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Vom Wesen des wirkenden Wortes

Vom Wesen des wirkenden Wortes: Vierter Vortrag

Online seit: 28th February, 2016

VIERTER VORTRAG

Stuttgart, 14. Juli 1923

Ja, meine lieben Freunde, ich möchte zur Ergänzung des Gestrigen nur noch etwas sagen, was ich eigentlich schon gestern habe vorbringen wollen, aber die Zeit war zu kurz. Es handelt sich darum, gerade bei dieser Gelegenheit einmal hinzuweisen auf das Verhältnis, das wir allmählich zur Bibel gewinnen müssen. Die Bibel, namentlich das Neue Testament, ist ja ein Dokument, das wir wieder lernen müssen als eine Art übersinnlicher Offenbarung aufzufassen, nicht im dogmatischen Sinne, sondern indem man sich zu der Erkenntnis durchringt, daß die religiösen Dokumente, wenn sie aus der Zeit bis etwa in das vierte nachchristliche Jahrhundert hinein stammen, nicht allein menschlichen Ursprungs sind, sondern durchaus hineinergossen wurden in ein Menschheitsbewußtsein, das von sich aus noch nicht hätte die betreffenden Erkenntnisse haben können. Ich möchte sagen, Sie brauchen die Sache nur bis zu diesem Punkte zu nehmen, daß die Menschheit eben ausgeht von einer Art atavistischen, instinktiven Bewußtseins, in das Bilder der mannigfaltigsten Art über die höchsten geistigen Dinge und Vorgänge hineinfallen konnten; aber das, was diese Bilder trägt, ist nicht etwas, was aus dem menschlichen Bewußtsein selbst konzipiert, gestaltet sein konnte.

Und so ist es gekommen, daß gerade in der Zeit, als der Intellektualismus maßgebend wurde, die religiösen Dokumente in vieler Beziehung ja mißverstanden worden sind. Es wurde an sie herangegangen mit dem intellektualistischen Denken, und es war im Grunde genommen ganz natürlich, daß bei allem guten Willen da zunächst Mißverständnisse eintreten mußten. So ist es gekommen, daß die gegenwärtig vorliegenden Texte, wenn sie in den heute üblichen Landessprachen geschrieben sind, ja nicht die ursprünglichen Dokumente wiedergeben, weil die Landessprachen aus einer Intellektualität heraus gearbeitet haben, die dem ganzen ursprünglichen Elemente, das in den religiösen Dokumenten enthalten war, etwas Fremdes ist.

Wenn zurückgegangen wird auf die Grundsprache der religiösen Dokumente, insbesondere auf das Neue Testament, so liegt auch das vor, daß diese Grundsprache mit der heutigen Seelenverfassung nicht mehr in der rechten Weise empfunden wird. Und so ist wirklich eine Art Unwahrhaftigkeitselement in die Auffassung der religiösen Urkunden, auch des Neuen Testamentes, hineingekommen. Man darf gar nicht hoffen, daß ein Fortsetzen von Übersetzungen in dem Sinne, wie sie bisher gepflogen worden sind, zu etwas Besserem führen kann, sondern es muß sich darum handeln, erst die Vorbedingungen zu finden, um in einer Art Wiederauferweckung der alten Geistigkeit den Sinn der religiösen Dokumente wirklich zu erfassen. Das können wir, das kann im Grunde jeder, der sich die nötige Mühe gibt, die heute erforschbaren geisteswissenschaftlichen Tatsachen, sagen wir zunächst auf das Neue Testament anzuwenden.

Davon möchte ich nur eine kleine Probe geben, und zwar von einer der wichtigsten Stellen des Neuen Testamentes. Ich möchte vorher nur betonen, daß ja die Darstellungen des Neuen Testamentes sich beziehen auf eine historische Tatsache, daß die Darstellungen des Neuen Testamentes sich nur verstehen lassen, wenn man sich darüber klar ist, daß die Tatsache des Mysteriums von Golgatha sich ganz hineinstellte in die übrige geschichtliche Entwickelung der Menschheit, aber als eine solche Tatsache, die herausfällt aus den übrigen Gesetzen der Menschheit. Das Mysterium von Golgatha ist eine ganz singuläre Tatsache, die nicht aus den historischen Untergründen heraus zu verstehen gesucht werden soll, sondern die an sich und für sich begriffen werden soll. Dann, wenn man diese, ich möchte sagen überhistorische Tatsache, diese kosmische Tatsache nun in Zusammenhang bringt mit demjenigen, was man geisteswissenschaftlich über die Entwickelung der Menschheit kennenlernen kann, dann beginnt man eigentlich erst den tiefen Sinn der Worte, der Satzprägung des Neuen Testamentes zu erfassen. Wenn man das nicht tut, kommt ein zu starker Ton des Trivialen in das Neue Testament hinein. Wir brauchen uns nur an mancherlei zu erinnern, was aus dem Bestreben hervorgegangen ist, die Bibel möglichst so aufzufassen, daß man überhaupt zu ihrer Erfassung keiner Vorbereitung bedarf und sagt, man fasse sie einfältig, primitiv auf. Man braucht sich nur dieser Tatsache zu erinnern, um zu ermessen, wie stark die Abneigung war, das Neue Testament in seiner vollen Tiefe zu erkennen.

