GOETHE GEGEN DEN ATOMISMUS
Es ist heute viel die Rede von der fruchtbaren Entwicklung der
Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert. Ich glaube, man kann
mit Recht nur von bedeutungsvollen naturwissenschaftlichen Erfahrungen
sprechen, die gemacht worden sind, und von einer Umgestaltung der
praktischen Lebensverhältnisse durch diese Erfahrungen. Was aber die
Grundvorstellungen betrifft, durch welche die moderne Naturanschauung
die Erfahrungswelt zu begreifen sucht, so halte ich diese für
ungesund und einem energischen Denken gegenüber für unzulänglich. Ich
habe mich darüber bereits auf S. 258ff. dieser Schrift ausgesprochen.
In jüngster Zeit hat nun ein namhafter Naturforscher der Gegenwart,
der Chemiker Wilhelm Ostwald dieselbe Ansicht
geäußert.102
Er sagt: «Vom Mathematiker bis zum
praktischen Arzt wird jeder naturwissenschaftlich denkende Mensch auf
die Frage, wie er sich die Welt «im Innern» gestaltet denkt, seine
Ansicht dahin zusammenfassen, daß die Dinge sich aus bewegten
Atomen zusammensetzen, und daß diese Atome und die
zwischen ihnen wirkenden Kräfte die letzten Realitäten seien,
aus denen die einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen
Wiederholungen kann man diesen Satz hören und lesen, daß für die
physikalische Welt kein anderes Verständnis gefunden werden kann, als
indem man sie auf «Mechanik der Atome» zurückführt; Materie und
Bewegung erscheinen als die letzten Begriffe, auf welche die
Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen bezogen werden muß. Man
kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus nennen.»
Ich habe in dieser Schrift S. 258ff. gesagt, daß die
modernen physikalischen Grundanschauungen unhaltbar sind. Dasselbe
spricht Ostwald (S. 6. seines Vortrages) mit folgenden Worten
aus: «Daß diese mechanistische Weltansicht den Zweck nicht
erfüllt, für den sie ausgebildet worden ist; daß sie mit
unzweifelhaften und allgemein bekannten und anerkannten Wahrheiten in
Widerspruch tritt.» Die Übereinstimmung der Ausführungen
Ostwalds und der meinigen geht noch weiter. Ich sage (S. 274
dieser Schrift): «Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich
metamorphosierender Wahrnehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende
Materie.» Ostwald sagt (S. 12 f.): «Wenn wir uns aber überlegen,
daß alles, was wir von einem bestimmten Stoffe wissen, die
Kenntnis seiner Eigenschaften ist, so sehen wir, daß die
Behauptung, es sei ein bestimmter Stoff zwar noch vorhanden, hätte
aber keine von seinen Eigenschaften mehr, von einem reinen Nonsens
nicht sehr weit entfernt ist. Tatsächlich dient uns diese rein
formelle Annahme nur dazu, die allgemeinen Tatsachen der chemischen
Vorgänge, insbesondere die stöchiometrischen Massengesetze, mit dem
willkürlichen Begriffe einer an sich unveränderten Materie zu
vereinigen.» Und S. 256 dieser Schrift ist zu lesen: «Diese Erwägungen
sind es, die mich dazu zwangen, jede Theorie der Natur, die
prinzipiell über das Gebiet der wahrgenommenen Welt hinausgeht,
als unmöglich abzulehnen und lediglich in der Sinnenwelt das
einzige Objekt der Naturwissenschaft zu suchen.» Das Gleiche finde
ich in Ostwalds Vortrag ausgesprochen auf S. 25 und 22: «Was
erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns
unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen.» «Realitäten,
aufweisbare und meßbare Größen miteinander in
bestimmte Beziehung zu setzen, so daß, wenn die einen gegeben
sind, die anderen gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der
Wissenschaft und sie kann nicht durch Unterlegung irgendeines
hypothetischen Bildes, sondern nur durch Nachweis gegenseitiger
Abhängigkeitsbeziehungen meßbarer Größen gelöst werden.»
Wenn man davon absieht, daß Ostwald im Sinne eines
Naturforschers der Gegenwart spricht, und deshalb in der Sinnenwelt
nichts als aufweisbare und meßbare Größen sieht, so
entspricht seine Ansicht vollständig der meinigen, wie ich sie z. B.
in dem Satze (S. 299) ausgesprochen habe: «Die Theorie muß sich
auf das.. Wahrnehmbare erstrecken und innerhalb desselben die
Zusammenhänge suchen.»
Ich habe in meinen Ausführungen über Goethes Farbenlehre den gleichen
Kampf gegen die naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen der
Gegenwart geführt wie Prof. Ostwald in seinem Vortrage «Die
Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus». Was ich an die
Stelle dieser Grundvorstellungen gesetzt habe, stimmt allerdings nicht
überein mit den Aufstellungen Ostwalds. Denn dieser geht, wie ich
weiter unten zeigen werde, von denselben oberflächlichen
Voraussetzungen aus wie seine Gegner, die Anhänger des
wissenschaftlichen Materialismus. Ich habe auch ausgeführt, daß
die Grundvorstellungen der modernen Naturanschauung die Ursache der
ungesunden Beurteilung sind, die Goethes Farbenlehre erfahren hat und
noch fortwährend erfährt.
Ich möchte nun etwas genauer mich mit der modernen Naturanschauung
auseinandersetzen. Aus dem Ziel, das sich diese Naturanschauung
gesetzt hat, suche ich zu erkennen, ob sie eine gesunde ist oder
nicht.
