordnung sein! – Und da wollten denn diese Damen, daß ich einen Vortrag hielte über Goethes «Faust» – das wurde als Thema ausgesucht –, und dazu wurden auch die Männer eingeladen. Nun hielt ich eben einen Vortrag über Goethes «Faust» vor den Damen und Herren. Ja, die Herren waren nachher etwas verdutzt und sie sagten: «Ja, aber Goethes ‹Faust› ist halt eine Wissenschaft; Kunst ist ja Goethes ‹Faust› nicht. Kunst, das ist Blumenthal» – ich zitiere wörtlich –, «da braucht man sich nicht anzustrengen. Wenn man sich schon im wirtschaftlichen Beruf so anstrengt, will man sich doch im Leben nicht auch noch anstrengen!» Sehen Sie, was eingezogen ist als Ersatz des Enthusiasmus für die Freiheit im Geistesieben, das tritt uns im staatlichen Leben entgegen als bloßes leichtes Unterhaltungsbedürfnis.

Ich habe einmal auf dem Lande gesehen, wo man so etwas noch gut sehen konnte, wie diese alten herumziehenden Schauspieler, die immer, in Deutschland nannte man es den Dummen August, also den Bajazzo bei sich hatten, wie diese manchmal ganz feine Sachen darstellten. Da sah ich, wie der Clown, der nun seine Clownkunststücke eine ganze Zeit hindurch gemacht und die Leute unterhalten hatte, weil er nun daranging, etwas für ihn sehr Ernstes darzustellen, das Clownkostüm abwarf und nun in schwarzen Beinkleidern und schwarzem Frack dastand. Mir dreht sich dieses Bild immer um: Ich sehe dann zuerst den Mann in schwarzen Beinkleidern und schwarzem Frack, und hinterher sehe ich den Mann mit dem Clownkostüm. Mir kommt es so vor wie schwarzes Beinkleid und Frack, wenn ich irgendwo in einem Schaufenster ein Buch von Einstein über die Relativitätstheorie sehe; und dann habe ich den Clown vor mir, wenn ich daneben ein Buch von Moszkowski über die Relativitätstheorie vor mir habe. Denn tatsächlich, im äußeren Leben ist ja manches Maja: Aber man könnte sich gar nicht denken, daß innerlich die ganze Denkerpedanterie anders auftreten könnte als in schwarzem Beinkleid und in wohlgeschnittenem Frack, will sagen, in der Relativitätstheorie. Und wiederum: Es ist unangenehm, sich so strengen Gedankengängen, so konsequenten Gedankengängen zu fügen, die schon wirklich so geschnitten sind wie ein gutsitzender Frack; das muß den Leuten auch anders entgegentreten. Da macht sich denn der als Philosophenclown feuilletonistisch ganz besonders begabte Alexander Moszkowski daran und schreibt ein dickes Buch. Aus dem lernen nun alle Leute in Feuilletonform, im Clownkostüm, was im Frack geboren worden ist! Sehen Sie, man kann gar nicht anders heute, als die Dinge herüber zu übersetzen in dasjenige, wobei man sich nicht anzustrengen braucht, wobei man auch keinen großen Enthusiasmus zu entfalten braucht.

Gegen diese allgemeine Stimmung muß nämlich empfindungsgemäß angekämpft werden, wenn man über Rechtsbegriffe sprechen will, denn da tritt der Mensch mit seinem ganzen inneren Werte als ein Gleicher den anderen Menschen gegenüber. Und dasjenige, was die Rechtsbegriffe nicht heraufkommen läßt, das ist das, ja, ich möchte sagen, Alexander-Moszkowskimäßige! Man muß überall die Dinge beim Konkreten aufsuchen.

Ich sage natürlich durchaus nicht, daß man nun nötig hat, wenn man über Rechtsbegriffe spricht, von Frack und Clownkostüm zu sprechen, aber ich möchte zeigen, wie man die Begriffe für diese Dinge elastisch bekommen muß, wie man wirklich auf das eine hinweisen muß, wenn man auf das andere hinweist; auch wie man disponieren können muß, zuerst in sich selber, um dann die nötige Geläufigkeit zu haben, vor den Menschen zu sprechen.