Bedenken Sie, meine lieben Freunde, daß das Mysterium von Golgatha, im richtigen Sinne genommen, als ein für die Erde bestimmter Gnadenakt aus höheren geistigen Welten sich vollzogen hat in einer bestimmten Zeit, in der ein gewisser Teil der Menschheit übergegangen ist von einem vorher entwickelten Bewußtseinszustand in einen nachherigen. Die Zeit des Mysteriums von Golgatha fällt ganz damit zusammen, daß die Menschheit als sich fortentwickelnde Wesenschaft aufsteigt zu dem Erleben der inneren Ich-Tatsache. Das Ich kommt allmählich in der Menschheit herauf in der Zeit, in die das Mysterium von Golgatha fällt. Nicht dürfen wir einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Tatsachen suchen, sei es einen kausalen oder einen sonstigen Zusammenhang. Wir können nur einen solchen Zusammenhang sehen, wie es etwa derjenige ist, wenn irgend jemand sieht, wie etwas sich abspielt, und dazu etwas aus völlig freiem Willen tut. Das Mysterium von Golgatha kommt als eine Tatsache kosmischer Freiheit zu dem hinzu, was sich innerhalb der Menschheitsentwickelung so ergeben hat, daß das Ichbewußtsein auftaucht. Nun, Sie kennen ja die übrigen wichtigen Tatsachen, die mit diesem Heraufkommen des Ichbewußtseins verknüpft sind. Aber nun kommt etwas Besonderes hinzu. Es ist notwendig zu wissen, daß diesem Sicheingliedern des Ichbewußtseins in die sich entwickelnde Menschheit vorangegangen ist ein Zustand, wo der Mensch bei jeder Gelegenheit seines Erlebens im Bewußtsein heraufgeschaut hat zu den Göttern, oder, wo Monotheismus war, zu demjenigen Gott, der uns dann geblieben ist in der Vorstellung des Vatergottes. Solange wir in der Vorstellung des Vatergottes stehen, ist diese Vorstellung damit zu erfüllen, daß wir sagen: Wenn der Mensch auf der Erde sich als Ich-Wesenheit bewußt ist, so fühlt er das, was in seinem Ich liegt, als das Hereinwirken des Vatergottes in seine Seele. Der Vatergott träufelt gewissermaßen einen Tropfen seines eigenen Wesens, der aber im Zusammenhang bleibt mit dem ganzen Meere der Geistigkeit des Vatergottes, in die Wesenheit des einzelnen Menschen, und der einzelne Mensch kann sich dann sagen: Es lebt in mir der Vatergott, es lebt die ganze Fülle des Vatergottes in mir. Aber es lebt die ganze Menschheit in dem Durchdrungensein mit der Wesenheit des Vatergottes. Dies als ein Gegenwärtiges zu erleben, das heißt, sich zu sagen: Ich bin!, das ist: Der Vatergott ist in mir. Dies als Gegenwärtiges zu erleben, wurde der Menschheit allmählich unmöglich. Sie mußte zu einem eigenen Ich kommen, das aus dem eigenen Bewußtsein heraus der Form nach produktiv ist. Und dieses Produktive des eigenen Ichs war im Zusammenhange mit der ganzen kosmisch-geistigen Welt nur möglich, wenn sich der einzelne Mensch mit dem Christus identifizierte, also mit dem Sohnesgott.