Nicht mit Unrecht hat man die Grundformel, nach der die moderne
Naturanschauung die Welt der Wahrnehmungen beurteilt, in den Worten
des Descartes gesehen: «Ich finde, wenn ich die körperlichen
Dinge näher prüfe, daß darin sehr wenig enthalten ist, was ich
klar und deutlich einsehe, nämlich die Größe, oder
die Ausdehnung in Länge, Tiefe, Breite, die Gestalt, die von der
Endigung dieser Ausdehnung herrührt, die Lage, welche die verschieden
gestalteten Körper unter sich haben, und die Bewegung oder Änderung
dieser Lage, welchen man die Substanz, die Dauer und Zahl hinzufügen
kann. Was die übrigen Sachen betrifft, wie das Licht, die Farben, die
Töne, Gerüche, Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte und die sonstigen,
dem Tastsinn spürbaren Qualitäten (Glätte, Rauheit), so treten sie in
meinem Geiste mit solcher Dunkelheit und Verworrenheit auf,
daß ich nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind, d. h. ob
die Ideen, die ich von diesen Gegenständen fasse, in der Tat die Ideen
von irgendwelchen reellen Dingen sind, oder ob sie nur chimärische
Wesen vorstellen, die nicht existieren können.» Im Sinne dieses
Des-cartesschen Satzes zu denken, ist den Bekennern der
modernen Naturanschauung in einem solchen Grade zur Gewohnheit
geworden, daß sie jede andere Denkweise kaum der Beachtung wert
finden. Sie sagen: Was als Licht wahrgenommen wird, wird durch einen
Bewegungsvorgang bewirkt, der durch eine mathematische Formel
ausgedrückt werden kann. Wenn eine Farbe in der Erscheinungswelt
auftritt, führen sie diese zurück auf eine schwingende Bewegung und
berechnen die Zahl der Schwingungen in einer bestimmten Zeit. Sie
glauben, die ganze Sinnenwelt werde erklärt sein, wenn gelungen sein
wird, alle Wahrnehmungen auf Verhältnisse zurückzuführen, die in
solchen mathematischen Formeln sich aussprechen lassen. Ein Geist, der
eine solche Erklärung geben könnte, hätte nach Ansicht dieser
Naturgelehrten das Äußerste erreicht, was dem Menschen in bezug
auf Erkenntnis der Naturerscheinungen möglich ist. Du Bois-Reymond,
ein Repräsentant dieser Gelehrten, sagt von einem solchen Geiste:
Ihm «wären die Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen
fiele kein Sperling zur Erde». («Über die Grenzen des Naturerkennens»,
[5. Aufl., Leipzig 1882] S. 13.) Die Welt zu einem Rechenexempel zu
machen, ist das Ideal der modernen Naturanschauung.
Da ohne das Vorhandensein von Kräften die Teile der angenommenen
Materie niemals in Bewegung geraten würden, so nehmen die modernen
Naturgelehrten auch die Kraft unter die Elemente auf, aus denen
sie die Welt erklären, und Du Bois-Reymond sagt:
«Naturerkennen.. ist Zurückführen der Veränderungen in der
Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit
unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der
Naturvorgänge in Mechanik der Atome.» [a. a. 0., S. 10] Durch
die Einführung des Kraftbegriffs geht die Mathematik in die
Mechanik über.
Die Philosophen von heute103
stehen so sehr
unter dem Einfluß der Naturgelehrten, daß sie allen Mut zu
selbständigem Denken verloren haben. Sie nehmen die Aufstellungen der
Naturgelehrten rückhaltlos an. Einer der angesehensten deutschen
Philosophen, W. Wundt, sagt in seiner «Logik» («Logik. [Eine
Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und die Methoden
wissenschaftlicher Forschung]», II. Bd. [Methodenlehre], 1. Abt., [2.
Aufl., Stuttgart 1894], S. 266): «Mit Rücksicht.. und in Anwendung des
Grundsatzes, daß wegen der qualitativen Unveränderlichkeit der
Materie alle Naturvorgänge in letzter Instanz Bewegungen sind,
betrachtet man als das Ziel der Physik ihre vollständige Überführung
in .. angewandte Mechanik. »
Du Bois-Reymond findet: «Es ist eine psychologische
Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung (der Naturvorgänge
in Mechanik der Atome) gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig
sich befriedigt fühlt.» [a. a. 0., S. 10] Das mag für Du Bois-Reymond
eine Erfahrungstatsache sein. Aber es muß gesagt werden,
daß es noch andere Menschen gibt, die sich durch eine banale
Erklärung der Körperwelt - wie Du Bois-Reymond sie im Auge hat
-durchaus nicht befriedigt fühlen.
Zu diesen anderen Menschen gehört Goethe. Wessen
Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn es ihm gelungen ist, die
Naturvorgänge auf Mechanik der Atome zurückzuführen, dem fehlt das
Organ, um Goethe zu verstehen.
Größe, Gestalt, Lage, Bewegung, Kraft usw. sind genau in
demselben Sinne Wahrnehmungen wie Licht, Farben, Töne, Gerüche,
Geschmacksempfindungen, Wärme, Kälte usw. Wer die Größe eines
Dinges von seinen übrigen Eigenschaften absondert und für sich
betrachtet, der hat es nicht mehr mit einem wirklichen Dinge,
sondern mit einer Abstraktion des Verstandes zu tun. Es ist das
Widersinnigste, das sich denken läßt, einem von der sinnlichen
Wahrnehmung abgezogenen Abstraktum einen andern Grad von Realität
zuzuschreiben als einem Dinge der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Die
Raum- und Zahlverhältnisse haben von den übrigen Sinneswahrnehmungen
nichts voraus als ihre größere Einfachheit und leichtere
Überschaubarkeit. Auf dieser Einfachheit und Überschaubarkeit beruht
die Sicherheit der mathematischen Wissenschaften. Wenn die moderne
Naturanschauung alle Vorgänge der Körperwelt auf mathematisch und
mechanisch Ausdrückbares zurückführt, so beruht dies darauf, daß
das Mathematische und Mechanische für unser Denken leicht und bequem
zu handhaben ist. Und das menschliche Denken neigt zur Bequemlichkeit.
Man kann das gerade an Ostwalds oben erwähntem Vortrage sehen.
