GOETHES WELTANSCHAUUNG IN SEINEN
«SPRÜCHEN IN PROSA»
Der Mensch ist nicht zufrieden mit dem, was die Natur freiwillig
seinem beobachtenden Geiste darbietet. Er fühlt, daß sie, um die
Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen hervorzubringen, Triebkräfte
braucht, die sie dem Beobachter zunächst verbirgt. Die Natur spricht
ihr letztes Wort nicht selbst aus. Unsere Erfahrung zeigt uns, was die
Natur schaffen kann, aber sie sagt uns nicht, wie dieses Schaffen
geschieht. In dem menschlichen Geiste selbst liegt das Mittel, die
Triebkräfte der Natur zu enthüllen. Aus dem Menschengeiste steigen die
Ideen auf, die Aufklärung darüber bringen, wie die Natur ihre
Schöpfungen zustande bringt. Was die Erscheinungen der Außenwelt
verbergen, im Innern des Menschen wird es offenbar. Was der
menschliche Geist an Naturgesetzen erdenkt: es ist nicht zur Natur
hinzu erfunden; es ist die eigene Wesenheit der Natur, und der Geist
ist nur der Schauplatz, auf dem die Natur die Geheimnisse ihres
Wirkens sichtbar werden läßt. Was wir an den Dingen
beobachten, das ist nur ein Teil der Dinge. Was in unserem
Geiste emporquillt, wenn er sich den Dingen gegenüberstellt, das ist
der andere Teil. Dieselben Dinge sind es, die von außen zu uns
sprechen, und die in uns sprechen. Erst wenn wir die Sprache der
Außenwelt mit der unseres Innern zusammenhalten, haben wir die
volle Wirklichkeit. Was wollten die wahren Philosophen aller Zeiten?
Nichts anderes als das Wesen der Dinge verkünden, das diese selbst
aussprechen, wenn der Geist sich ihnen als Sprachorgan darbietet.
Wenn der Mensch sein Inneres über die Natur sprechen läßt, so
erkennt er, daß die Natur hinter dem zurückbleibt, was sie
vermöge ihrer Triebkräfte leisten könnte. Der Geist sieht das, was die
Erfahrung enthält, in vollkommenerer Gestalt. Er findet, daß die
Natur ihre Absichten mit ihren Schöpfungen nicht erreicht. Er fühlt
sich berufen, diese Absichten in vollendeter Form darzustellen. Er
schafft Gestalten, in denen er zeigt: dies hat die Natur gewollt; aber
sie konnte es nur bis zu einem gewissen Grade vollbringen. Diese
Gestalten sind die Werke der Kunst. In ihnen schafft der Mensch das in
einer vollkommenen Weise, was die Natur unvollkommen zeigt.
Philosoph und Künstler haben das gleiche Ziel. Sie suchen das
Vollkommene zu gestalten, das ihr Geist erschaut, wenn sie die Natur
auf sich wirken lassen. Aber es stehen ihnen verschiedene Mittel zu
Gebote, um dies Ziel zu erreichen. In dem Philosophen leuchtet ein
Gedanke, eine Idee auf, wenn er einem Naturprozeß
gegenübersteht. Diese spricht er aus. In dem Künstler entsteht ein
Bild dieses Prozesses, das diesen vollkommener zeigt, als er
sich in der Außenwelt beobachten läßt. Philosoph und
Künstler bilden die Beobachtung auf verschiedenen Wegen weiter. Der
Künstler braucht die Triebkräfte der Natur in der Form nicht zu
kennen, in der sie sich dem Philosophen enthüllen. Wenn er ein Ding
oder einen Vorgang wahrnimmt, so entsteht unmittelbar ein Bild in
seinem Geiste, in dem die Gesetze der Natur in vollkommenerer Form
ausgeprägt sind als in dem entsprechenden Dinge oder Vorgange der
Außenwelt. Diese Gesetze in Form des Gedankens brauchen nicht in
seinen Geist einzutreten. Erkenntnis und Kunst sind aber doch
innerlich verwandt. Sie zeigen die Anlagen der Natur, die in
der bloßen äußeren Natur nicht zur vollen Entwickelung
kommen.
