12. Verstand und Vernunft
Unser Denken hat eine zweifache Aufgabe ,zu vollbringen: erstens,
Begriffe mit scharf umrissenen Konturen zu schaffen; zweitens, die so
geschaffenen Einzelbegriffe zu einem einheitlichen Ganzen
zusammenzufassen. Im ersten Falle handelt es sich um die
unterscheidende Tätigkeit, im zweiten um die verbindende. Diese
beiden geistigen Tendenzen erfreuen sich in den Wissenschaften
keineswegs der gleichen Pflege. Der Scharfsinn, der bis zu den
geringsten Kleinigkeiten in seinen Unterscheidungen herabgeht, ist
einer bedeutend größeren Zahl von Menschen gegeben als die
zusammenfassende Kraft des Denkens, die in die Tiefe der Wesen dringt.
Lange Zeit hat man die Aufgabe der Wissenschaft überhaupt nur in
einer genauen Unterscheidung der Dinge gesucht. Wir brauchen nur des
Zustandes zu gedenken, in dem Goethe die Naturgeschichte vorfand.
Durch Linné war es ihr zum Ideale geworden, genau die Unterschiede der
einzelnen Pflanzenindividuen zu suchen, um so die geringfügigsten
Merkmale benutzen zu können, neue Arten und Unterarten aufzustellen.
Zwei Tier- oder Pflanzenspezies, die sich nur in höchst unwesentlichen
Dingen unterscheiden, wurden sogleich verschiedenen Arten
zugerechnet. Fand man an irgendeinem Lebewesen, das man bisher
irgendeiner Art zugerechnet, eine unerwartete Abweichung von dem
willkürlich aufgestellten Artcharakter, so dachte man nicht nach: wie
sich eine solche Abweichung aus diesem Charakter selbst erklären
lasse, sondern man stellte einfach eine neue Art auf.
Diese Unterscheidung ist die Sache des Verstandes. Er hat nur zu
trennen und die Begriffe in der Trennung festzuhalten. Er ist eine
notwendige Vorstufe jeder höheren Wissenschaftlichkeit. Vor allem
bedarf es ja festbestimmter, klar umrissener Begriffe, ehe wir nach
einer Harmonie derselben suchen können. Aber wir dürfen bei der
Trennung nicht stehen bleiben. Für den Verstand sind Dinge getrennt,
die in einer harmonischen Einheit zu sehen, ein wesentliches Bedürfnis
der Menschheit ist. Für den Verstand sind getrennt: Ursache und
Wirkung, Mechanismus und Organismus, Freiheit und Notwendigkeit, Idee
und Wirklichkeit, Geist und Natur und so weiter. Alle diese
Unterscheidungen sind durch den Verstand herbeigeführt. Sie müssen
herbeigeführt werden, weil uns sonst die Welt als ein
verschwommenes, dunkles Chaos erschiene, das nur deshalb eine Einheit
bildete, weil es für uns völlig unbestimmt wäre.
Der Verstand selbst ist nicht in der Lage, über diese Trennung
hinauszukommen. Er hält die getrennten Glieder fest.
Dieses Hinauskommen ist Sache der Vernunft. Sie hat die vom Verstande
geschaffenen Begriffe ineinander übergehen zu lassen. Sie hat zu
zeigen, daß das, was der Verstand in strenger Trennung festhält,
eigentlich eine innerliche Einheit ist. Die Trennung ist etwas
künstlich herbeigeführtes, ein notwendiger Durchgangspunkt für unser
Erkennen, nicht dessen Abschluß. Wer die Wirklichkeit bloß
verstandesmäßig erfaßt, entfernt sich von ihr. Er setzt
an ihre Stelle, da sie in Wahrheit eine Einheit ist,
eine künstliche Vielheit, eine Mannigfaltigkeit, die mit dem
Wesen der Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Daher rührt der Zwiespalt, in den die verstandesmäßig betriebene
Wissenschaft mit dem menschlichen Herzen kommt. Viele Menschen, deren
Denken nicht so ausgebildet ist, daß sie es bis zu einer
einheitlichen Weltansicht bringen, die sie in voller begrifflicher
Klarheit erfassen, sind aber sehr wohl imstande, die innere Harmonie
des Weltganzen mit dem Gefühle zu durchdringen. Ihnen gibt das Herz,
was dem wissenschaftlich Gebildeten die Vernunft bietet.