Dieser Naturgelehrte will an Stelle von Materie und Kraft die
Energie setzen. Man höre: «Welches ist die Bedingung, damit
eines unserer (Sinnes-) Werkzeuge sich betätigt? Wir mögen die Sache
wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames, als das: Die
Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und
der Umgebung. In einer Welt, deren Temperatur überall die unseres
Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren
können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von dem konstanten
Atmosphärendrucke haben, unter dem wir leben; erst wenn wir Räume
anderen Druckes herstellen, gelangen wir zu seiner Kenntnis.» (S. 2Sf.
des Vortrags.) Und weiter (S. 29): «Denken Sie sich, Sie bekämen einen
Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock oder seine
Energie? Die Antwort kann nur eine sein: die Energie. Denn der
Stock ist das harmloseste Ding von der Welt, solange er nicht
geschwungen wird. Aber wir können uns auch an einem ruhenden Stocke
stoßen! Ganz richtig: was wir empfinden, sind, wie schon betont,
Unterschiede der Energiezustände gegen unsere Sinnesapparate, und
daher ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder wir uns
gegen den Stock bewegen. Haben aber beide gleiche und gleichgerichtete
Geschwindigkeit, so existiert der Stock für unser Gefühl nicht mehr,
denn er kann nicht mit uns in Berührung kommen und einen
Energieaustausch bewerkstelligen.» Diese Auslassungen beweisen,
daß Ostwald die Energie aus dem Gebiete der
Wahrnehmungswelt aussondert, d. h. von allem, was nicht Energie ist,
abstrahiert. Er führt alles Wahrnehmbare auf eine einzige Eigenschaft
des Wahrnehmbaren, auf die Äußerung von Energie, also auf einen
abstrakten Begriff zurück. Die Befangenheit Ostwalds in den
naturwissenschaftlichen Gewohnheiten der Gegenwart ist deutlich
erkennbar. Auch er könnte, wenn er gefragt würde, zur Rechtfertigung
seines Verfahrens nichts anführen, als daß es für ihn eine
psychologische Erfahrungstatsache ist, daß sein
Kausalitätsbedürfnis befriedigt ist, wenn er die Naturvorgänge in
Äußerungen der Energie aufgelöst hat. Es ist im Wesen
gleichgültig: ob Du Bois-Reymond die Naturvorgänge in Mechanik
der Atome, oder Ostwald in Energieäußerungen auflöst.
Beides entspringt der Neigung des menschlichen Denkens zur
Bequemlichkeit.
Ostwald sagt am Schlusse seines Vortrags (S. 34): «Ist die
Energie, so notwendig und nützlich sie auch zum Verständnis der Natur
ist, auch zureichend für diesen Zweck (nämlich die Erklärung
der Körperwelt)? Oder gibt es Erscheinungen, welche durch die bisher
bekannten Gesetze der Energie nicht vollständig dargestellt werden
können? . . . Ich glaube der Verantwortlichkeit, die ich heute durch
meine Darlegung Ihnen gegenüber eingenommen habe, nicht besser gerecht
werden zu können, als wenn ich hervorhebe, daß diese Frage mit
Nein zu beantworten ist. So immens die Vorzüge sind, welche die
energetische Weltauffassung vor der mechanistischen oder
materialistischen hat, so lassen sich schon jetzt, wie mir scheint,
einige Punkte bezeichnen, welche durch die bekannten Hauptsätze der
Energetik nicht gedeckt werden, und welche daher auf das Vorhandensein
von Prinzipien hinweisen, die über diese hinausgehen. Die Energetik
wird neben diesen neuen Sätzen bestehen bleiben. Nur wird sie künftig
nicht, wie wir sie noch heute ansehen müssen, das umfassendste Prinzip
für die Bewältigung der natürlichen Erscheinungen sein, sondern wird
voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer
Verhältnisse erscheinen, von deren Form wir zurzeit allerdings kaum
eine Ahnung haben.»
Würden unsere Naturgelehrten auch Schriften von Leuten lesen, die
außerhalb ihrer Gilde stehen, so hätte Prof. Ostwald eine
Bemerkung wie diese nicht machen können. Denn ich habe bereits 1891,
in der erwähnten Einleitung der Goetheschen Farbenlehre,
ausgesprochen, daß wir von solchen «Formen» allerdings eine
Ahnung und mehr als eine solche haben können, und daß in dem
Ausbau der naturwissenschaftlichen Grundvorstellungen Goethes die
Aufgabe der Naturwissenschaft der Zukunft liegt.
So wenig wie die Vorgänge der Körperwelt sich in Mechanik der Atome,
so wenig lassen sie sich in Energieverhältnisse «auflösen». Durch ein
solches Verfahren wird nichts weiter erreicht, als daß die
Aufmerksamkeit von dem Inhalt der wirklichen Sinnenwelt abgelenkt, und
einem unwirklichen Abstraktum zugewendet wird, dessen ärmlicher Fond
von Eigenschaften doch auch nur aus derselben Sinnenwelt entnommen
ist. Man kann nicht die eine Gruppe von Eigenschaften der Sinnenwelt:
Licht, Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärmeverhältnisse usw.
dadurch erklären, daß man sie «auflöst» in die andere Gruppe von
Eigenschaften derselben Sinnenwelt: Größe, Gestalt, Lage, Zahl,
Energie usw. Nicht «Auflösung» der einen Art von Eigenschaften in die
andere kann Aufgabe der Naturwissenschaft sein, sondern Aufsuchung von
Beziehungen und Verhältnissen zwischen den wahrnehmbaren Eigenschaften
der Sinnenwelt. Wir entdecken dann gewisse Bedingungen, unter denen
eine Sinneswahrnehmung die andere notwendig nach sich zieht. Wir
finden, daß zwischen gewissen Erscheinungen ein intimerer
Zusammenhang be- steht als zwischen anderen. Wir verknüpfen die
Erscheinungen dann nicht mehr in der Weise, wie sie sich der
zufälligen Beobachtung darbieten. Denn wir erkennen, daß gewisse
Zusammenhänge von Erscheinungen notwendig sind. Ihnen gegenüber
sind andere Zusammenhänge zufällig. Notwendige Zusammenhänge
von Erscheinungen nennt Goethe Urphänomene.
Der Ausdruck eines Urphänomens besteht immer darin, daß man von
einer bestimmten sinnlichen Wahrnehmung sagt, sie rufe notwendig eine
andere hervor. Dieser Ausdruck ist das, was man ein Naturgesetz
nennt. Wenn man sagt: «Durch Erwärmung wird ein Körper
ausgedehnt», so hat man einen notwendigen Zusammenhang von
Erscheinungen der Sinnenwelt (Wärme, Ausdehnung) zum Ausdrucke
gebracht. Man hat ein Urphänomen erkannt und es in Form eines
Naturgesetzes ausgesprochen. Die Urphänomene sind die von
Ostwald gesuchten Formen für die allgemeinsten Verhältnisse der
unorganischen Natur.