Wenn nun in dem Geiste eines echten Künstlers außer vollkommenen
Bildern der Dinge auch noch die Triebkräfte der Natur in Form von
Gedanken sich aussprechen, so tritt der gemeinsame Quell von
Philosophie und Kunst uns besonders deutlich vor Augen. Goethe ist ein
solcher Künstler. Er offenbart uns die gleichen Geheimnisse in der
Form seiner Kunstwerke und in der Form des Gedankens. Was er in seinen
Dichtungen gestaltet, das spricht er in seinen natur- und
kunstwissenschaftlichen Aufsätzen und in seinen «Sprüchen in Prosa» in
der Form des Gedankens aus. Die tiefe Befriedigung, die von diesen
Aufsätzen und Sprüchen ausgeht, hat darin ihren Grund, daß man
den Einklang von Kunst und Erkenntnis in einer Persönlichkeit
verwirklicht sieht. Das Gefühl hat etwas Erhebendes, das bei jedem
Goetheschen Gedanken auftritt: Hier spricht jemand, der zugleich das
Vollkommene, das er in Ideen ausdrückt, im Bilde schauen kann. Die
Kraft eines solchen Gedankens wird verstärkt durch dieses Gefühl. Was
aus den höchsten Bedürfnissen einer Persönlichkeit stammt,
muß innerlich zusammengehören. Goethes Weisheitslehren antworten
auf die Frage: Was für eine Philosophie ist der echten Kunst
gemäß? Ich versuche diese aus dem Geiste eines echten Künstlers
geborene Philosophie im Zusammenhange nachzuzeichnen.
Der Gedankeninhalt, der aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn
dieser sich der Außenwelt gegenüberstellt, ist die Wahrheit. Der
Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen als eine solche, die er
selbst hervorbringt. Wer hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren
eigentliches Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum
Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der
Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was man
wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen. Die Dinge sprechen
zu uns, und unser Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten.
Diese zwei Sprachen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist
berufen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht
das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes sucht der,
der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht. Wer zu diesem
Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die Dinge der Außenwelt
fremdartig. Er hört aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu
sich sprechen. Deshalb vermutet er, daß dieses Wesen hinter den
Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Außenwelt noch hinter
der Wahrnehmungswelt. Aber die Dinge sind nur so lange äußere
Dinge, so lange man sie bloß beobachtet. Wenn man über sie
nachdenkt, hören sie auf, außer uns zu sein. Man verschmilzt mit
ihrem inneren Wesen. Für den Menschen besteht nur so lange der
Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver
innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten
nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt ist das Innere der Natur.
Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache, daß
verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von den Dingen
machen. Auch nicht dadurch, daß die Organisationen der Menschen
verschieden sind, so daß man nicht weiß, ob eine und
dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz gleichen Weise
gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen über
eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden, sondern
darauf, ob die Sprache, die das Innere des Menschen spricht, eben die
Sprache ist, die das Wesen der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile
sind nach der Organisation des Menschen und nach dem Standpunkte, von
dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile
entspringen dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge.
Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck kommen; aber
es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge.
Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse
enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint der tiefste
Gehalt der Welt. «Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes
wirkt, wenn er sich in der Welt als In einem großen, schönen,
würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein
reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich
selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und
den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern » (Goethe,
«Winckelmann », Kürschners National-Literatur, Bd. 27, S. 42). Nicht
in dem, was die Außenwelt liefert, liegt das Ziel des Weltalls
und des Wesens des Daseins, sondern in dem, was im menschlichen Geiste
lebt und aus ihm hervorgeht. Goethe betrachtet es daher als einen
Irrtum, wenn der Naturforscher durch Instrumente und objektive
Versuche in das Innere der Natur dringen will, denn «der Mensch an
sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der
größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann,
und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß
man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und
bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur
erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen
will». «Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das
sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und
alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja, man
kann sagen, was sind die elementarischen Erscheinungen der Natur
selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren
muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?»
(Vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 351)
Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen lassen, wenn
er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über dieses Wesen zu sagen
hat, ist den geistigen Erlebnissen seines Innern entlehnt. Nur von
sich aus kann der Mensch die Welt beurteilen. Er muß
anthropomorphisch denken. In die einfachste Erscheinung, z. B. in den
Stoß zweier Körper bringt man einen Anthropomorphismus hinein,
wenn man sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper
stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn man
muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges
hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser eigener
Körper hat, wenn er einen Körper der Außenwelt in Bewegung
versetzt. Alle physikalischen Erklärungen sind versteckte
Anthropomorphismen. Man vermenschlicht die Natur, wenn man sie
erklärt, man legt die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein.