Was kann man also sagen über das Verhältnis der Christusbegnadeten Menschheit zu der noch nicht mit Christus begnadeten Menschheit? Wenn die noch nicht mit dem Christus begnadete Menschheit zurücksah auf das Bewußtsein, also auf die eigene Wesenheit der Seele, konnte sie dann sagen: Ich bin als einzelner mit dem Ich begabt? Nein, die Seele konnte sich nur sagen: In mir lebt der Vatergott, und daß er in mir lebt, das bewirkt, daß ich zu mir Ich sagen kann. Der einzelne war noch nicht vollkommen individualisiert, der einzelne war ein Kind des Vatergottes, aber so, daß das Kind gewissermaßen noch durch eine Art Nabelschnur zusammenhing mit dem Vater. Das aber, was die Seele haben konnte, wenn sie sich dieses ihres göttlichen Inhaltes bewußt wurde, konnte sie nachher nicht mehr haben. Und die Christus-begnadete Menschheit bekam das so, daß jeder aus seinem einzelnen Seelenwesen heraus in sein Ich diese Substanz aufnehmen konnte.

So brachte der Christus den Menschen auf Erden dasselbe, was der Menschheit auf Erden der Vatergott gegeben hat, aber er brachte es auf eine neue Weise, so daß jeder es nun mit seinem aus sich selbst herausquellenden Ich verbinden konnte. Und so konnte der Christus der Menschheit sagen: Ich bringe euch, was ihr gewohnt seid, aus dem Logos zu erkennen, aber ich bringe es euch auf eine neue Weise. Ich bringe es euch so, daß der Vatergott mir das übergeben hat, was er euch vorher direkt gegeben hat, aber für einen anderen Bewußtseinszustand. Als sein Gesandter bringe ich euch den Schatz des Vaters, für jedes einzelne Bewußtsein von euch, für jede einzelne Individualität von euch. Ich will euch nicht mehr nur zu Menschen machen, die gewissermaßen ein Glied im ganzen Kosmos sind, ich will vermöge der Vollmacht, die mir der Vatergott gegeben hat, jeden einzelnen von euch, wenn er kommen will, zu einem gotterfüllten Menschen machen. Diejenigen, die so der Vatergott mir übergibt als einzelne, die erfülle ich mit dem Gottes-Bewußtsein.

Daß also die Art, wie das Gottes-Bewußtsein zu den Menschen kommen sollte, eine andere ist als sie früher war, das ist das Wesentliche des Mysteriums von Golgatha. Daher ist es auch so, daß die Worte des Evangeliums durch das Mysterium von Golgatha einen ganz anderen Sinn bekommen. Es ist zum Beispiel durchaus möglich, von dem Inhalt des Vaterunsers einzelne Teile in früheren Entwickelungsstadien der Menschheit nachzuweisen. Aber auf den Inhalt kommt es in diesem Fall nicht an, sondern darauf, daß in anderer, in neuer Weise der mit dem Ichbewußtsein erfüllten Seele das Vaterunser mit denselben Worten, mit denselben Sätzen gegeben wird. Dieses Hineindringen in die geistigen Kräfte der Geschichte wird uns wiederum möglich, wenn wir selbst geistig forschen können. Das ist es, was uns zurückbringt zu dem ursprünglichen Sinn der Evangelien. Dieser ursprüngliche Sinn muß heute herauskommen. Die Menschheit darf nicht weiter mit mißverstandenen, das heißt mit nicht hoch genug genommenen Evangelien[übersetzungen] abgespeist werden. Man muß sich schon überwinden, die Sache so aufzufassen, daß man sich einmal fragt: Kann man, wenn man ganz ehrlich ist in seiner Seele, heute noch einen Sinn empfinden bei den Worten in Johannes 17, Vers l bis 9?

Nun, meine lieben Freunde, darüber kann allerlei gesagt und nachgesagt werden, wenn man über die Tatsache hinweggehen will, daß damit nicht wirklich in deutlicher Weise ein Sinn getroffen wird. Auf künstliche Art [des Kommentierens] läßt sich mit dieser Rede kein Sinn verbinden. Eigentlich nur durch den Glauben läßt sich damit ein Sinn verbinden. Denn auf etwas Reales stößt man nicht, wenn man diese Sätze [in einer der üblichen Übersetzungen] vor sich hat. Dagegen wenn man den Versuch macht, mit Empfindung des [ursprünglichen] Textes ganz wörtlich den Text in deutscher Sprache wiederzugeben, so kommt ein tieferer Sinn hinein, und man darf nicht, man kann gar nicht sagen, wenn man ehrlich ist mit sich selbst, es wäre dadurch der einfältige Sinn dieser Rede, der für jedes gewöhnliche menschliche Gemüt verständlich sei, künstlich kommentiert worden. Man kommt nämlich darauf, daß dieser vertieftere Sinn wirklich der ursprüngliche ist, und von dieser Tatsache muß man ausgehen.