Die Gesetze der Mathematik und Mechanik sind ebenso nur Ausdrücke von
Urphänomenen wie die Gesetze, die andere sinnliche Zusammenhänge in
eine Formel bringen. Wenn G. Kirchhoff sagt: Die Aufgabe der
Mechanik ist: «Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen
vollständig und auf die einfachste Weise zu
beschreiben», so irrt er. Die Mechanik beschreibt die in der Natur vor
sich gehenden Bewegungen nicht bloß auf die einfachste Weise und
vollständig, sondern sie sucht gewisse notwendige
Bewegungsvorgänge auf, die sie aus der Summe der in der Natur vor
sich gehenden Bewegungen heraushebt, und spricht diese notwendigen
Bewegungsvorgänge als mechanische Grundgesetze aus. Es
muß als ein Gipfel der Gedankenlosigkeit bezeichnet werden,
daß der Kirchhoffsche Satz immer und immer wieder als etwas
besonders Bedeutendes angeführt wird, ohne Gefühl davon, daß die
Aufstellung des einfachsten Grundgesetzes der Mechanik ihn widerlegt.
Das Urphänomen stellt einen notwendigen Zusammenhang von Elementen der
Wahrnehmungswelt dar. Es kann deshalb kaum etwas Unzutreffenderes
gesagt werden, als was H. Helmholtz in seiner Rede auf der
Weimarer Goethe Versammlung vom 11. Juni 1892 vorgebracht hat: «Es ist
zu bedauern, daß Goethe zu jener Zeit die von Huyghens
schon aufgestellte Undulationstheorie des Lichtes nicht gekannt
hat; diese würde ihm ein viel richtigeres und anschaulicheres
<Urphänomen> an die Hand gegeben haben, als der dazu kaum
geeignete und sehr verwickelte Vorgang, den er sich in den Farben
trüber
Medien zu diesem Ende wählte.»104
Also die unwahrnehmbaren Undulationsbewegungen, die zu den
Lichterscheinungen von den Bekennern der modernen Naturanschauung
hinzu gedacht werden, sollen Goethe ein viel richtigeres und
anschaulicheres «Urphänomen» an die Hand gegeben haben, als der
keineswegs verwickelte, sondern sich vor unseren Augen abspielende
Prozeß, der darin besteht, daß Licht durch ein trübes
Mittel gesehen gelb, Finsternis durch ein erhelltes Mittel
gesehen blau erscheint. Die «Auflösung» der sinnlich
wahrnehmbaren Vorgänge in unwahrnehmbare mechanische Bewegungen ist
den modernen Physikern so sehr zur Gewohnheit geworden, daß sie
gar keine Ahnung davon zu haben scheinen, daß sie ein Abstraktum
an die Stelle der Wirklichkeit setzen. Aussprüche wie den
Helmholtzschen wird man erst tun dürfen, wenn alle Sätze Goethes von
der Art des folgenden aus der Welt geschafft sein werden: «Das Höchste
wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die
Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man
suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.»
[«Sprüche in Prosa»; Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 376] Goethe
bleibt innerhalb der Erscheinungswelt stehen; die modernen
Physiker lesen einige Fetzen aus der Erscheinungswelt auf und
versetzen diese hinter die Phänomene, um dann von diesen
hypothetischen Realitäten die Phänomene der wirklich wahrnehmbaren
Erfahrung abzuleiten.
Einzelne jüngere Physiker behaupten, sie legen dem Begriffe der
bewegten Materie keinen über die Erfahrung hinausgehenden Sinn bei.
Einer von ihnen, der das merkwürdige Kunststück zustande bringt,
Anhänger der mechanischen Naturlehre und der indischen Mystik zugleich
zu sein. Anton Lampa (vgl. dessen «Nächte des Suchenden»,
Braunschweig 1893) bemerkt gegen die Ausführungen Ostwalds,
daß dieser «einen Kampf führe, wie weiland der tapfere
Manchaner gegen die Windmühlen. Wo ist denn der Riese des
wissenschaftlichen (Ostwald meint naturwissenschaftlichen)
Materialismus? Den gibt es ja gar nicht. Es hat einmal einen
sogenannten naturwissenschaftlichen Materialismus der Herren Büchner,
Vogt und Moleschott gegeben, ja gibt ihn noch, in der
Naturwissenschaft selbst aber existiert er nicht, in der
Naturwissenschaft war er auch nie zu Hause. Das hat Ostwald übersehen,
sonst wäre er bloß gegen die mechanische Auffassungsweise
zu Felde gezogen, was er zufolge seines Mißverständnisses nur
nebenbei tut, was er aber ohne dieses Mißverständnis
wahrscheinlich überhaupt nicht getan hätte. Kann man denn glauben,
daß eine Naturforschung, welche die Bahnen wandelt, die
Kirchhoff eingeschlagen, den Begriff der Materie 1n einem solchen
Sinne fassen kann, wie der Materialismus es getan? Das ist unmöglich,
das ist ein offen zutage liegender Widerspruch. Der Begriff der
Materie kann, gleich wie jener der Kraft, bloß einen durch die
Forderung nach einer möglichst einfachen Beschreibung präzisierten, d.
h. kantisch ausgedrückt, bloß empirischen Sinn haben. Und wenn
irgendein Naturforscher mit dem Worte Materie einen darüber
hinausliegenden Sinn verbindet, so tut er das nicht als Naturforscher,
sondern als materialistischer Philosoph.» («Die Zeit», Wien, Nr. 61
vom 30. Nov. 1895).
Lampa muß, nach diesen Worten, als Typus des normalen
Naturforschers der Gegenwart bezeichnet werden. Dieser wendet die
mechanische Naturerklärung an, weil sie bequem zu handhaben ist. Er
vermeidet es aber, über den wahren Charakter dieser Naturerklärung
nachzudenken, weil er sich vor der Verwickelung in Widersprüche
fürchtet, denen sein Denken sich nicht gewachsen fühlt.