Und auch noch aus einem anderen Grunde muß der heutige Redner so etwas wissen. Er ist ja zumeist dazu verurteilt, wenn er für etwas Zukunftswürdiges zu sprechen hat, abends zu sprechen. Das heißt, er hat diejenige Zeit auszufüllen, in der eigentlich die Leute im Konzertsaal oder im Theater sein möchten. Er muß sich also durchaus klar sein darüber, daß er zu einem Publikum spricht, das besser an seinem Platze wäre, der Zeitverfassung nach, wenn es im Konzertsaal oder im Theater wäre, oder noch woanders, aber nicht eigentlich an seinem Platz ist da unten, wo es zuhören soll, wenn oben ein Redner von zukunftswürdigen Dingen spricht. Man muß sich klar sein, was man eigentlich tut, bis in die Einzelheiten hinein.

Was tut man denn eigentlich, wenn man vor einem solchen Publikum spricht, vor dem zu sprechen man heute zumeist verurteilt ist? Man verdirbt ja diesem Publikum eigentlich in ganz wörtlichem Sinne den Magen! Eine ernste Rede hat nämlich die Eigentümlichkeit, daß sie dem Pepsin feindlich ist, daß sie das Pepsin, den Magensaft nicht zur Wirksamkeit kommen läßt. Eine ernste Rede macht den Magen sauer. Und nur wenn man selber in der ganzen Stimmung ist, eine ernste Rede so vorzubringen, daß man, weigstens innerlich, sie mit dem nötigen Humor vorbringt, dann hilft man dem Magensaft wieder. Man muß mit einer gewissen inneren Leichtigkeit eine Rede vorbringen, mit einer gewissen Modulation, mit einer gewissen Begeisterung, dann hilft man dem Magensaft. Und dann gleicht man das wiederum aus, was man dem Magen zufügt in der Zeit, in der wir heute zumeist zu reden haben. Daher ist es wirklich eher als für die Dreigliederung des sozialen Organismus für die Magenspezialisten gearbeitet, wenn Menschen in aller Schwere, mit allem inneren Herauspressen, in pedantischer Form über die Dreigliederung zu den Menschen sprechen. Das muß mit Leichtigkeit, mit Selbstverständlichkeit geschehen, sonst arbeitet man nicht für die Dreigliederung, sondern für die Magenspezialisten. Es gibt nur noch keine Statistik darüber, wie viele Leute, nachdem sie pedantische Vorträge angehört haben, zu den Magenspezialisten gehen müssen! Wenn man einmal eine Statistik über diese Dinge hätte, würde man nämlich erstaunt sein darüber, welcher Prozentsatz in den Patientenkreisen der Magenspezialisten eifrige Vortragszuhörer der heutigen Zeit abgeben.

Ich muß schon auf diese Dinge auch aufmerksam machen, denn es naht sich die Zeit, wo man kennen muß, wie eigentlich der Mensch lebt: wie Ernst auf seinen Magen, wie Humor auf seinen Magensaft wirkt, wie zum Beispiel, sagen wir, der Wein eine Art Zyniker ist, der die ganze menschliche Organisation nicht ernst nimmt, sondern mit ihr spielt. Und so könnte man, wenn man nicht mit den Wischiwaschibegriffen der heutigen Wissenschaft, sondern mit menschlichen Begriffen an die menschliche Organisation heranginge, durchaus einsehen, was nun auch für eine organische Wirkung, fast chemische Wirkung, jedes Wort und jeder Wortzusammenhang beim Menschen hervorruft.

Solche Dinge zu wissen, erleichtert einem auch das Reden. Während man sonst eine Mauer vor sich hat gegenüber dem Publikum, hört diese Mauer auf zu sein, wenn man gewissermaßen bei einer pedantischen Rede immer durchsieht, wie der Magensaft träufelt und endlich sauer wird im Magen, die Magenwände angreift. Man hat schon zuweilen Gelegenheit, das zu sehen. In Hörsälen der Universitäten ja weniger; da helfen sich die Studenten dadurch, daß sie nicht zuhören.