Aber diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der Dinge. Und
man kann daher nicht sagen, daß der Mensch die objektive
Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne, weil er sich nur
subjektive
Vorstellungen über sie machen kann.106
Von einer
andern als einer subjektiven menschlichen Wahrheit kann gar nicht die
Rede sein. Denn Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den
objektiven Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven Erlebnisse
können sogar einen ganz individuellen Charakter annehmen. Sie sind
dennoch der Ausdruck des inneren Wesens der Dinge. Man kann in die
Dinge nur hineinlegen, was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird
auch jeder Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas
in gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich mir
gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern, der nicht das
gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz zu verstehen. Es handelt sich
aber gar nicht darum, daß alle Menschen das gleiche über die
Dinge denken, sondern nur darum, daß sie, wenn sie über die
Dinge denken, im Elemente der Wahrheit leben. Man kann deshalb die
Gedanken eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen
oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder seiner
Individualität ansehen. «Diejenigen, welche widersprechen und
streiten, sollten mitunter bedenken, daß nicht jede Sprache
jedem verständlich sei» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine
Philosophie kann niemals eine allgemeingültige Wahrheit überliefern,
sondern sie schildert die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch
die er die äußeren Erscheinungen deutet.
Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes seine Wesenheit
ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur durch den
Zusammenfluß des äußeren Objektiven und des inneren
Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges Beobachten, noch durch
einseitiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist
nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern
wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen
hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil der
Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung
anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die
Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw. Schr., 4. Bd., 2.
Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon Theorie», d. h. es offenbart
sich im menschlichen Geiste ein Ideelles, wenn er ein Faktisches
betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit der
Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das
Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik
das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in
der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas, das
sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt. Die
entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge hinter
die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges
Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben an
diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion
seinen Inhalt erhält, oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber
aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen
ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen
Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein Jenseitiges, wie auch
die Hypothesen über ein solches ab, und halten sich an das wirkliche
Geistige, das sich in dem Menschen selbst ausspricht. Goethe schreibt
an [F. H.] Jacobi: «Gott hat dich mit der Metaphysik
gestraft und dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich
dagegen mit der Physik gesegnet ... Ich halte mich fest
und fester an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza) ... und
überlasse euch alles, was ihr Religion heißt und heißen
müßt ... Wenn du sagst, man könne an Gott nur glauben ...,
so sage ich dir, ich halte viel aufs Schauen.» [WA 7, 214]
Was Goethe schauen will, ist die in seiner Ideenwelt sich
ausdrückende Wesenheit der Dinge. Auch der Mystiker will durch
Versenkung in das eigene Innere die Wesenheit der Dinge erkennen; aber
er lehnt gerade die in sich klare und durchsichtige Ideenwelt ab als
untauglich zur Erlangung einer höheren Erkenntnis. Er glaubt nicht,
sein Ideenvermögen, sondern andere Kräfte seines Innern entwickeln zu
müssen, um die Urgründe der Dinge zu schauen. Gewöhnlich sind
es unklare Empfindungen und Gefühle, in denen der Mystiker das Wesen
der Dinge zu ergreifen glaubt. Aber Gefühle und Empfindungen gehören
nur zum subjektiven Wesen des Menschen. In ihnen spricht sich nichts
über die Dinge aus. Allein in den Ideen sprechen die Dinge selbst. Die
Mystik ist eine oberflächliche Weltanschauung, trotzdem die Mystiker
den Vernunftmenschen gegenüber sich viel auf ihre «Tiefe» zugute tun.
Sie wissen nichts über die Natur der Gefühle, sonst würden sie sie
nicht für Aussprüche des Wesens der Welt halten; und sie wissen nichts
von der Natur der Ideen, sonst würden sie diese nicht für flach und
rationalistisch halten. Sie ahnen nicht, was Menschen, die wirklich
Ideen haben, in diesen erleben. Aber für viele sind Ideen eben
bloße Worte. Sie können die unendliche Fülle ihres Inhaltes sich
nicht aneignen. Kein Wunder, daß sie ihre eigenen ideenlosen
Worthülsen als leer empfinden.*
Wer den wesentlichen Inhalt der objektiven Welt in dem eigenen Innern
sucht, der kann auch das Wesentliche der sittlichen Weltordnung
nur in die menschliche Natur selbst verlegen. Wer eine jenseitige
Wirklichkeit hinter der menschlichen vorhanden glaubt, der muß
in ihr auch den Quell des Sittlichen suchen. Denn das Sittliche im
höheren Sinne kann nur aus dem Wesen der Dinge kommen. Der
Jenseitsgläubige nimmt deshalb sittliche Gebote an, denen sich der
Mensch zu unterwerfen hat. Diese Gebote gelangen zu ihm entweder auf
dem Wege einer Offenbarung, oder sie treten als solche in sein
Bewußtsein ein, wie es beim kategorischen Imperativ Kants der
Fall ist. Wie dieser aus dem jenseitigen «An sich» der Dinge in unser
Bewußtsein kommt, darüber wird nichts gesagt. Er ist einfach da,
und man hat sich ihm zu unterwerfen. Der Erfahrungsphilosoph, der von
der reinen Sinnesbeobachtung alles Heil erwartet, sieht in dem
Sittlichen nur das Wirken der menschlichen Triebe und Instinkte. Aus
dem Studium dieser sollen die Normen folgen, die für das sittliche
Handeln maßgebend sind.