Wie kann jemand, der klares Denken liebt, mit dem Begriffe der Materie
einen Sinn verbinden, ohne über die Erfahrungswelt hinauszugehen? In
der Erfahrungswelt sind Körper von bestimmter Größe und Lage, es
sind Bewegungen und Kräfte, ferner die Phänomene des Lichtes, der Farben,
der Wärme, der Elektrizität, des Lebens usw. vorhanden. Darüber,
daß die Größe, die Wärme, die Farbe usw. an einer Materie
haften, sagt die Erfahrung nichts aus. Aufzufinden ist die Materie
innerhalb der Erfahrungswelt nirgends. Wer Materie denken will, der
muß sie zu der Erfahrung hinzudenken.
Ein solches Hinzudenken der Materie zu den Erscheinungen der
Erfahrungswelt ist in den physikalischen und physiologischen
Erwägungen zu bemerken, die in der modernen Naturlehre unter dem
Einflusse Kants und Johannes Müllers heimisch geworden
sind. Diese Erwägungen haben zu dem Glauben geführt, daß die
äußeren Vorgänge, die den Schall im Ohre, das Licht im Auge, die
Wärme im Organe des Wärmesinnes usw. entstehen lassen, nichts gemein
haben mit der Schallernpfindung, der Licht- und Wär-meempfindung usw.
Diese äußeren Vorgänge sollen vielmehr gewisse Bewegungen der
Materie sein. Der Naturforscher untersucht dann, welche Art von
äußeren Bewegungsvorgängen in der menschlichen Seele Schall,
Licht, Farbe usw. entstehen lassen. Er kommt zu dem Schlusse,
daß sich außerhalb des menschlichen Organismus nirgends im
ganzen Weltenraum Rot, Gelb oder Blau finde, sondern daß es nur
eine wellenförmige Bewegung einer feinen, elastischen Materie, des
Äthers, gebe, die, wenn sie durch das Auge empfunden wird, sich als
Rot, Gelb oder Blau darstellt. Wenn kein empfindendes Auge vorhanden
wäre, so wäre auch keine Farbe, sondern nur bewegter Äther vorhanden,
meint der moderne Naturlehrer. Der Äther sei das Objektive, die Farbe
bloß etwas Subjektives, im menschlichen Körper Gebildetes. Der
Leipziger Professor Wundt, den man zuweilen als einen der
größten Philosophen der Gegenwart preisen hört, sagt deshalb von
der Materie, sie sei ein Substrat, «das uns niemals selbst,
sondern immer nur in seinen Wirkungen anschaulich wird.»
Und er findet, daß « eine widerspruchslose Erklärung der
Erscheinungen erst gelingt», wenn man ein solches Substrat annimmt
(Logik, II. Bd., [1. Abt., 2. Aufl.], S. 445). Der Descartessche Wahn
von deutlichen und verworrenen Vorstellungen ist zur grundlegenden
Vorstellungsart der Physik geworden.*
Wessen Vorstellungsvermögen durch Descartes, Locke, Kant und die
moderne Physiologie nicht vom Grund aus verdorben ist, der wird
niemals begreifen, wie man Licht, Farbe, Ton, Wärme usw. bloß
für subjektive Zustände des menschlichen Organismus ansehen und
dennoch das Vorhandensein einer objektiven Welt von Vorgängen
außerhalb des Organismus behaupten kann. Wer den menschlichen
Organismus zum Erzeuger der Ton-, Wärme-, Farben- usw. -Geschehnisse
macht, der muß ihn auch zum Hervorbringer der Ausdehnung,
Größe, Lage, Bewegung, der Kräfte usw. machen. Denn diese
mathematischen und mechanischen Qualitäten sind in Wirklichkeit mit
dem übrigen Inhalte der Erfahrungswelt untrennbar verbunden. Die
Abtrennung der Raum-, Zahl- und Bewegungs-verhältnisse, sowie der
Kraftäußerungen von den Wärme-, Ton-, Farben- und den anderen
Sinnesqualitäten ist nur eine Funktion des abstrahierenden Denkens.
Die Gesetze der Mathematik und Mechanik beziehen sich auf abstrakte
Gegenstände und Vorgänge, die von der Erfahrungswelt abgezogen sind,
und können daher auch nur innerhalb der Erfahrungswelt Anwendung
finden. Werden aber auch die mathematischen und mechanischen Formen
und Verhältnisse für bloß subjektive Zustände erklärt, dann
bleibt nichts übrig, was dem Begriffe von objektiven Dingen und
Ereignissen als Inhalt dienen könnte. Und aus einem leeren Begriffe
können keine Erscheinungen abgeleitet werden.
So lange die modernen Naturgelehrten und ihre Schleppträger, die
modernen Philosophen, daran festhalten, daß die
Sinneswahrnehmungen nur subjektive Zustände sind, die durch objektive
Vorgänge hervorgerufen werden, wird ein gesundes Denken ihnen stets
entgegenhalten, daß sie entweder mit leeren Begriffen spielen,
oder dem Objektiven einen Inhalt zuschreiben, den sie aus der für
subjektiv erklärten Erfahrungswelt entlehnen. Ich habe in einer Reihe
von Schriften das Widersinnige der Behauptung von der Subjektivität
der
Sinnesempfindungen nachgewiesen.105
Doch ich will davon absehen, ob den Bewegungsvorgängen und den sie
hervorrufenden Kräften, auf die die neuere Physik alle
Naturerscheinungen zurückführt, eine andere Realitätsform
zugeschrieben wird als den Sinneswahrnehmungen, oder ob das nicht der
Fall ist. Ich will jetzt bloß fragen, was die
mathematischmechanische Naturanschauung leisten kann. Anton Lampa
meint («Nächte des Suchenden», S. 92): «Mathematische Methode und
Mathematik sind nicht identisch, denn die mathematische Methode ist
durchführbar ohne Anwendung von Mathematik. Einen klassischen Beleg
für diese Tatsache bieten uns innerhalb der Physik die
Experimentaluntersuchungen über Elektrizität von Faraday, der
kaum ein Binom zu quadrieren verstand. Die Mathematik ist ja nichts
als ein Mittel, logische Operationen abzukürzen und daher in so
verwickelten Fällen noch durchzuführen, wo uns das gewöhnliche
logische Denken im Stich lassen würde. Aber sie leistet gleichzeitig
noch viel mehr: indem jede Formel implicite ihren Werdeprozeß
ausdrückt, schlägt sie eine lebendige Brücke bis zu den elementaren
Erscheinungen, welche als Ausgangspunkt der Untersuchung gedient
hatten. Die Methode aber, welche sich der Mathematik nicht bedienen
kann - was immer der Fall ist, wenn die in die Untersuchung
eingehenden Größen nicht meßbar sind - hat daher, um der
mathematischen gleich zu kommen, nicht nur streng logisch zu sein,
sondern auch dem Geschäft der Zurückführung auf die Grunderscheinungen
eine besondere Sorgfalt zuzuwenden, da sie der mathematischen Stütze
entbehrend gerade hier leicht straucheln kann; wenn sie aber dieses
leistet, wird sie wohl mit Recht auf den Titel einer mathematischen
Anspruch erheben, insofern damit der Grad der Exaktheit ausgedrückt
werden soll.»