Sie sehen aber daraus, was ich so sage, wieviel beim Reden von der Stimmung abhängt, wieviel mehr Bedeutung das Vorbereiten der Stimmung, das In-die-Hand-Nehmen der Stimmung hat, als das wortwörtliche Vorbereiten. Wer oftmals sich für die Stimmung vorbereitet hat, der hat dann gar nicht mehr nötig, sich für das Wortwörtliche so vorzubereiten, daß er sich im entsprechenden Moment durch das zu gute wortwörtliche Vorbereiten eben zum Verderber des Magensaftes gerade macht.

Sehen Sie, zu einem – wenn ich mich jetzt so ausdrücken darf – richtig geschulten Redner gehört verschiedenes; und ich möchte es gerade an dieser Stelle vorbringen, weil das Auseinandersetzen der Rechtsbegriffe gerade vieles fordert, was man nach dieser Richtung charakterisieren muß. Ich möchte es gerade jetzt vorbringen, bevor ich dann wohl morgen zu der Hineinverwebung der Wirtschaftselemente in das Reden sprechen möchte.

Ein Anthroposoph brachte einmal in den Architektenhaussaal in Berlin den Ihnen ja vielleicht auch schon bekannten Max Dessoir mit an einem Abend, wo ich dort einen Vortrag zu halten hatte. Dieser damalige Freund des Max Dessoir sagte hinterher: Ach, der Dessoir ging doch nicht mit! – Ich fragte ihn, wie ihm der Vortrag gefallen habe; da sagte er: Ja, wissen Sie, ich bin selbst ein Redner; und derjenige, der selbst ein Redner ist, der kann nicht richtig zuhören, der hat kein Urteil über das, was der andere redet! – Nun, ich hatte nicht nötig, mir über Dessoir ein Urteil zu bilden nach dieser Aussage, denn dazu hatte ich andere Urteilsbildungsgelegenheiten, würde mir auch kein Urteil gebildet haben nach dieser Aussage: denn ich konnte gar nicht wissen, ob es wirklich wahr ist, oder ob der Dessoir, wie sonst, auch diesmal gelogen hat. Nun aber, nehmen wir an, es wäre wahr gewesen: Wofür wäre das ein Beweis? Dafür, daß jedenfalls derjenige, der solche Ansicht hat, niemals ein richtiger Redner werden kann. Denn niemals kann derjenige ein richtiger Redner werden, der gerne redet, und der sich selbst gerne hört, und der auf sein eigenes Reden besonders viel gibt. Ein richtiger Redner muß eigentlich immer eine gewisse Überwindung durchmachen, wenn er reden soll, und er muß diese Überwindung deutlich fühlen. Er muß vor allen Dingen selbst den schlechtesten fremden Redner lieber hören wollen, als daß er selber sprechen will.

Ich weiß sehr genau, was ich mit dieser Sache sage, und weiß sehr genau, wie schwer es manchem von Ihnen ist, das gerade mir zu glauben, aber es ist so. Ich gebe zwar zu, daß es andere Vergnügungen gibt in der Welt, als schlechten Rednern zuzuhören. Aber es darf jedenfalls zu diesen anderen größeren Vergnügungen nicht das gehören, selber zu sprechen. Man muß sogar einen gewissen Drang haben, andere zu hören. Man muß gerne anderen zuhören, denn durch das Zuhören wird man eigentlich ein Redner, nicht durch die Liebe zum eigenen Reden. Durch das eigene Reden bekommt man eine gewisse Geläufigkeit; das muß aber instinktiv verlaufen. Was einen zum Redner macht, das ist eigentlich das Zuhören, das Entwickeln eines Ohres für die besonderen Eigentümlichkeiten der anderen Redner, und selbst wenn sie schlechte Redner sind. Daher werde ich jedem, der mich fragt, wie er sich am besten vorbereite, nach einer gewissen Richtung hin ein guter Redner zu werden, antworten: Er höre, aber insbesondere er lese – ich habe den Unterschied zwischen Hören und Lesen auseinandergesetzt – er höre und lese – man kann das ja auch; denn der Unfug besteht einmal, daß die Reden gedruckt werden – die Reden von anderen! Man wird nur auf diese Art jenes starke Gefühl bekommen der Abneigung gegen das eigene Reden. Und diese Abneigung gegen das eigene Reden ist es eigentlich, die es einem ermöglicht, eben entsprechend wirklich zu reden. Das ist außerordentlich wichtig. Und bei den Menschen, die es doch nicht zustande kriegen das eigene Reden mit Antipathie zu betrachten, bei denen ist es gut, wenn sie wenigstens das Lampenfieber sich bewahren, denn ohne Lampenfieber und mit Sympathie für das eigene Reden sich hinstellen und reden, das ist eigentlich etwas, das man unterlassen sollte, denn es wirkt unter allen Umständen nicht gut in der Welt. Es wirkt zur Sklerotisierung der Rede, zur Verknöcherung, zur Verkapselung der Rede und gehört dann eben zu dem, was den Leuten die Predigt verdirbt.