Tritt an solche Menschen die Verstandesansicht der Welt heran, so
weisen sie mit Verachtung die unendliche Vielheit zurück und halten
sich an die Einheit, die sie wohl nicht erkennen, aber mehr oder
minder lebhaft empfinden. Sie sehen sehr wohl, daß der Verstand
sich von der Natur entfernt, daß er das geistige Band aus dem
Auge verliert, das die Teile der Wirklichkeit verbindet.
Die Vernunft führt wieder zur Wirklichkeit zurück. Die Einheitlichkeit
alles Seins, die früher gefühlt oder gar nur dunkel geahnt
wurde, wird von der Vernunft vollkommen durchschaut. Die
Verstandesansicht muß durch die Vernunftansicht vertieft werden.
Wird die erste statt für einen notwendigen Durchgangspunkt für
Selbstzweck angesehen, dann liefert sie nicht die Wirklichkeit,
sondern ein Zerrbild derselben.
Es macht bisweilen Schwierigkeiten, die durch den Verstand
geschaffenen Gedanken zu verbinden. Die Geschichte der Wissenschaften
liefert uns vielfache Beweise dafür. Oft sehen wir den Menschengeist
ringen, von dem Verstande geschaffene Differenzen zu überbrücken.
In der Vernunftansicht von der Welt geht der Mensch in der letzteren
in ungetrennter Einheit auf.
Kant hat auf den Unterschied von Verstand und Vernunft bereits
hingewiesen. Er bezeichnet die Vernunft als das Vermögen, Ideen
wahrzunehmen; wogegen der Verstand darauf beschränkt ist, bloß
die Welt in ihrer Getrenntheit, Vereinzelung zu schauen.
Die Vernunft ist nun in der Tat das Vermögen, Ideen wahrzunehmen. Wir
müssen hier den Unterschied zwischen Begriff und Idee feststellen, den
wir bisher außer acht gelassen haben. Für unsere bisherigen
Zwecke kam es nur darauf an, jene Qualitäten des
Gedankenmäßigen, die sich in Begriff und Idee darleben,
zu finden. Begriff ist der Einzelgedanke, wie er vom Verstande
festgehalten wird. Bringe ich eine Mehrheit von solchen Einzelgedanken
in lebendigen Fluß, so daß sie ineinander übergehen, sich
verbinden, so entstehen gedankenmäßige Gebilde, die nur für die
Vernunft da sind, die der Verstand nicht erreichen kann. Für die
Vernunft geben die Geschöpfe des Verstandes ihre gesonderten
Existenzen auf und leben nur mehr als ein Teil einer Totalität weiter.
Diese von der Vernunft geschaffenen Gebilde sollen Ideen
heißen.
Daß die Idee eine Vielheit von Verstandesbegriffen auf eine
Einheit zurückführt, das hat auch schon Kant ausgesprochen. Er hat
jedoch die Gebilde, die durch die Vernunft zur Erscheinung kommen, als
bloße Trugbilder hingestellt, als Illusionen, die sich der
Menschengeist ewig vorspiegelt, weil er ewig nach einer Einheit der
Erfahrung strebt, die ihm nirgend gegeben ist. Die Einheiten, die in
den Ideen geschaffen werden, beruhen nach Kant nicht auf objektiven
Verhältnissen, sie fließen nicht aus der Sache selbst, sondern
sind bloß subjektive Normen, nach denen wir Ordnung in unser
Wissen bringen. Kant bezeichnet daher die Ideen nicht als konstitutive
Prinzipien, die für die Sache maßgebend sein müßten,
sondern als regulative, die allein für die Systematik unseres Wissens
Sinn und Bedeutung haben.
