11. Denken und Wahrnehmung
Die Wissenschaft durchtränkt die wahrgenommene Wirklichkeit mit den
von unserm Denken erfaßten und durchge-arbeiteten Begriffen. Sie
ergänzt und vertieft das passiv Aufgenommene durch das, was unser
Geist selbst durch seine Tätigkeit aus dem Dunkel der bloßen
Möglichkeit in das Licht der Wirklichkeit emporgehoben hat. Das setzt
voraus, daß die Wahrnehmung der Ergänzung durch den Geist
bedarf, daß sie überhaupt kein Endgültiges, Letztes,
Abgeschlossenes ist.
Es ist der Grundirrtum der modernen Wissenschaft, daß sie die
Wahrnehmung der Sinne schon für etwas Abgeschlossenes, Fertiges
ansieht. Deshalb stellt sie sich die Aufgabe, dieses in sich
vollendete Sein einfach zu photographieren. Konsequent ist in dieser
Hinsicht wohl nur der Positivismus, der jedes Hinausgehen über die
Wahrnehmung einfach ablehnt. Doch sieht man heute fast in allen
Wissenschaften das Bestreben, diesen Standpunkt als den richtigen
anzusehen. Im wahren Sinne des Wortes würde dieser Forderung nur eine
solche Wissenschaft genügen, welche einfach die Dinge, wie sie
nebeneinander im Raume vorhanden sind, und die Ereignisse, wie sie
zeitlich aufeinander folgen, aufzählt und beschreibt. Die
Naturgeschichte alten Stiles kommt dieser Forderung noch am nächsten.
Die neuere verlangt zwar dasselbe, stellt eine vollständige Theorie
der Erfahrung auf, um sie - sogleich zu übertreten, wenn sie den
ersten Schritt in der wirklichen Wissenschaft unternimmt.
Wir müßten uns unseres Denkens vollkommen entäußern,
wollten wir an der reinen Erfahrung festhalten. Man setzt das Denken
herab, wenn man ihm die Möglichkeit entzieht, in sich selbst
Wesenheiten wahrzunehmen, die den Sinnen unzugänglich sind. Es
muß in der Wirklichkeit außer den Sinnesqualitäten noch
einen Faktor geben, der vom Denken erfaßt wird. Das Denken ist
ein Organ des Menschen, das bestimmt ist, Höheres zu beobachten als
die Sinne bieten. Dem Denken ist jene Seite der Wirklichkeit
zugänglich, von der ein bloßes Sinnenwesen nie etwas erfahren
würde. Nicht die Sinnlichkeit wiederzukäuen ist es da, sondern das
zu durchdringen, was dieser verborgen ist. Die Wahrnehmung der Sinne
liefert nur eine Seite der Wirklichkeit. Die andere
Seite ist die denkende Erfassung der Welt. Nun tritt uns aber im
ersten Augenblick das Denken als etwas der Wahrnehmung ganz Fremdes
entgegen. Die Wahrnehmung dringt von außen auf uns ein; das
Denken arbeitet sich aus unserm Inneren heraus. Der Inhalt dieses
Denkens erscheint uns als innerlich vollkommener Organismus; alles
ist im strengsten Zusammenhange. Die einzelnen Glieder des
Gedankensystems bestimmen einander; jeder einzelne Begriff hat
zuletzt seine Wurzel in der Allheit unseres Gedankengebäudes.
Auf den ersten Blick erscheint es, als ob die innere
Widerspruchslosigkeit des Denkens, seine Selbstgenügsamkeit jeden
Übergang zur Wahrnehmung unmöglich mache. Wären die Bestimmungen des
Denkens solche, daß man ihnen nur auf eine Art genügen
könnte, dann wäre es wirklich in sich selbst abgeschlossen; wir
könnten aus demselben nicht heraus. Das ist aber nicht der Fall. Diese
Bestimmungen sind solche, daß ihnen auf mannigfache Weise
Genüge geschehen kann. Nur darf dann dasjenige Element, welches diese
Mannigfaltigkeit bewirkt, nicht selbst innerhalb des Denkens
gesucht werden. Nehmen wir die Gedankenbestimmung: Die Erde zieht
jeden Körper an, so werden wir alsbald bemerken, daß der
Gedanke die Möglichkeit offen läßt, in der verschiedensten Weise
erfüllt zu werden. Das sind aber Verschiedenheiten, die mit dem
Denken nicht mehr erreichbar sind. Da ist Platz für ein anderes
Element. Dieses Element ist die Sinneswahrnehmung. Die Wahrnehmung
bietet eine solche Art der Spezialisierung der Gedankenbestimmungen,
die von den letzteren selbst offen gelassen ist.
