II. Kant's erkenntnistheoretische Grundfrage
Als der
Begründer der Erkenntnistheorie im modernen Sinne des Wortes wird
gewöhnlich Kant genannt. Gegen diese Auffassung könnte man
wohl mit Recht einwenden, daß die Geschichte der Philosophie vor
Kant zahlreiche Untersuchungen aufweist, die denn doch als mehr denn
als bloße Keime zu einer solchen Wissenschaft anzusehen sind.
So bemerkt auch Volkelt in seinem grundlegenden Werke über Erkenntnistheorie,
daß schon mit Locke die kritische Behandlung dieser Wissenschaft
ihren Anfang genommen habe. Aber auch bei noch früheren Philosophen,
ja schon in der Philosophie der Griechen, findet man Erörterungen,
die gegenwärtig in der Erkenntnistheorie angestellt zu werden pflegen.
Indessen sind durch Kant alle hier in Betracht kommenden Probleme in
ihren Tiefen aufgewühlt worden, und an ihn anknüpfend haben
zahlreiche Denker dieselben so allseitig durchgearbeitet, daß
man die bereits früher vorkommenden Lösungsversuche entweder
bei Kant selbst oder bei seinen Epigonen wiederfindet. Wenn es sich
also um ein rein sachliches und nicht um ein historisches Studium
der Erkenntnistheorie
[ 7 ]
handelt, so wird man kaum
an einer wichtigen Erscheinung vorübergehen, wenn man bloß
die Zeit seit Kants Auftreten mit der Kritik der reinen Vernunft in
Rechnung bringt. Was vorher auf diesem Felde geleistet worden ist, wiederholt
sich in dieser Epoche wieder.
Kants
erkenntnistheoretische Grundfrage ist: Wie sind synthetische Urteile
a priori möglich? Sehen wir diese Frage einmal auf ihre Voraussetzungslosigkeit
hin an! Kant wirft dieselbe deswegen auf, weil er der Meinung ist, daß
wir ein unbedingt gewisses Wissen nur dann erlangen können, wenn
wir in der Lage sind, die Berechtigung synthetischer Urteile a priori
nachzuweisen. Er sagt: «In der Auflösung obiger Aufgabe ist
zugleich die Möglichkeit des reinen Vernunftgebrauches in Gründung
und Ausführung aller Wissenschaften, die eine theoretische Erkenntnis
a priori von Gegenständen enthalten, mit begriffen»
[ 8 ]
und «Auf die Auflösung dieser Aufgabe nun kommt das Stehen
und Fallen der Metaphysik, und also ihre Existenz gänzlich an».
[ 9 ]
Ist diese
Frage nun, so wie Kant sie stellt, voraussetzungslos? Keineswegs, denn
sie macht die Möglichkeit eines unbedingt gewissen Systems vom
Wissen davon abhängig, daß es sich nur aus synthetischen
und aus solchen Urteilen aufbaut, die unabhängig von aller Erfahrung
gewonnen werden. Synthetische Urteile nennt Kant solche, bei welchen der
Prädikatbegriff etwas zum Subjektbegriff hinzubringt, was ganz
außer demselben liegt, «ob es zwar mit demselben in
Verknüpfung steht»
[ 10 ],
wogegen bei den analytischen
Urteilen das Prädikat nur etwas aussagt, was (versteckterweise)
schon im Subjekt enthalten ist. Es kann hier wohl nicht der Ort sein,
auf die scharfsinnigen Einwände Johannes Rehmkes
[ 11 ]
gegen diese Gliederung der Urteile einzugehen. Für unseren gegenwärtigen
Zweck genügt es, einzusehen, daß wir ein wahrhaftes Wissen
nur durch solche Urteile erlangen können, die zu einem Begriffe
einen zweiten hinzufügen, dessen Inhalt wenigstens für
uns in jenem ersten noch nicht gelegen war. Wollen wir diese Klasse
von Urteilen mit Kant synthetische nennen, so können wir
immerhin zugestehen, daß Erkenntnisse in Urteilsform nur dann
gewonnen werden können, wenn die Verbindung des Prädikats
mit dem Subjekte eine solche synthetische ist. Anders aber steht die
Sache mit dem zweiten Teil der Frage, der verlangt, daß diese
Urteile a priori, d. i. unabhängig von aller Erfahrung, gewonnen
sein müssen. Es ist ja durchaus möglich (wir meinen hiermit
natürlich die bloße Denkmöglichkeit), daß es solche
Urteile überhaupt gar nicht gibt. Für den Anfang der Erkenntnistheorie
muß es als gänzlich unausgemacht gelten, ob wir anders als
durch Erfahrung, oder nur durch diese zu Urteilen kommen können.