Sieht man aber auf die Art, wie die Ideen zustande kommen, so erweist
sich diese Ansicht sogleich als irrtümlich. Es ist zwar richtig,
daß die subjektive Vernunft das Bedürfnis nach Einheit hat.
Aber dieses Bedürfnis ist ohne allen Inhalt, ein leeres
Einheitsbestreben. Tritt ihm etwas entgegen, das absolut jeder
einheitlichen Natur entbehrt, so kann es diese Einheit nicht selbst
aus sich heraus erzeugen. Tritt ihm hingegen eine Vielheit entgegen,
die ein Zurückführen auf eine innere Harmonie gestattet, dann
vollbringt sie dasselbe. Eine solche Vielheit ist die vom Verstande
geschaffene Begriffswelt.
Die Vernunft setzt nicht eine bestimmte Einheit voraus, sondern die
leere Form der Einheitlichkeit, sie ist das Vermögen, die Harmonie an
das Tageslicht zu ziehen, wenn sie im Objekte selbst liegt. Die
Begriffe setzen sich in der Vernunft selbst zu Ideen zusammen. Die
Vernunft bringt die höhere Einheit der Verstandesbgriffe zum
Vorschein, die der Verstand in seinen Gebilden zwar hat, aber nicht
zu sehen vermag. Daß dies übersehen wird, ist der Grund
vieler Mißverständnisse über die Anwendung der Vernunft in den
Wissenschaften.
In geringem Grade hat jede Wissenschaft schon in den Anfängen, ja das
alltägliche Denken schon Vernunft nötig. Wenn wir in dem Urteile:
Jeder Körper ist schwer, den Subjektsbegriff mit dem Prädikatsbegriff
verbinden, so liegt darinnen schon eine Vereinigung von zwei
Begriffen, also die einfachste Tätigkeit der Vernunft.
Die Einheit, welche die Vernunft zu ihrem Gegenstande macht, ist
vor allem Denken, vor allem Vernunftgebrauche gewiß; nur
ist sie verborgen, ist nur der Möglichkeit nach vorhanden, nicht als
faktische Erscheinung. Dann führt der Menschengeist die Trennung
herbei, um im vernunftgemäßen Vereinigen der getrennten Glieder
die Wirklichkeit vollständig zu durchschauen.
Wer das nicht voraussetzt, muß entweder alle Gedankenverbindung
als eine Willkür des subjektiven Geistes ansehen, oder er muß
annehmen, daß die Einheit hinter der von uns erlebten Welt stehe
und uns auf eine uns unbekannte Weise zwinge, die Mannigfaltigkeit auf
eine Einheit zurückzuführen. Dann verbinden wir Gedanken ohne
Einsicht in die wahren Gründe des Zusammenhanges, den wir herstellen;
dann ist die Wahrheit nicht von uns erkannt, sondern uns von
außen aufgedrängt. Alle Wissenschaft, welche von dieser
Voraussetzung ausgeht, möchten wir eine dogmatische nennen. Wir
werden noch darauf zurückkommen.
Jede solche wissenschaftliche Ansicht wird auf Schwierigkeiten
stoßen, wenn sie Gründe angeben soll, warum wir diese oder jene
Gedankenverbindung vollziehen. Sie hat sich nämlich nach subjektiven
Gründen der Zusammenfassung von Objekten umzusehen, deren objektiver
Zusammenhang uns verborgen bleibt. Warum vollziehe ich ein Urteil,
wenn die Sache, die die Zusammengehörigkeit von Subjekt- und
Prädikatbegriff fordert, mit dem Fällen desselben nichts zu tun hat?