Es mag ja dem heutigen Menschen lieber sein, daß man einen solchen Sinn im Evangelium nicht zu suchen habe. Aber man kommt nicht über die Tatsache hinweg, daß dieser tiefere Sinn eben doch darinnen ist und wir ihn eben herausholen müssen. Wir können nicht anders. Es wäre eine subjektive Phantasie, wenn wir sagen wollten: Interpretiert nichts in das Evangelium hinein, wir wollen bei seinem einfältigen Inhalt bleiben. Das ist eben das Interpretieren. Wenn wir einfach zu dem Sinn zurückgehen, der in ganz nüchterner Weise da ist, so kann ich nicht anders, als ihn etwa in der folgenden Weise wiedergeben:

Nachdem Jesus dieses geredet hatte, erhob er seine Augen zum Himmel und sagte: Vater, die Stunde ist gekommen, offenbare es Deinem Sohne, auf daß Dein Sohn es von Dir offenbare, wie Du ihm Macht über alles Fleisch gegeben hast, damit er den ihm zu eigen Gegebenen das dauernde Leben gebe. Das aber ist das dauernde Leben, daß sie Dich als den einzig wahren Gott erkennen und Jesus Christus als den Abgesandten. Ich habe Dich auf Erden geoffenbaret, um zum Ziele zu bringen das Werk, das Du mir zu tun auferlegt hast. Und nun offenbare mich, Vater, mit der Offenbarung, die mir durch Dich ward, ehe die Welt bestand. Ich habe [Dich] zur Erscheinung gebracht für die Menschen, welche Du mir aus der Welt zugeteilt hast. Dein waren sie und Du gabst sie mir, und sie sind von Deinem Worte erfüllt geblieben.

So haben sie erkannt, wie alles, was Du mir gegeben hast, aus Dir ist. Denn die Gedankenkräfte, die Du mir gegeben hast, habe ich zu ihnen gebracht. Sie haben sich mit ihnen verbunden und durchschaut, daß ich von Dir komme und eingesehen, daß Du mich ihnen gegeben hast. Für sie als einzelne Menschen, nicht für die Menschen im Allgemeinen, bitte ich bei Dir, nur für die Menschen, die Du mir gegeben hast, weil sie durch Dich sind. -

Nun liegt in der ganzen Darstellung dasjenige, was ich Ihnen vorher gesagt habe, und es ist nichts anderes, meine lieben Freunde, als daß die geistigen Entwickelungstatsachen der Menschheit in den Evangelien wiedergegeben sind. Man kann die Evangelien eben gerade in ihrer Richtigkeit finden, wenn man auf die geistigen Tatsachen darin gekommen ist. Und damit entsteht eben das Bewußtsein, das, ich möchte sagen, das richtige Licht zu werfen vermag auf die Worte. Nicht wahr, es ist ganz gewiß von mir nicht die Sucht, eine eitle Kritik zu üben, wenn ich sage, es ist nicht möglich, das Wort zu sagen: «Vater, die Stunde ist hie, daß Du Deinen Sohn verklärest, auf daß Dich Dein Sohn auch verkläre.» Wenn man ehrlich ist, muß man sagen: Damit ist eigentlich gar nichts gesagt, wenigstens nicht von der Art, daß man einen mit dem menschlichen Herzen ergreifbaren Sinn darinnen haben könnte. Dagegen kommt selbstverständlich ein richtiger Sinn heraus, wenn man nach dem griechischen Texte sagt: «Vater, die Stunde ist gekommen, offenbare es Deinem Sohne ...» also die Bitte an den Vater, er solle dem Sohne offenbaren. Die 0x01 graphic
ist keine Verklärung, die 0x01 graphic
ist ein Offenbaren, ein Bekanntgeben, ein Zur-Erkenntnis-Bringen, und so ist es hier gemeint: «... auf daß Dein Sohn es von Dir offenbare.» Die Vermittlung des Vater-Inhaltes durch die Kraft des Sohnes kommt da in den Worten unmittelbar zum Ausdruck in naiver Anschauung. Vorher hatten die Menschen auf die geschilderte Art die Substanz des Vatergottes in sich. Nun hat der Vatergott den Sohn dazu gebracht, daß der Sohn den Inhalt an die Menschheit vermittelt. Das steht wirklich da und es ist gar nicht zu leugnen, daß es da steht: «... wie Du ihm Macht über alles Fleisch gegeben hast ...» der Ausdruck «Fleisch» ist schwer zu übersetzen, da er falsch verstanden wird durch die gewöhnliche Sprache. Eigentlich müßte man sagen: «... wie Du ihm Macht über alle Menschenleiber gegeben hast, damit er den ihm zu eigen Gegebenen das dauernde Leben verleihe.» Wenn man bedenkt, daß ja die Tatsache vorliegt, daß früher die menschlichen Leiber so waren, daß sie von der ursprünglichen Bewußtheit erfaßt wurden, die noch gotterfüllt war und damit das dauernde Leben bekamen, so sieht man ein, daß, weil jetzt nicht mehr das Bewußtsein von der Kraft erfüllt ist, die Leiber in die Seele nichts zurückreflektieren können, was dauerndes Leben verleiht. Darum ist der Christus der Menschheit gesandt worden. «Das aber ist das dauernde Leben, daß sie Dich als den einzig wahren Gott erkennen und Jesus Christus als den Abgesandten. Ich habe Dich auf Erden geoffenbaret, um zum Ziele zu bringen das Werk, das Du mir zu tun auferlegt hast. Und nun offenbare mich, Vater, mit der Offenbarung, die mir durch Dich ward, ehe die Welt bestand. Ich habe [Dich] zur Erscheinung gebracht für die Menschen, welche Du mir aus der Welt zugeteilt hast. Dein waren sie und Du gabst sie mir, und sie sind von Deinem Worte erfüllt geblieben.»