Diese Spezialisierung ist es, in der uns die Welt gegenübertritt, wenn
wir uns bloß der Erfahrung bedienen. Psychologisch ist das das
erste, was sachlich genommen das Abgeleitete ist.
Bei aller wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit ist der
Vorgang dieser: Wir treten der konkreten Wahrnehmung gegenüber. Sie
steht wie ein Rätsel vor uns. In uns macht sich der Drang geltend, ihr
eigentliches Was, ihr Wesen, das sie nicht selbst
ausspricht, zu erforschen. Dieser Drang ist nichts anderes als das
Emporarbeiten eines Begriffes aus dem Dunkel unseres
Bewußtseins. Diesen Begriff halten wir dann fest, während die
sinnenfällige Wahrnehmung mit diesem Denkprozesse parallel geht. Die
stumme Wahrnehmung spricht plötzlich eine uns verständliche Sprache;
wir erkennen, daß der Begriff, den wir gefaßt haben,
jenes gesuchte Wesen der Wahrnehmung ist.
Was sich da vollzogen hat, ist ein Urteil. Es ist verschieden von
jener Gestalt des Urteils, die zwei Begriffe verbindet, ohne auf die
Wahrnehmung Rücksicht zu nehmen. Wenn ich sage: Die Freiheit ist die
Bestimmung eines Wesens aus sich selbst heraus, so habe ich auch ein
Urteil gefällt. Die Glieder dieses Urteils sind Begriffe, die ich
nicht in der Wahrnehmung gegeben habe. Auf solchen Urteilen beruht
die innere Einheitlichkeit unseres Denkens, die wir im vorigen Kapitel
behandelt haben.
Das Urteil, welches hier in Betracht kommt, hat zum Subjekte eine
Wahrnehmung, zum Prädikate einen Begriff. Dieses bestimmte Tier, das
ich vor mir habe, ist ein Hund. In einem solchen Urteile wird eine
Wahrnehmung in mein Gedankensystem an einem bestimmten Orte eingefügt.
Nennen wir ein solches Urteil ein Wahrnehmungsurteil.
Durch das Wahrnehmungsurteil wird erkannt, daß ein bestimmter
sinnenfälliger Gegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten
Begriffe zusammenfällt.
Wollen wir also begreifen, was wir wahrnehmen, dann muß die
Wahrnehmung als bestimmter Begriff in uns vorgebildet sein. An
einem Gegenstande, bei dem das nicht der Fall wäre, gingen wir, ohne
daß er uns verständlich wäre, vorüber.
Daß das so ist, dafür liefert wohl der Umstand den besten
Beweis, daß Personen, welche ein reicheres Geistesleben führen,
auch viel tiefer in die Erfahrungswelt eindringen, als andere, bei
denen das nicht der Fall ist. Vieles, was an den letzteren spurlos
vorübergeht, macht auf die ersteren einen tiefen Eindruck. («Wär'
nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken.») Ja
aber, wird man sagen, treten wir nicht im Leben unendlich vielen
Dingen entgegen, von denen wir uns bisher nicht den leisesten Begriff
gemacht haben; und bilden wir uns denn nicht an Ort und Stelle
sogleich Begriffe von ihnen? Ganz wohl. Aber ist denn die Summe aller
möglichen Begriffe mit der Summe derer, die ich mir in meinem
bisherigen Leben gebildet habe, identisch? Ist mein Begriffssystem
nicht entwicklungsfähig? Kann ich im Angesichte einer mir
unverständlichen Wirklichkeit nicht sogleich mein Denken in
Wirksamkeit versetzen, auf daß es eben auch an Ort und Stelle
den Begriff entwickle, den ich einem Gegenstande entgegenzuhalten
habe? Es ist für mich nur die Fähigkeit erforderlich, einen
bestimmten Begriff aus dem Fonds der Gedankenwelt hervorgehen zu
lassen. Nicht darum handelt es sich, daß mir ein bestimmter
Gedanke im Laufe meines Lebens schon bewußt war, sondern darum,
daß er sich aus der Welt der mir erreichbaren Gedanken ableiten
läßt. Das ist ja für seinen Inhalt unwesentlich, wo und wann ich
ihn erfasse., Ich entnehme ja alle Bestimmungen des Gedankens aus der
Gedankenwelt. Von dem Sinnesobjekte fließt in diesen Inhalt ja
doch nichts ein. Ich erkenne in dem Sinnesobjekt den Gedanken, den ich
aus meinem Inneren herausgeholt, nur wieder. Dieses Objekt
veranlaßt mich zwar, in einem bestimmten Augenblicke gerade
diesen Gedankeninhalt aus der Einheit aller möglichen Gedanken
herauszutreiben, aber es liefert mir keineswegs die Bausteine zu
denselben. Die muß ich aus mir selbst herausholen.