Ja, einer unbefangenen Überlegung gegenüber scheint eine solche
Unabhängigkeit von vornherein unmöglich. Denn was auch immer
Gegenstand unseres Wissens werden mag: es muß doch einmal als
unmittelbares, individuelles Erlebnis an uns herantreten, das heißt
zur Erfahrung werden. Auch die mathematischen Urteile gewinnen wir auf
keinem anderen Wege, als indem wir sie in bestimmten einzelnen Fällen
erfahren. Selbst wenn man , wie z. B. Otto Liebmann (Zur Analysis
der Wirklichkeit. Gedanken und Tatsachen), dieselben in einer gewissen
Organisation unseres Bewußtseins begründet sein läßt,
so stellt sich die Sache nicht anders dar. Man kann dann wohl sagen:
dieser oder jener Satz sei notwendig gültig, denn würde seine
Wahrheit aufgehoben, so würde das Bewußtsein mit aufgehoben:
aber den Inhalt desselben als Erkenntnis können wir doch nur gewinnen,
wenn er einmal Erlebnis für uns wird, ganz in derselben Weise wie
ein Vorgang in der äußeren Natur. Mag immer der Inhalt eines
solchen Satzes Elemente enthalten, die seine absolute Gültigkeit
verbürgen, oder mag dieselbe aus anderen Gründen gesichert
sein: ich kann seiner nicht anders habhaft werden, als wenn er mir einmal
als Erfahrung gegenübertritt. Dies ist das eine.
Das zweite
Bedenken besteht darin, daß man am Beginne der erkenntnistheoretischen
Untersuchungen durchaus nicht behaupten darf, aus der Erfahrung können
keine unbedingt gültigen Erkenntnisse stammen. Es ist zweifellos
ganz gut denkbar, daß die Erfahrung selbst ein Kennzeichen aufwiese,
durch welches die Gewißheit der aus ihr gewonnenen Einsichten
verbürgt würde.
So liegen
in der Kantschen Fragestellung zwei Voraussetzungen: erstens, daß
wir außer der Erfahrung noch einen Weg haben müssen, um zu
Erkenntnissen zu gelangen, und zweitens, daß alles Erfahrungswissen
nur bedingte Gültigkeit haben könne. Daß diese Sätze
einer Prüfung bedürftig sind, daß sie bezweifelt werden
können, dies kommt Kant gar nicht zum Bewußtsein. Er nimmt
sie einfach als Vorurteile aus der dogmatischen Philosophie herüber
und legt sie seinen kritischen Untersuchungen zum Grunde. Die dogmatische
Philosophie setzt sie als gültig voraus und wendet sie einfach
an, um zu einem ihnen entsprechenden Wissen zu gelangen; Kant setzt
sie als gültig voraus und fragt sich nur: unter welchen Bedingungen
können sie gültig sein? Wie: wenn sie aber überhaupt
nicht gültig sind? Dann fehlt dem Kantschen Lehrgebäude jede
Grundlage. Alles, was Kant in den fünf Paragraphen, die der Formulierung
seiner Grundfrage vorangehen, vorbringt, ist der Versuch eines Beweises,
daß die mathematischen Urteile synthetisch sind.
[ 12 ]
Aber gerade die von uns angeführten zwei Voraussetzungen bleiben
als wissenschaftliche Vorurteile stehen. In Einleitung II der Kritik
der reinen Vernunft heißt es: «Erfahrung lehrt uns zwar,
daß etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es
nicht anders sein könne» und: «Erfahrung gibt niemals
ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative
Allgemeinheit (durch Induktion).» In Prolegomena Paragraph 1 finden
wir: «Zuerst, was die Quellen einer metaphysischen Erkenntnis
betrifft: so liegt es schon in ihrem Begriffe, daß sie nicht empirische
sein können. Die Prinzipien derselben (wozu nicht bloß ihre
Grundsätze, sondern auch ihre Grundbegriffe gehören) müssen
also niemals aus der Erfahrung genommen sein, denn sie soll nicht physische,
sondern metaphysische, d. i. jenseits der Erfahrung liegende Erkenntnis
sein.» Endlich sagt Kant in der Kritik der reinen Vernunft (S.58):
«Zuvörderst muß bemerkt werden, daß eigentliche
mathematische Sätze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch
sind, weil sie Notwendigkeit bei sich führen, welche aus der Erfahrung
nicht abgenommen werden kann. Will man aber dieses nicht einräumen,
wohlan, so schränke ich meinen Satz auf die reine Mathematik ein,
deren Begriff es schon mit sich bringt, daß sie nicht empirische,
sondern bloß reine Erkenntnis a priori enthalte.» Wir mögen
die Kritik der reinen Vernunft aufschlagen, wo wir wollen, so werden
wir finden, daß alle Untersuchungen innerhalb derselben unter
Voraussetzung dieser dogmatischen Sätze geführt werden. Cohen
[ 13 ]
und Stadler
[ 14 ]
versuchen zu beweisen, Kant habe
die apriorische Natur der mathematischen und rein-naturwissenschaftlichen
Sätze dargetan. Nun läßt sich aber alles, was in der
Kritik versucht wird, im folgenden zusammenfassen:
Weil