Christus Jesus hat bewirkt, daß das Wort nicht erstorben ist in den Menschen, daß der väterliche Substanzinhalt den Menschen geblieben ist. Wenn das Mysterium von Golgatha nicht gewesen wäre, so hätten die Menschen ihren Inhalt vergessen. Der Vater wäre vergessen worden, wenn der Sohn nicht die Gegenwart des Vaters aufrechterhalten hätte. «So haben sie erkannt, wie alles, was Du mir gegeben hast, aus Dir ist. Denn die Gedankenkräfte, die Du mir gegeben hast, habe ich zu ihnen gebracht. Sie haben sich mit ihnen verbunden und durchschaut, daß ich von Dir komme und eingesehen, daß Du mich ihnen gegeben hast. Für sie als einzelne Menschen, nicht für die Menschen im Allgemeinen, bitte ich bei Dir, nur für die Menschen, die Du mir gegeben hast, weil sie durch Dich sind.» Ich setze hierher «für die Menschen im Allgemeinen» statt «für die Welt». Das wird nicht mehr verstanden. Es ist eben auf dieses geistige Verbundensein hingewiesen, was damals gangbare Vorstellung war: Für sie als einzelne Menschen, nicht nur für die Menschen im allgemeinen.

Wahrhaftig, das Neue Testament wird dadurch, daß man seinen Inhalt ergreift, nicht weniger schön, groß und erhaben. Das gehört auch zum richtigen Sichhineinstellen in die Gegenwart, in das geistige Leben der Gegenwart, in eine religiöse Bewegung der Gegenwart, daß man einfach wieder zurückgeht zu der Wirklichkeit im Evangelium. Wie oft ist die Forderung aufgetaucht, man müßte wieder zu dem ursprünglichen Christentum zurückkehren. Das scheiterte eben daran, daß man nicht erreichen konnte darauf auszugehen, den Logos in seiner Urbedeutung zu ergreifen und sich wieder und wieder mit der menschlichen Bequemlichkeit tröstete, daß man die Evangelien eben mehr in dem einfältigen Inhalte hinnehmen müsse. Aber der einfache Inhalt würde ja nicht mehr verwischt werden, wenn man einfach auf das eingeht, was dasteht. Wir dürfen nicht vergessen, meine lieben Freunde, daß die Worte ja im Laufe der Zeit ihre Gefühlswerte wesentlich ändern. Es ist nicht möglich, einfach lexikographisch ein Wort aus einer alten Sprache herüberzunehmen. Schon wenn man jetzt in der Gegenwart etwas einfach lexikographisch übersetzt, bekommt man ganz andere Inhalte heraus. Das ist noch mehr der Fall, wenn man Dinge der Vergangenheit übersetzt. Es kommt ja nicht darauf an, den Gefühlswert, der in der Gegenwart bei einem Worte da ist, unmittelbar an das anzulehnen, was im Wortlaute des alten Wortes liegt, sondern die Aufgabe ist die, zurückzugehen zu dem Gefühlsinhalte des alten Wortlautes. Da können wir überall im Neuen Testament die Tatsache finden, daß die Evangelien gesprochen sind zu einer Zeit, als die Offenbarung desjenigen, was vom geistigen Kosmos aus Gnade für die Menschheit geschehen ist, aus dem noch nicht voll entwickelten Ichbewußtsein in das vollentwickelte Bewußtsein der Ichheit übergegangen ist. Alle übrigen Tatsachen müssen nach dieser Grundtatsache beurteilt werden. Man darf nicht bei Vorurteilen stehenbleiben und sagen, die Jünger, die als einfache Menschen aus den niedersten Ständen hervorgegangen sind, konnten einen solchen Sinn nicht erfassen. Wenn der Sinn der Evangelien einfach aufzufassen ist, so müssen wir andererseits die wunderbare Tatsache enthüllen: Wie sind diese einfachen Menschen dazu gekommen, den Evangelien diesen tiefen Sinn zu geben? Das ist viel geistiger, als wenn man sagt, diese einfachen, aus dem Volke hervorgegangenen Menschen hätten einen solchen Sinn gar nicht erfassen können. Eine solche Auffassung beruht auf einem anderen Vorurteil.

