10. Innere Natur des Denkens
Wir treten dem Denken noch um einen Schritt näher. Bisher haben wir
bloß die Stellung desselben zu der übrigen Erfahrungswelt
betrachtet. Wir sind zu der Ansicht gekommen, daß es innerhalb
derselben eine ganz bevorzugte Stellung einnimmt, daß es eine
zentrale Rolle spielt. Davon wollen wir jetzt absehen. Wir
wollen uns hier nur auf die innere Natur des Denkens
beschränken. Wir wollen den selbsteigenen Charakter der Gedankenwelt
untersuchen, um zu erfahren, wie ein Gedanke von dem andern
abhängt; wie d je Gedanken zueinander stehen. Daraus erst
werden sich uns die Mittel ergeben, Aufschluß über die Frage zu
gewinnen: Was ist überhaupt Erkennen? Oder mit anderen Worten:
Was heißt es, sich Gedanken über die Wirklichkeit zu machen; was
heißt es, sich durch Denken mit der Welt auseinandersetzen zu
wollen?
Wir müssen uns da von jeder vorgefaßten Meinung frei erhalten.
Eine solche aber wäre es, wenn wir voraussetzen wollten, der Begriff
(Gedanke) sei das Bild innerhalb unseres Bewußtseins,
durch das wir Aufschluß über einen außerhalb
desselben liegenden Gegenstand gewinnen. Von dieser und ähnlichen
Voraussetzungen ist an diesem Orte nicht die Rede. Wir nehmen die
Gedanken, wie wir sie vorfinden. Ob sie zu irgend etwas anderem eine
Beziehung haben und was für eine, das wollen wir eben untersuchen. Wir
dürfen es daher nicht hier als Ausgangspunkt hinstellen. Gerade die
angedeutete Ansicht über das Verhältnis von Begriff und Gegenstand ist
sehr häufig. Man definiert ja oft den Begriff als das geistige
Gegenbild eines außerhalb des Geistes liegenden Gegenstandes.
Die Begriffe sollen die Dinge abbilden, uns eine getreue Photographie
derselben vermitteln. Man denkt oft, wenn man vom Denken spricht,
überhaupt nur an dieses vorausgesetzte Verhältnis. Fast nie trachtet
man danach, das Reich der Gedanken innerhalb seines eigenen Gebietes
einmal zu durchwandern, um zu sehen, was sich hier ergibt.
Wir wollen dieses Reich hier in der Weise untersuchen, als ob es
außerhalb der Grenzen desselben überhaupt nichts mehr gäbe, als
ob das Denken alle Wirklichkeit wäre. Wir sehen für einige Zeit
von der ganzen übrigen Welt ab.
Daß man das in den erkenntnistheoretischen Versuchen, die sich
auf Kant stützen, unterlassen hat, ist verhängnisvoll für die
Wissenschaft geworden. Diese Unterlassung hat den Anstoß zu
einer Richtung in dieser Wissenschaft gegeben, die der unsrigen völlig
entgegengesetzt ist. Diese Wissenschaftsrichtung kann ihrer ganzen
Natur nach Goethe nie begreifen. Es ist im wahrsten Sinne des
Wortes ungoethisch, von einer Behauptung auszugehen, die man
nicht in der Beobachtung vorfindet, sondern selbst in das Beobachtete
hineinlegt. Das geschieht aber, wenn man die Ansicht an die Spitze
der Wissenschaft stellt: Zwischen Denken und Wirklichkeit, Idee und
Welt besteht das angedeutete Verhältnis. Im Sinne Goethes handelt man
nur, wenn man sich in die eigene Natur des Denkens selbst vertieft und
dann zusieht, welche Beziehung sich ergibt, wenn dann dieses seiner
Wesenheit nach erkannte Denken zu der Erfahrung in ein
Verhältnis gebracht wird.
Goethe geht überall den Weg der Erfahrung im strengsten Sinne. Er
nimmt zuerst die Objekte, wie sie sind, sucht mit völliger Fernhaltung
aller subjektiven Meinung ihre Natur zu durchdringen; dann stellt er
die Bedingungen her, unter denen die Objekte in Wechselwirkung treten
können und wartet ab, was sich hieraus ergibt. Goethe sucht der Natur
Gelegenheit zu geben, ihre Gesetzmäßigkeit unter besonders
charakteristischen Umständen, die er herbeiführt, zur Geltung zu
bringen, gleichsam ihre Gesetze selbst auszusprechen.