Ich würde mich mit Anton Lampa nicht so ausführlich beschäftigen, wenn
er nicht durch einen Umstand ein besonders geeignetes Beispiel eines
Naturforschers der Gegenwart wäre. Er befriedigt seine philosophischen
Bedürfnisse aus der indischen Mystik und verunreinigt deshalb die
mechanische Naturanschauung nicht wie andere mit allerlei
philosophischen Nebenvorstellungen. Die Naturlehre, die er im Auge
hat, ist sozusagen die chemisch reine Naturansicht der Gegenwart. Ich
finde, daß Lampa ein Hauptkennzeichen der Mathematik gänzlich
unberücksichtigt gelassen hat. Wohl schlägt jede mathematische Formel
eine «lebendige Brücke» bis zu den elementaren Erscheinungen, welche
als Ausgangspunkt der Untersuchungen gedient haben. Aber diese
elementaren Erscheinungen sind von derselben Art wie die
nichtelementaren, von denen aus die Brücke geschlagen wird. Der
Mathematiker führt die Eigenschaften komplizierter Zahl- und
Raumgebilde, sowie deren wechselseitige Beziehungen auf die
Eigenschaften und Beziehungen der einfachsten Zahl-und Raumgebilde
zurück. Ebenso macht es der Mechaniker in seinem Gebiete. Er führt
zusammengesetzte Bewegungsvorgänge und Kräftewirkungen auf einfache,
leicht überschaubare Bewegungen und Kräftewirkungen zurück. Dabei
bedient er sich der mathematischen Gesetze, insofern Bewegungen und
Kraftäußerungen durch Raumgebilde und Zahlen ausdrückbar sind.
In einer mathematischen Formel, die ein mechanisches Gesetz zum
Ausdruck bringt, bedeuten die einzelnen Glieder nicht mehr rein
mathematische Gebilde, sondern Kräfte und Bewegungen. Die
Verhältnisse, in denen diese Glieder zueinander stehen, werden nicht
durch eine rein mathematische Gesetzmäßigkeit bestimmt, sondern
durch die Eigenschaften der Kräfte und Bewegungen. Sobald man von
diesem besonderen Inhalte der mechanischen Formeln absieht, hat man es
nicht mehr mit mechanischer, sondern lediglich mit mathematischer
Gesetzlichkeit zu tun. Wie die Mechanik zur reinen Mathematik, verhält
sich die Physik zur Mechanik. Die Aufgabe des Physikers ist,
komplizierte Vorgänge auf dem Gebiete der Farben-, Ton-,
Wärmeerscheinungen, der Elektrizität, des Magnetismus usw. auf
einfache Geschehnisse innerhalb der gleichen Sphäre
zurückzuführen. Er hat z. B. komplizierte Farbenvorkommnisse auf
die einfachsten Farbenvorkommnisse zurückzuführen. Dabei hat er sich
der mathematischen und mechanischen Gesetzlichkeit zu bedienen,
insofern die Farbenvorgänge in räumlich und zahlenmäßig zu
bestimmenden Formen sich abspielen. Nicht die Zurückführung der
Farben-, Ton- usw. -Vorgänge auf Bewegungserscheinungen und
Kräfteverhältnisse innerhalb einer farb- und tonlosen Materie, sondern
die Aufsuchung der Zusammenhänge innerhalb der Farben-,
Ton- usw. -Erscheinungen entspricht auf physikalischem Gebiete der
mathematischen Methode.
Die moderne Physik überspringt die Ton-, Farben- usw. Erscheinungen
als solche und betrachtet nur unveränderliche, anziehende und
abstoßende Kräfte und Bewegungen im Raume. Unter dem Einflusse
dieser Vorstellungsart ist die Physik heute bereits angewandte
Mathematik und Mechanik geworden, und die übrigen Gebiete der
Naturwissenschaft sind auf dem Wege, das Gleiche zu werden.
Es ist unmöglich, eine «lebendige Brücke» zu schlagen von der
Tatsache: An diesem Orte des Raumes herrscht ein bestimmter
Bewegungsvorgang der farblosen Materie, - der andern Tatsache: Der
Mensch sieht an diesem Orte Rot. Aus Bewegung kann nur wieder Bewegung
abgeleitet werden. Und aus der Tatsache, daß eine Bewegung auf
ein Sinnesorgan und dadurch auf das Gehirn wirkt, folgt -nach
mathematischer und mechanischer Methode - nur, daß das Gehirn
von der Außenwelt zu gewissen Bewegungsvorgängen veranlaßt
wird, nicht aber, daß es die konkreten Töne, Farben,
Wärmeerscheinungen usw. wahrnimmt. Dies hat auch Du Bois-Reymond
erkannt. Man lese S. 35 f. seiner «Grenzen des Naturerkennens» (5.
Aufl.): «Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten
Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits
den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht
wegzuleugnenden Tatsachen: ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke
Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot» .. Und S. 34:
«Bewegung kann nur Bewegung erzeugen.» Du Bois-Reymond ist deshalb der
Meinung, daß hiermit eine Grenze des Naturerkennens zu
verzeichnen ist.