Sehen Sie, ich würde Ihnen wahrhaftig nicht im Sinne der Aufgabe dieses Kurses über das Reden sprechen, wenn ich aus irgendeiner alten Rhetorik oder aus nachgebildeten alten rhetorischen Reden heraus Ihnen hier Redegesetze aufzählen würde, sondern ich will Ihnen aus voller Erfahrung heraus ans Herz legen, was man eigentlich immer im Herzen haben soll, wenn man durch Reden auf seine Mitmenschen wirken will.

Gewiß, einigermaßen ändern sich die Dinge, wenn man zur Wechselrede gezwungen ist, wenn also, ich möchte sagen, ein gewisses Rechtsverhältnis auftritt zwischen Mensch und Mensch in der Diskussion. Aber in der Diskussion, an der man gerade das Rechtsverhältnis am schönsten lernen könnte, macht sich heute fast gar nicht dieses Hin-einprojizieren der allgemeinen Rechtsbegriffe in das Verhältnis, das zwischen Mensch und Mensch in der Diskussion, im Wortverhältnis, im Satzverhältnis besteht, geltend. Da handelt es sich wirklich darum, daß man dann bei der Diskussion nicht verliebt ist in seine eigene Art zu denken, in seine Art zu empfinden, sondern daß man in der Diskussion eigentlich antipathisch empfindet, was man selber zu etwas sagen möchte und das man heraufholt. Dann kann man das nämlich, wenn man seine eigene Meinung, auch seinen eigenen Arger oder die eigene Aufgeregtheit zurückzudämmen versteht und hinüberkriechen kann in den anderen. So wird das fruchtbar auch in der Debatte, wo etwas zurückgewiesen werden muß. Man kann natürlich nicht dasselbe sagen, was der andere sagt, aber man kann von dem anderen das nehmen, was man gerade zu einer wirksamen Debatte braucht.

Ein ganz eklatantes Beispiel ist das Folgende. Es ist erzählt in der letzten Nummer der «Dreigliederung»; ich habe es vor mehr als zwanzig Jahren erlebt. Der Abgeordnete Rickert hielt im deutschen Reichstag eine Rede, in der er Bismarck vorwarf, daß er die Richtung seiner Politik ändere. Er wies darauf hin, wie Bismarck eine Zeitlang mit den Liberalen gegangen ist, sich nachher nach den Konservativen gewendet hat, und hielt eine sehr wirksame Rede, die er zusammenfaßte in das Bild, daß die Bismarcksche Politik darauf hinausliefe, den Mantel nach dem Winde zu drehen. Nun, Sie können sich denken, wie das in der Empfindung eines Auditoriums, noch dazu einer Schwatzanstalt – nun, der deutsche Ausdruck ist nicht gut, wenn man ihn braucht, aber für Parlament ist die richtige deutsche Übersetzung schon Schwatzanstalt –, innerlich, empfindungsgemäß wirkt, wenn solch ein Bild gebraucht wird. Bismarck aber stellte sich hin und hielt nun dem Abgeordneten Rickert die Dinge entgegen – zunächst mit einer gewissen Überlegenheit –, die er zu sagen hatte; und dann kroch er in den Abgeordneten Rickert Linein3 wie er das in ähnlichen Fällen immer tat, und sagte: Der Abgeordnete Rickert hat mir vorgeworfen, daß ich den Mantel nach dem Winde drehe. Aber Politik treiben ist so etwas, wie auf der See fahren. Ich möchte wissen, wie man eigentlich richtig steuern sollte, wenn man sich nicht nach dem Winde drehen will! Ein richtiger Seefahrer muß sich, wie ein richtiger Politiker, beim Steuern selbstverständlich nach dem Winde richten, wenn er nicht etwa selbst Wind machen will!