Wie erscheint uns unser Denken für sich betrachtet? Es ist eine
Vielheit von Gedanken, die in der mannigfachsten Weise
miteinander verwoben und organisch verbunden sind. Diese Vielheit
macht aber, wenn wir sie nach allen Seiten hinreichend durchdrungen
haben, doch wieder nur eine Einheit, eine Harmonie aus. Alle Glieder
haben Bezug aufeinander, sie sind füreinander da; das eine modifiziert
das andere, schränkt es ein und so weiter. Sobald sich unser Geist
zwei entsprechende Gedanken vorstellt, merkt er alsogleich,
daß sie eigentlich in eins miteinander verfließen. Er
findet überall Zusammengehöriges in seinem Gedankenbereiche; dieser
Begriff schließt sich an jenen, ein dritter erläutert
oder stützt einen vierten und so fort. So zum Beispiel finden wir in
unserm Bewußtsein den Gedankeninhalt «Organismus» vor;
durchmustern wir unsere Vorstellungswelt, so treffen wir auf einen
zweiten: «gesetzmäßige Entwicklung, Wachstum». Sogleich wird
klar, daß diese beiden Gedankeninhalte zusammengehören,
daß sie bloß zwei Seiten eines und desselben Dinges
vorstellen. So aber ist es mit unserm ganzen Gedankensystem. Alle
Einzelgedanken sind Teile eines großen Ganzen, das wir unsere
Begriffswelt nennen.
Tritt irgendein einzelner Gedanke im Bewußtsein auf, so
ruhe ich nicht eher, bis er mit meinem übrigen Denken in Einklang
gebracht ist. Ein solcher Sonderbegriff, abseits von meiner übrigen
geistigen Welt, ist mir ganz und gar unerträglich. Ich bin mir eben
dessen bewußt, daß eine innerlich begründete Harmonie
aller Gedanken besteht, daß die Gedankenwelt eine einheitliche
ist. Deshalb ist uns jede solche Absonderung eine Unnatürlichkeit,
eine Unwahrheit.
Haben wir uns bis dahin durchgerungen, daß unsere ganze
Gedankenwelt den Charakter einer vollkommenen, inneren Übereinstimmung
trägt, dann wird uns durch sie jene Befriedigung, nach der unser Geist
verlangt. Dann fühlen wir uns im Besitze der Wahrheit.
Indem wir die Wahrheit in der durchgängigen Zusammenstimmung
aller Begriffe, über die wir verfügen, sehen, drängt sich die Frage
auf: Ja, hat denn das Denken, abgesehen von aller anschaulichen
Wirklichkeit, von der sinnenfälligen Erscheinungswelt, auch einen
Inhalt? Bleibt nicht die vollständige Leere, ein reines Phantasma
zurück, wenn wir allen sinnlichen Inhalt beseitigt denken?
Daß das letztere der Fall sei, dürfte wohl eine weit
verbreitete Meinung sein, so daß wir sie ein wenig näher
betrachten müssen. Wie wir bereits oben bemerkten, denkt man sich ja
so vielfach das ganze Begriffssystem nur als eine Photographie der
Außenwelt. Man hält zwar daran fest, daß sich unser Wissen
in der Form des Denkens entwickelt; fordert aber von einer
«streng objektiven Wissenschaft», daß sie ihren Inhalt nur von
außen nehme. Die Außenwelt müsse den Stoff liefern,
welcher in unsere Begriffe einfließt. Ohne jene seien diese
leere Schemen ohne allen Inhalt. Fiele die Außenwelt weg, so
hätten Begriffe und Ideen keinen Sinn mehr, denn sie sind um ihrer
willen da. Man könnte diese Ansicht die Verneinung des Begriffs
nennen. Denn er hat für die Objektivität dann gar keine Bedeutung
mehr. Er ist ein zu letzterer Hinzugekommenes. Die Welt stünde
in aller Vollkommenheit auch da, wenn es keine Begriffe gäbe. Denn sie
bringen ja nichts Neues zu derselben hinzu. Sie enthalten nichts, was
ohne sie nicht da wäre. Sie sind nur da, weil sich das erkennende
Subjekt ihrer bedienen will, um in einer ihm angemessenen Form das
zu haben, was anderweitig schon da ist. Sie sind für dasselbe nur
Vermittler eines Inhaltes, der nichtbegrifflicher Natur ist. So
die angezogene Ansicht.
Wenn sie begründet wäre, müßte eine von den folgenden drei
Voraussetzungen richtig sein.
1. Die Begriffswelt stehe in einem solchen Verhältnisse zur
Außenwelt, daß sie nur den ganzen Inhalt derselben in
anderer Form wiedergibt. Hier ist unter Außenwelt die Sinnenwelt
verstanden. Wenn das der Fall wäre, dann könnte man wahrlich nicht
einsehen, welche Notwendigkeit bestände, sich überhaupt über die
Sinnenwelt zu erheben. Man hat ja das ganze Um und Auf des Erkennens
schon mit der letzteren gegeben.