Wenn wir unser Denken wirken lassen, bekommt die Wirklichkeit erst
wahrhafte Bestimmungen. Sie, die vorher stumm war, redet eine
deutliche Sprache.
Unser Denken ist der Dolmetsch, der die Gebärden der Erfahrung
deutet.
Man ist so gewohnt, die Welt der Begriffe für eine leere, inhaltslose
anzusehen, und ihr die Wahrnehmung als das Inhaltsvolle, durch und
durch Bestimmte gegenüberzustellen, daß es für den wahren
Sachverhalt schwer sein wird, sich die ihm gebührende Stellung zu
erringen. Man übersieht vollständig, daß die bloße
Anschauung das Leerste ist, was sich nur denken läßt, und
daß sie allen Inhalt erst aus dem Denken erhält. Das einzige
Wahre an der Sache ist, daß sie den immer flüssigen Gedanken in
einer bestimmten Form festhält, ohne daß wir nötig haben, zu
diesem Festhalten tätig mitzuwirken. Wenn der eine, der ein reiches
Seelenleben hat, tausend Dinge sieht, die für den geistig Armen eine
Null sind, so beweist das sonnenklar, daß der Inhalt der
Wirklichkeit nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes ist und
daß wir von außen nur die leere Form empfangen. Freilich
müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses
Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie
unseren Geist, der sich spiegelt. Auch der sich in einem faktischen
Spiegel sieht, muß sich ja selbst als Persönlichkeit erkennen,
um sich im Bilde wieder zu erkennen.
Alle Sinnenwahrnehmung löst sich, was das Wesen betrifft, zuletzt in
ideellen Inhalt auf. Dann erst erscheint sie uns als durchsichtig und
klar. Die Wissenschaften sind vielfach von dem Bewußtsein
dieser Wahrheit nicht einmal berührt. Man hält die Gedankenbestimmung
für Merkmale der Gegenstände, wie Farbe, Geruch usw. So glaubt
man, die Bestimmung sei eine Eigenschaft aller Körper, daß sie
in dem Zustande der Bewegung oder Ruhe, in dem sie sich befinden, so
lange verharren, bis ein äußerer Einfluß denselben
ändert. In dieser Form figuriert das Gesetz vom Beharrungsvermögen in
der Naturlehre. Der wahre Tatbestand ist aber ein ganz anderer. In
meinem Begriffssystem besteht der Gedanke Körper in vielen
Modifikationen. Die eine ist der Gedanke eines Dinges, das sich aus
sich selbst heraus in Ruhe oder Bewegung setzen kann, eine andere der
Begriff eines Körpers, der nur infolge äußeren Einflusses seinen
Zustand verändert. Letztere Körper bezeichne ich als unorganische.
Tritt mir dann ein bestimmter Körper entgegen, der mir in der
Wahrnehmung meine obige Begriffsbestimmung widerspiegelt, so bezeichne
ich ihn als unorganisch und verbinde mit ihm alle
Bestimmungen, die aus dem Begriffe des unorganischen Körpers folgen.
Die Überzeugung sollte alle Wissenschaften durchdringen,
daß ihr Inhalt lediglich Gedankeninhalt ist und daß sie
mit der Wahrnehmung in keiner anderen Verbindung stehen, als
daß sie im Wahrnehmungsobjekte eine besondere Form des Begriffes
sehen.
|