Der Grund, warum man die Tatsache: «ich sehe Rot» nicht aus einem
bestimmten Bewegungsvorgang herleiten kann, ist, meiner Ansicht nach,
leicht anzugeben. Die Qualität «Rot» und ein bestimmter
Bewegungsvorgang sind in Wirklichkeit eine untrennbare Einheit. Die
Trennung der beiden Geschehnisse kann nur eine begriffliche, im
Verstande vollzogene sein. Der dem «Rot» entsprechende
Bewegungsvorgang hat an sich keine Wirklichkeit; er ist ein
Abstraktum. Die Tatsache: «ich sehe Rot» aus einem Bewegungsvorgang
herleiten zu wollen, ist genau so absurd, wie die Ableitung der
wirklichen Eigenschaften eines in Würfelform kristallisierten
Steinsalzkörpers aus dem mathematischen Würfel. Nicht weil eine Grenze
des Erkennens uns hindert, können wir aus Bewegungen keine anderen
Sinnesqualitäten ableiten, sondern weil eine derartige Forderung
keinen Sinn hat.
Das Streben, die Farben, Töne, Wärmeerscheinungen usw. als solche zu
überspringen und nur die ihnen entsprechenden mechanischen Vorgänge zu
betrachten, kann nur aus dem Glauben entspringen, daß den
einfachen Gesetzen der Mathematik und Mechanik ein höherer Grad von
Begreiflichkeit entspricht, als den Eigenschaften und wechselseitigen
Beziehungen der übrigen Gebilde der Wahrnehmungswelt. Dies ist aber
durchaus nicht der Fall. Die einfachsten Eigenschaften und
Verhältnisse der Raum- und Zahlgebilde werden ohne weiteres
begreiflich genannt, weil sie sich leicht und vollkommen überschauen
lassen. Zurückführung auf einfache, beim unmittelbaren Innewerden
einleuchtende Tatbestände ist alles mathematische und mechanische
Begreifen. Der Satz, daß zwei Größen, die einer dritten
gleich sind, auch einander gleich sein müssen, wird durch
unmittelbares Innewerden des Tatbestandes, den er ausdrückt, erkannt.
In dem gleichen Sinne werden auch die einfachen Vorkommnisse der Ton-
und Farbenwelt und der übrigen Sinneswahrnehmungen durch unmittelbare
Anschauung erkannt.
Nur weil sie durch das Vorurteil verführt sind, daß ein
einfaches mathematisches oder mechanisches Faktum begreiflicher ist,
als ein elementares Vorkommnis der Tonoder Farbenerscheinung als
solches, schalten die modernen Physiker das Spezifische des Tones oder
der Farbe aus den Erscheinungen aus und betrachten nur die
Bewegungsvorgänge, die den Sinneswahrnehmungen entsprechen. Und weil
sie Bewegungen nicht denken können ohne etwas, das sich bewegt, nehmen
sie die aller sinnenfälligen Eigenschaften entkleidete Materie als
Träger der Bewegungen an. Wer in diesem Vorurteil der Physiker nicht
befangen ist, der muß einsehen, daß die Bewegungsvorgänge
Zustände sind, die an die sinnenfälligen Qualitäten gebunden sind. Der
Inhalt der wellenförmigen Bewegungen, die den Tonvorkommnissen
entsprechen, sind die Tonqualitäten selbst. Das gleiche gilt für die
übrigen Sinnesqualitäten. Durch unmittelbares Innewerden erkennen wir
den Inhalt der oszillierenden Bewegungen der Erscheinungswelt, nicht
durch Hinzudenken einer abstrakten Materie zu den Erscheinungen.
Ich weiß, daß ich mit diesen Ansichten etwas ausspreche,
was den Physiker-Ohren der Gegenwart ganz unmöglich klingt. Ich kann
mich aber nicht auf den Standpunkt Wundts stellen, der in
seiner «Logik» (11. Bd., 1. Abt. [2. Aufl. 1894]) die Denkgewohnheiten
der modernen Naturforscher für bindende logische Normen ausgibt. Die
Gedankenlosigkeit, der er sich dabei schuldig macht, wird besonders an
der Stelle klar, wo er den Versuch Ostwalds bespricht, an die
Stelle der bewegten Materie die in oszillierender Bewegung befindliche
Energie zu setzen. Wundt bringt folgendes vor: «Es ergibt sich ... aus
der Existenz der Interferenzerscheinungen die Notwendigkeit der
Voraussetzung irgendeiner oszillierenden Bewegung. Da aber eine
Bewegung ohne ein Substrat, das sich bewegt, undenkbar ist, so ist
damit auch die Ableitung der Lichterscheinungen aus einem mechanischen
Vorgang ein unumgängliches Erfordernis. Allerdings hat Ostwald der
letzteren Annahme zu entgehen gesucht, indem er die <strahlende
Energie> nicht auf die Schwingungen eines materiellen Mediums
zurückführt, sondern als eine in oszillierender Bewegung befindliche
Energie definiert. Gerade dieser aus einem anschaulichen und einem
rein begrifflichen Bestandteil zusammengesetzte Doppelbegriff scheint
mir aber schlagend zu beweisen, daß der Energiebegriff selbst
eine Zerlegung fordert, die auf Elemente der Anschauung zurückführt.
Eine reale Bewegung kann nur als die Ortsveränderung eines im Raume
gegebenen realen Substrates definiert werden. Dieses reale Substrat
kann sich uns bloß durch Kraftwirkungen, die von ihm ausgehen,
oder durch Kräftefunktionen, als deren Träger wir es betrachten,
verraten. Aber daß solche bloß begrifflich zu fixierende
Kräftefunktionen selbst sich bewegen, dies scheint mir eine Forderung
zu sein, die nicht erfüllt werden kann, ohne daß man sich
irgendein Substrat hinzudenkt.» [a. a. 0., S. 410]
Der Energiebegriff Ostwalds steht der Wirklichkeit um vieles näher als
das angeblich «reale» Substrat Wundts. Die Erscheinungen der
Wahrnehmungswelt, Licht, Wärme, Elektrizität, Magnetismus usw., lassen
sich unter den allgemeinen Begriff der Kraftleistung, d. i. der
Energie bringen. Wenn Licht, Wärme usw. in einem Körper eine
Veränderung hervorrufen, so ist damit eben eine Kraftleistung
vollzogen. Man hat, wenn man Licht, Wärme usw. als Energie bezeichnet,
von dem den einzelnen Sinnesqualitäten spezifisch Eigenen abgesehen
und betrachtet eine allgemeine, ihnen gemeinsam zukommende
Eigenschaft.