Ich weiß nicht, ob Sie es erlebt haben vielleicht die Älteren unter Ihnen. Wenn Sie vor vierzig Jahren mit einem liebenden Herzen unter das Landvolk gegangen sind, dann konnte man die folgende Erfahrung machen. Man ging als Gebildeter hinaus, als ungeheuer gescheit sich Fühlender, und sprach mit den Leuten über das, was man gelernt hatte. Da konnten sie nicht mit. Aber ging man mit ihnen mit, so entdeckte man unter diesen einfachen Leuten eine ungeheuer tiefe Weisheit, die das überstrahlte, was man selbst mitgebracht hatte. Die Weisheit der naiven Leute ist nämlich eine tiefere als die der Gebildeten. Die Theorie von der Einfältigkeit des primitiven Menschen ist eben eine Theorie der intellektualistisch Gebildeten. Was zum Beispiel Jakob Böhme gemeint hat mit manchen seiner Sätze, das konnte man vor vierzig Jahren noch eher von manchem Kräutersammler lernen als heute im Universitätskolleg. Das ist nicht zu leugnen. Und wie treu manchmal alte Texte wiedergegeben werden, davon wird Ihnen Herr Professor Beckh ein Lied singen können in bezug auf Sanskrit und andere orientalische Texte. Man wird nicht zu weit gehen, wenn man sagt: Was in der indischen Philosophie enthalten ist, das ist nicht wiederzuerkennen in den Übersetzungen, die zum Beispiel Deußen gemacht hat, weil man, wenn man auf den ursprünglichen menschlichen Inhalt der Sache gehen will, das, was in Deußens Übersetzungen steht, einfach wie bloße Wortzusammensetzungen, wie bloße Worthülsen empfindet, in die man überhaupt keinen Sinn mehr hineinbringt. Diese Dinge sind ungeheuer ernst und hängen mit tiefernsten Fragen unserer Zeit zusammen. Deshalb wollte ich wirklich nicht versäumen, unsere Zusammenkunft noch mit dieser Betrachtung zu beschließen, weil ich glaube, daß sie Sie hinweisen kann auf etwas, was gerade im gegenwärtigen Augenblicke notwendig ist.

Ich hoffe, daß sich das erfüllen kann, wovon ich gestern sprach, daß für die religiöse Bewegung die Menschenweihehandlung die tiefste und fortdauernde Tatsache sein wird, daß sie nicht bloß bildhaft ist, sondern ein Lebendiges werden muß, das sich fortentwickelt, wie das Leben sich fortentwickelt, und das fähig bleibt, immer neu und reicher zu werden. Und ich hoffe, daß wir zusammenarbeiten können an dieser lebendigen Fortentwickelung desjenigen, was wir ja so hoffnungsvoll begonnen haben.

Werner Klein spricht im Schlußwort den Wunsch aus, daß der gute Wille zur Arbeit so stark bleiben wird, daß man übers Jahr sich wieder versammeln kann und den Rat Dr. Steiners erbitten darf.

Rudolf Steiner: Wir wollen es hoffen und in unseren Herzen so halten.




Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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