Sie sehen: Das Bild ist aufgegriffen, so gewendet, daß es nun tatsächlich den Pfeil auf den Schützen zurückschlägt. Es handelt sich in der Debatte darum, die Dinge aufzunehmen, aus dem Redner selber heraus die Dinge zu holen. Wenn es sich um ein leichteres Bild handelt, ist ja die Sache begreiflich. Aber man wird das auch ganz im Seriösen tun können: aufsuchen bei dem Gegner, was aus dem Gegner heraus selber die Sache zerfasert! In der Regel wird es nicht viel nützen, wenn man seine eigenen Gründe den Gründen des Gegners einfach entgegensetzt.

Bei der Debatte sollte man eigentlich in folgender Stimmung sein können: Man sollte in dem Augenblick, wo die Debatte losgehen soll, eigentlich alles, was man bisher gewußt hat, ausschalten können, das alles ins Unbewußte hinunterdrängen, und eigentlich nur wissen, was der Redner, dem man zu erwidern hat, eben gesagt hat, und dann redlich sein Zurechtrückungstalent über das, was der Redner gesagt hat, walten lassen. Das Zurechtrückungstalent walten lassen! In der Debatte handelt es sich darum, unmittelbar aufzunehmen, was der Redner sagt, und nicht einfach das, was man schon vor längerer Zeit gewußt hat, eben einfach entgegenzustellen. Wenn man das, was man schon vor längerer Zeit gewußt hat, einfach entgegenstellt, wie es bei den meisten Debatten geht, so geht die Debatte eigentlich wirklich ergebnislos aus, tatsächlich ergebnislos. Man kann ja eigentlich nie jemanden in einer Diskussion widerlegen. Man muß sich dessen nur bewußt sein, daß man nie jemanden in einer Debatte widerlegen kann, sondern man kann nur zeigen, daß ein Redner entweder sich selbst oder der Wirklichkeit widerspricht. Man kann nur eingehen auf das, was er gesagt hat. Und das wird gerade, wenn es als Grundsatz entwickelt wird, für Debatten, für Diskussionen von einer außerordentlichen Wichtigkeit sein. Wenn einer in der Debatte nur das sagen will, was er schon gewußt hat, dann wird es sicher gar keine Bedeutung haben, daß er es nach dem Redner vorbringt.

Mir trat das einmal ganz besonders instruktiv, möchte ich sagen, vor Augen. Ich wurde in Holland auf meiner letzten Reise eingeladen, auch in der Philosophischen Gesellschaft der Amsterdamer Universität einen Vortrag zu halten über Anthroposophie. Da war schon der Vorsitzende selbstverständlich anderer Meinung als ich. Es war gar kein Zweifel, daß er, wenn er in die Debatte eingriff, etwas ganz anderes sagen werde als ich. Aber es war ebenso klar, daß schließlich das, was er sagte, nichts ausmachte in bezug auf meine Rede, und daß meine Rede auch keinen besonderen Einfluß haben würde auf dasjenige, was er sagen würde, aus dem, was er ja ohnedies wußte. Daher fand ich, daß er es ganz gescheit gemacht hat: Er brachte, was er zunächst vorzubringen hatte, nicht etwa hinterher in der Debatte, sondern schon vorher vor! Er hätte auch das, was er nachher in der Debatte noch angefügt hat an seine vorausgehenden Worte, schon am Anfang auch gleich vorher vorbringen können, es würde an der Sache gar nichts geändert haben.