Diese Eigenschaft erschöpft zwar nicht alles, was in den Dingen der
Wirklichkeit vorhanden ist; aber sie ist eine reale Eigenschaft dieser
Dinge. Der Begriff der Eigenschaften hingegen, welche die von den
Physikern und ihren philosophischen Verteidigern hypothetisch
angenommene Materie haben soll, schließt einen Unsinn
ein. Diese Eigenschaften sind aus der Sinnenwelt entlehnt und sollen
doch einem Substrat zukommen, das nicht zur Sinnenwelt gehört.
Es ist unbegreiflich, wie Wundt behaupten kann, der Begriff
«strahlende Energie» sei deshalb ein unmöglicher, weil er einen
anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil
enthalte. Der Philosoph Wundt sieht also nicht ein, daß jeder
Begriff, der sich auf ein Ding der sinnlichen Wirklichkeit bezieht,
notwendig einen anschaulichen und einen begrifflichen Bestandteil
enthalten muß. Der Begriff «Steinsalzwürfel » hat doch den
anschaulichen Bestandteil des sinnlich wahrnehmbaren
Steinsalzes und den anderen rein begrifflichen, den die
Stereometrie feststellt.
Die Entwicklung der Naturwissenschaft in den letzten Jahrhunderten hat
zur Zerstörung aller Vorstellungen geführt, durch welche diese
Wissenschaft Glied einer Weltauffassung sein kann, die den höheren
menschlichen Bedürfnissen genügt. Sie hat dazu geführt, daß die
«modernen» wissenschaftlichen Köpfe es als absurd bezeichnen, wenn man
davon spricht, daß die Begriffe und Ideen ebenso
zur Wirklichkeit gehören, wie die im Raume wirkenden Kräfte und die
den Raum erfüllende Materie. Begriffe und Ideen sind diesen Geistern
ein Produkt des menschlichen Gehirns und nichts weiter. Noch die
Scholastiker wußten, wie es um diese Sache steht. Aber die
Scholastik wird von der modernen Wissenschaft verachtet. Sie wird
verachtet, aber man kennt sie nicht. Man weiß vor allem nicht,
was an der Scholastik gesund und was an ihr krank ist. Gesund an ihr
ist, daß sie eine Empfindung dafür hatte, daß Begriffe und
Ideen nicht nur Hirngespinste sind, die der menschliche Geist ersinnt,
um die wirklichen Dinge zu verstehen, sondern daß sie mit den
Dingen selbst etwas, ja mehr zu tun haben als Stoff und Kraft. Diese
gesunde Empfindung der Scholastiker ist ein Erbstück von den
großen Weltanschauungsperspektiven Platos und Aristoteles'.
Krank ist an der Scholastik die Vermischung dieser Empfindung mit den
Vorstellungen, die in die mittelalterliche Entwicklung des
Christentums eingezogen sind. Diese Entwicklung findet den Quell alles
Geistigen, also auch der Begriffe und Ideen in dem unerkennbaren, weil
außerweltlichen Gott. Es hat den Glauben an etwas nötig, das
nicht von dieser Welt ist. Ein gesundes menschliches Denken hält sich
aber an diese Welt. Es kümmert sich um keine andere. Aber es
vergeistigt zugleich diese Welt. Es sieht in Begriffen und Ideen
Wirklichkeiten dieser Welt ebenso wie in den durch die Sinne
wahrnehmbaren Dingen und Ereignissen. Die griechische Philosophie ist
ein Ausfluß dieses gesunden Denkens. Die Scholastik nahm noch
eine Ahnung dieses gesunden Denkens in sich auf. Aber sie strebte
darnach, diese Ahnung im Sinne des als christlich geltenden
Jenseitsglaubens umzudeuten. Nicht die Begriffe und Ideen sollten das
Tiefste sein, was der Mensch in den Vorgängen dieser Welt erschaut,
sondern Gott, sondern das Jenseits. Wer die Idee einer Sache
erfaßt hat, den zwingt nichts, noch nach einem weiteren
«Ursprung» der Sache zu suchen. Er hat das erreicht, was das
menschliche Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Aber was kümmerte die
Scholastiker das menschliche Erkenntnisbedürfnis? Sie wollten retten,
was sie als christliche Gottesvorstellung ansahen. Sie wollten im
jenseitigen Gott den Ursprung der Welt finden, obwohl ihnen ihr Suchen
nach dem Innern der Dinge nur Begriffe und Ideen lieferte.
Im Verlauf der Jahrhunderte wurden die christlichen Vorstellungen
wirksamer als die dunklen Empfindungen, die aus dem griechischen
Altertum ererbt waren. Man verlor die Empfindung für die Wirklichkeit
der Begriffe und Ideen. Man verlor damit aber auch den Glauben an den
-Geist selbst. Es begann die Anbetung des rein Materiellen: die Ära
Newtons in der Naturwissenschaft begann. Nun war nicht mehr die Rede
von der Einheit, die der Mannigfaltigkeit der Welt zugrunde liegt. Nun
wurde alle Einheit geleugnet Die Einheit wurde herabgewürdigt zu einer
«menschlichen» Vorstellung. In der Natur sah man nur die Vielheit, die
Mannigfaltigkeit. Diese allgemeine Grundvorstellung war es, die Newton
verführte, nicht eine ursprüngliche Einheit im Lichte zu sehen,
sondern ein Zusammengesetztes. Goethe hat in den «Materialien zur
Geschichte der Farbenlehre» einen Teil der Entwicklung
naturwissenschaftlicher Vorstellungen dargelegt. Aus seiner
Darstellung ist zu ersehen, daß die neuere Naturwissenschaft
durch die allgemeinen Vorstellungen, deren sie sich zum Erfassen der
Natur bedient, in der Farbenlehre zu ungesunden Ansichten gelangt ist.
Diese Wissenschaft hat das Verständnis dafür verloren, was das Licht
innerhalb der Reihe der Naturqualitäten ist. Deshalb weiß sie
auch nicht, wie unter gewissen Bedingungen das Licht gefärbt
erscheint, wie im Reiche des Lichtes die Farbe entsteht.
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