2. Die Begriffswelt nehme nur einen Teil der «Erscheinung für die
Sinne» als ihren Inhalt auf. Man denke sich die Sache etwa so. Wir
machen eine Reihe von Beobachtungen. Wir treffen da auf die
verschiedensten Objekte. Wir bemerken dabei, daß gewisse
Merkmale, die wir an einem Gegenstande entdecken, schon einmal von
uns beobachtet worden sind. Es durchmustere unser Auge eine Reihe von
Gegenständen A, B, C, D usw. A hätte die Merkmale q
a r; B: 1mb n; C: k h cg und D:p na v. Da treffen wir
bei D wieder auf die Merkmale a und p, die wir
schon bei A angetroffen haben. Wir bezeichnen diese Merkmale
als wesentliche. Und insoferne A und D die
wesentlichen Merkmale gleich haben, nennen wir sie gleichartig. So
fassen wir A und D dann zusammen, indem wir ihre
wesentlichen Merkmale im Denken festhalten. Da haben wir ein Denken,
das sich mit der Sinnenwelt nicht ganz deckt, auf das also die oben
gerügte Überflüssigkeit nicht anzuwenden und das doch ebenso weit
entfernt ist, Neues zu der Sinnenwelt hinzuzubringen. Dagegen
läßt sich vor allem sagen: um zu erkennen, welche Eigenschaften
einem Dinge wesentlich sind, dazu gehöre schon eine gewisse
Norm, die es uns möglich macht, Wesentliches von Unwesentlichem
zu unterscheiden. Diese Norm kann in dem Objekte nicht liegen, denn
dieses enthält ja das Wesentliche und Unwesentliche in ungetrennter
Einheit. Diese Norm müsse also doch selbsteigener Inhalt unseres
Denkens sein.
Dieser Einwand stößt aber die Ansicht noch nicht ganz um. Man
kann nämlich sagen: Das sei eben eine ungerecht-fertigte Annahme,
daß dies oder jenes wesentlicher oder unwesentlicher für ein
Ding sei. Das kümmere uns auch nicht. Es handle sich bloß darum,
daß wir gewisse gleiche Eigenschaften bei mehreren Dingen
antreffen, und die letzteren nennen wir dann gleichartig. Davon
sei gar nicht die Rede, daß diese gleichen Eigenschaften auch
wesentlich seien. Diese Anschauung setzt aber etwas voraus, was
durchaus nicht zutrifft. Es ist in zwei Dingen gleicher Gattung gar
nichts wirklich Gemeinschaftliches, wenn man bei der Sinnenerfahrung
stehen bleibt. Ein Beispiel wird das klarlegen. Das einfachste
ist das beste, weil es sich am besten überschauen läßt.
Betrachten wir folgende zwei Dreiecke.
Was haben die wirklich gleich, wenn man bei der Sinnenerfahrung stehen
bleibt? Gar nichts. Was sie gleich haben, nämlich das Gesetz, nach dem
sie gebildet sind und welches bewirkt, daß sie beide unter den
Begriff «Dreieck» fallen, das wird von uns erst gewonnen, wenn wir
die Sinnenerfahrung überschreiten. Der Begriff «Dreieck»
umfaßt alle Dreiecke. Wir kommen nicht durch die bloße
Betrachtung aller einzelnen Dreiecke zu ihm. Dieser Begriff bleibt
immer derselbe, so oft ich ihn auch vorstellen mag, während es mir
wohl kaum gelingen wird, zweimal dasselbe «Dreieck»
anzuschauen. Das, wodurch das Einzeldreieck das vollbestimmte «dieses»
und kein anderes ist, hat mit dem Begriffe gar nichts zu tun. Ein
bestimmtes Dreieck ist dieses bestimmte nicht dadurch,
daß es jenem Begriffe entspricht, sondern durch Elemente, die
ganz außerhalb des Begriffes liegen: Länge der Seiten,
Größe der Winkel, Lage usw. Es ist aber doch ganz unstatthaft
zu behaupten, daß der Inhalt des Begriffes «Dreieck» aus
der objektiven Sinnenwelt entlehnt sei, wenn man sieht, daß
dieser sein Inhalt überhaupt in keiner sinnenfälligen Erscheinung
enthalten ist.
3. Es ist nun noch ein Drittes möglich. Der Begriff könnte ja der
Vermittler für das Erfassen von Wesenheiten sein, die nicht
sinnlichwahrnehmbar sind, die aber doch einen auf sich selbst
beruhenden Charakter haben. Der letztere wäre dann der
unbegriffliche Inhalt der begrifflichen Form unseres Denkens.
Wer solche jenseits der Erfahrung bestehende Wesenheiten annimmt und
uns die Möglichkeit eines Wissens von denselben zuspricht, muß
doch notwendig auch in dem Begriffe den Dolmetsch dieses Wissens
sehen.
Wir werden das Unzulängliche dieser Ansicht noch besonders darlegen.
Hier wollen wir nur darauf aufmerksam machen, daß sie jedenfalls
nicht gegen die Inhaltlichkeit der Begriffswelt spricht. Denn
lägen die Gegenstände, über die gedacht wird, jenseits aller Erfahrung
und jenseits des Denkens, dann müßte das letztere doch um so
mehr innerhalb seiner selbst den Inhalt haben, auf den es sich stützt.
Es könnte doch nicht über Gegenstände denken, von denen innerhalb der
Gedankenwelt keine Spur anzutreffen wäre.
Jedenfalls ist also klar, daß das Denken kein inhaltsleeres
Gefäß ist, sondern daß es rein für sich selbst genommen
inhaltsvoll ist und daß sich sein Inhalt nicht mit dem einer
andern Erscheinungsform deckt.
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