Kant hat diese Frage zum Ausgangspunkte seiner kritischen Arbeit
gemacht. Wir finden am Anfange seiner «Kritik der reinen Vernunft»
die Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? das
heißt, wie ist es möglich, daß ich zwei Begriffe (Subjekt,
Prädikat) verbinde, wenn nicht der Inhalt des einen schon in dem
andern enthalten ist und wenn das Urteil kein bloßes
Erfahrungsurteil, d. i. das Feststellen einer einzigen Tatsache ist?
Kant meint, solche Urteile seien nur dann möglich, wenn Erfahrung nur
unter der Voraussetzung ihrer Gültigkeit bestehen kann. Die
Möglichkeit der Erfahrung ist also für uns maßgebend, um ein
solches Urteil zu vollziehen. Wenn ich mir sagen kann: nur dann, wenn
dieses oder jenes synthetische Urteil apriori wahr ist, ist Erfahrung
möglich, dann hat es Gültigkeit. Auf die Ideen selbst aber ist das
nicht anzuwenden. Diese haben nach Kant nicht einmal diesen Grad von
Objektivität.
Kant findet, daß die Sätze der Mathematik und der reinen
Naturwissenschaft solche gültige synthetische Sätze a priori
sind. Er nimmt da zum Beispiel den Satz 7 + 5 = 12 . In
7 und 5 ist die Summe 12 keineswegs
enthalten, so schließt Kant. Ich muß über 7 und
5 hinausgehen und an meine Anschauung appellieren,
dann finde ich den Begriff 12 . Meine Anschauung macht es notwendig,
daß 7 + 5 = 12 vorgestellt wird. Meine Erfahrungsobjekte
müssen aber durch das Medium meiner Anschauung an mich herantreten, sich also
deren Gesetzen fügen. Wenn Erfahrung möglich sein soll, müssen solche
Sätze richtig sein.
Vor einer objektiven Erwägung hält dieses ganze künstliche
Gedankengebäude Kants nicht stand. Es ist unmöglich, daß ich im
Subjektbegriffe gar keinen Anhaltspunkt habe, der mich zum
Prädikatbegriffe führt. Denn beide Begriffe sind von meinem Verstande
gewonnen und das an einer Sache, die in sich einheitlich ist. Man
täusche sich hier nicht. Die mathematische Einheit, welche der Zahl
zugrunde liegt, ist nicht das erste. Das erste ist die Größe,
welche eine so und so oftmalige Wiederholung der Einheit ist. Ich
muß eine Größe voraussetzen, wenn ich von einer Einheit
spreche. Die Einheit ist ein Gebilde unseres Verstandes, das er von
einer Totalität abtrennt, so wie er die Wirkung von der Ursache, die
Substanz von ihren Merkmalen scheidet usw. Indem ich nun 7 + 5
denke, halte ich in Wahrheit 12 mathematische Einheiten im
Gedanken fest, nur nicht auf einmal, sondern in zwei Teilen. Denke ich die
Gesamtheit der mathematischen Einheiten auf einmal, so ist das ganz dieselbe
Sache. Und diese Identität spreche ich in dem Urteile
7 + 5 = 12 aus. Ebenso ist es mit dem geometrischen Beispiele,
das Kant anführt. Eine begrenzte Gerade mit den Endpunkten A und
B ist eine untrennbare Einheit. Mein Verstand kann sich zwei Begriffe
davon bilden. Einmal kann er die Gerade als Richtung annehmen und
dann als Weg zwischen den zwei Punkten A und B. Daraus
fließt das Urteil: Die Gerade ist der kürzeste Weg zwischen
zwei Punkten.
Alles Urteilen, insofern die Glieder, die in das Urteil eingehen,
Begriffe sind, ist nichts weiter als eine Wiedervereinigung dessen,
was der Verstand getrennt hat. Der Zusammenhang ergibt sich sofort,
wenn man auf den Inhalt der Verstandesbegriffe eingeht.
|