Goethe läßt das Sittliche aus der Ideenwelt des Menschen
entstehen. Nicht objektive Normen und auch nicht die bloße
Triebwelt lenken das sittliche Handeln, sondern die in sich klaren
Ideen, durch die sich der Mensch selbst die Richtung gibt. Ihnen folgt
er nicht aus Pflicht, wie er objektivsittlichen Normen folgen
müßte. Und auch nicht aus Zwang, wie man seinen Trieben und
Instinkten folgt. Sondern er dient ihnen aus Liebe. Er liebt sie, wie
man ein Kind liebt. Er will ihre Verwirklichung und setzt sich für sie
ein, weil sie ein Teil seines eigenen Wesens sind. Die Idee ist
die Richtschnur und die Liebe ist die treibende Kraft in der
Goetheschen Ethik. Ihm ist Pflicht, «wo man liebt, was man sich selbst
befiehlt» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt. S. 460).
Ein Handeln im Sinne der Goetheschen Ethik ist ein freies
Handeln. Denn der Mensch ist von nichts abhängig als von seinen
eigenen Ideen. Und er ist niemandem verantwortlich als sich selbst.
Ich habe bereits in meiner
«Philosophie der Freiheit»107
den billigen Einwand entkräftet, daß die Folge einer sittlichen
Weltordnung, in der jeder nur sich selbst gehorcht, die allgemeine
Unordnung und Disharmonie des menschlichen Handelns sein müsse. Wer
diesen Einwand macht, der übersieht, daß die Menschen
gleichartige Wesen sind und daß sie deshalb niemals sittliche
Ideen produzieren werden, die durch ihre wesentliche Verschiedenheit
einen unharmonischen
Zusammenklang bewirken werden.108
Wenn der Mensch nicht die Fähigkeit hätte, Schöpfungen
hervorzubringen, die ganz in dem Sinne gestaltet sind, wie die Werke
der Natur, und nur diesen Sinn in vollkommenerer Weise zur Anschauung
bringen, als die Natur es vermag, so gäbe es keine Kunst im Sinne
Goethes. Was der Künstler schafft, sind Naturobjekte auf einer höheren
Stufe der Vollkommenheit. Kunst ist Fortsetzung der Natur, «denn indem
der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich
wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel
hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen
Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und
Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des
Kunstwerkes erhebt» (Goethe, «Winckelmann»; Nat.-Lit. Bd. 27, S.
47). Nach dem Anblicke der griechischen Kunstwerke in Italien schreibt
Goethe:
«Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden.»109
Der bloßen
sinnenfälligen Erfahrungswirklichkeit gegenüber sind die Kunstwerke
ein schöner Schein; für den, der tiefer zu schauen vermag, sind sie
«eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die ohne sie niemals
offenbar würden» ([freie Wiedergabe] vgl. Natw. Schr., 4. Bd., 2.
Abt., S. 494).
Nicht der Stoff, den der Künstler aus der Natur aufnimmt, macht das
Kunstwerk; sondern allein das, was der Künstler aus seinem Innern in
das Werk hineinlegt. Das höchste Kunstwerk ist dasjenige, welches
vergessen macht, daß ihm ein natürlicher Stoff zugrunde liegt,
und das lediglich durch dasjenige unser Interesse erweckt, was der
Künstler aus diesem Stoffe gemacht hat. Der Künstler gestaltet
natürlich; aber er gestaltet nicht wie die Natur selbst. In diesen
Sätzen scheinen mir die Hauptgedanken ausgesprochen zu sein, die
Goethe in seinen Aphorismen über Kunst niedergelegt hat.
|