Über solche Dinge muß man sich nur keinen Illusionen hingeben. Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß gerade ein Redner sich recht, recht stark in menschliche Verhältnisse hineinfindet. Aber über menschliche Verhältnisse darf man sich, wenn die Dinge wirken sollen, keinen Illusionen hingeben. Vor allen Dingen – das möchte ich Ihnen heute noch sagen, weil das eine gewisse Grundlage für die nächsten Vorträge abgeben wird –, vor allen Dingen soll man sich keiner Illusion darüber hingeben, daß Reden doch wirken.

Ich muß immer innerlich furchtbar in eine humoristische Stimmung kommen, wenn gutmeinende Zeitgenossen immer wieder und wieder sagen: Auf Worte kommt es nicht an, auf Taten kommt es an! – Ich habe an den ungeeignetsten Stellen, sowohl in Zwiegesprächen wie auch von verschiedenen Podien herab, immer wieder deklamieren hören: Auf Worte kommt es nicht an; auf Taten kommt es an! – Bei dem, was in der Welt an Taten geschieht, kommt alles auf die Worte an! Es geschehen nämlich für den, der die Sache durchschaut, gar keine Taten, die nicht vorher durch die Worte von irgend jemandem vorbereitet sind.

Aber Sie werden verstehen, daß die Vorbereitung etwas recht Subtiles ist. Denn, wenn es wahr ist, und es ist wahr, daß man eigentlich dadurch, daß man pedantisch theoretisch, prinzipiell marxistisch redet, den Leuten den Magensaft verdirbt, wobei der Magensaft den übrigen Organismus infiziert, dann können Sie sich denken, wie die Taten draußen, die sehr stark vom Magensaft abhängen, wie er sich dann in den übrigen Organismus ergießt, wenn er zerstreut wird – wie die Taten draußen Folgen solcher schlechten Reden sind. Und wie auf der anderen Seite wiederum, wenn die Leute nur als Spaßmacher auftreten, fortwährend Magensaft produziert wird, der dann eigentlich als Essig wirkt, und der Essig ist ein furchtbarer Hypochonder. Aber die Leute werden weiter unterhalten, indem das, was heute in die Öffentlichkeit fließt, ein fortwährendes Getriebe von Spaßmacherei ist. Die Spaß-macherei von gestern ist noch gar nicht verdaut, wenn die Spaßmacherei von heute auftritt. Da verschlägt sich der Magensaft von gestern und wird etwas Essighaftes. Der Mensch wird ja heute schon wiederum unterhalten. Er kann ganz lustig sein. Aber so, wie er sich in das öffentliche Leben hineinstellt, so ist es eigentlich der hypochondrische Essig, der da wirkt. Und diesen hypochondrischen Essig, den kann man dann finden!

Ja, in den Wirtshäusern sind es die marxistischen Redner, die den Leuten den Magen verderben, und wenn die Leute dann den «Vorwärts» lesen, so ist dies dasjenige, woran der verdorbene Magen wieder zurechtgerückt werden muß. Das ist schon ein ganz realer Prozeß.

Man muß wissen, wie sich in die Welt der Taten die Welt der Reden hineinstellt. Der unwahrste Ausspruch – weil aus einer falschen Sentimentalität, und alles, was aus einer falschen Sentimentalität kommt, ist nämlich unwahr –, der unwahrste Ausspruch gegenüber dem Reden ist der: «Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich Taten sehn!» Das kann ganz gewiß stehen an einer Stelle eines Dramas, und dort, wo es steht, steht es schon zu Recht. Aber wenn es da herausgerissen und als ein allgemeines Diktum hingestellt wird, dann mag es richtig sein, aber gut ist es ganz sicher nicht. Und wir sollen lernen, nicht etwa bloß schon, nicht etwa bloß richtig, sondern auch gut zu reden, sonst bringen wir die Menschen in den Abgrund hinein, können jedenfalls nichts Zukunftswürdiges mit den Leuten besprechen.

Also morgen um drei Uhr.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
Das Rudolf Steiner Archiv wird unterhalten von:
Der e.Librarian: elibrarian@elib.com
[Spacing]