Mathematik und reine Naturwissenschaft apriorische Wissenschaften sind,
deshalb muß die Form aller Erfahrung im Subjekt begründet
sein. Es bleibt also nur das Material der Empfindungen, das empirisch
gegeben ist. Dieses wird durch die im Gemüte liegenden Formen zum
Systeme der Erfahrung aufgebaut. Nur als ordnende Prinzipien für
das Empfindungsmaterial haben die formalen Wahrheiten der apriorischen
Theorien Sinn und Bedeutung, sie machen die Erfahrung möglich,
reichen aber nicht über dieselbe hinaus. Diese formalen Wahrheiten
sind aber die synthetischen Urteile a priori, welche somit als Bedingungen
aller möglichen Erfahrung so weit reichen müssen als diese
selbst. Die Kritik der reinen Vernunft beweist also durchaus nicht die
Apriorität der Mathematik und reinen Naturwissenschaft, sondern
bestimmt nur deren Geltungsgebiet unter der Voraussetzung,
daß ihre Wahrheiten von der Erfahrung unabhängig gewonnen
werden sollen. Ja, Kant läßt sich so wenig auf einen Beweis
für diese Apriorität ein, daß er einfach denjenigen
Teil der Mathematik ausschließt (siehe oben S.29 Z. 26 f.), bei
dem dieselbe etwa, auch nach seiner Ansicht, bezweifelt werden könnte,
und sich nur auf den beschränkt, bei dem er sie aus dem bloßen
Begriff folgern zu können glaubt. Auch Johannes Volkelt findet,
daß «Kant von ausdrücklicher Voraussetzung» ausgehe,
«daß es tatsächlich ein allgemeines und notwendiges
Wissen gebe». Er sagt darüber noch weiter: «Diese von
Kant nie ausdrücklich in Prüfung gezogene Voraussetzung steht
mit dem Charakter der kritischen Erkenntnistheorie derart in Widerspruch,
daß man sich ernstlich die Frage vorlegen muß, ob die Kritik
der reinen Vernunft als kritische Erkenntnistheorie gelten
dürfe.» Volkelt findet zwar, daß man diese Frage aus
guten Gründen bejahen dürfe, aber es ist «doch durch
jene dogmatische Voraussetzung die kritische Haltung der Kantschen
Erkenntnistheorie in durchgreifender Weise gestört».
[ 15 ]
Genug, auch Volkelt findet, daß die
Kritik der reinen Vernunft keine voraussetzungslose Erkenntnistheorie
ist.
Im wesentlichen
mit der unseren übereinstimmen auch die Auffassungen O. Liebmanns,
Hölders, Windelbands, Überwegs, Ed. v.Hartmanns
[ 16 ]
und Kuno Fischers
[ 17 ]
in Bezug auf den Umstand,
daß Kant die apriorische Gültigkeit der reinen Mathematik
und Naturlehre als Voraussetzung an die Spitze seiner Erörterungen
stellt.
Daß
wir wirklich Erkenntnisse haben, die von aller Erfahrung unabhängig
sind, und daß die letzteren nur Einsichten von komparativer Allgemeinheit
liefern, könnten wir nur als Folgesätze von anderen Urteilen
gelten lassen. Es müßte diesen Behauptungen unbedingt eine
Untersuchung über das Wesen der Erfahrung und eine solche über
das Wesen unseres Erkennens vorangehen. Aus jener könnte der erste,
aus dieser der zweite der obigen Sätze folgen.
Nun könnte
man auf unsere der Vernunftkritik gegenüber geltend gemachten Einwände
noch folgendes erwidern. Man könnte sagen, daß doch jede
Erkenntnistheorie den Leser erst dahin führen müsse, wo der
voraussetzungslose Ausgangspunkt zu finden ist. Denn was wir zu irgendeinem
Zeitpunkte unseres Lebens als Erkenntnisse besitzen, hat sich weit von
diesem Ausgangspunkte entfernt, und wir müssen erst wieder künstlich
zu ihm zurückgeführt werden. In der Tat ist eine solche rein
didaktische Verständigung über den Anfang seiner Wissenschaft
für jeden Erkenntnistheoretiker eine Notwendigkeit. Dieselbe muß
sich aber jedenfalls darauf beschränken, zu zeigen, inwiefern der
in Rede stehende Anfang des Erkennens wirklich ein solcher ist, sie
müßte in rein selbstverständlichen analytischen Sätzen
verlaufen und keinerlei wirkliche inhaltsvolle Behauptungen aufstellen,
die den Inhalt der folgenden Erörterungen beeinflussen, wie das
bei Kant der Fall ist. Auch obliegt es dem Erkenntnistheoretiker, zu
zeigen, daß der von ihm angenommene Anfang wirklich voraussetzungslos
ist. Aber alles das hat mit dem Wesen dieses Anfanges selbst nichts
zu tun, steht ganz außerhalb desselben, sagt nichts über
ihn aus. Auch am Beginne des Mathematikunterrichts muß ich mich
ja bemühen, den Schüler von dem axiomatischen Charakter gewisser
Wahrheiten zu überzeugen. Aber niemand wird behaupten wollen,
daß der Inhalt der Axiome von diesen vorher angestellten
Erwägungen abhängig gemacht wird.
[ 18 ]
Genau in derselben
Weise müßte der Erkenntnistheoretiker in seinen einleitenden
Bemerkungen den Weg zeigen, wie man zu einem voraussetzungslosen Anfang
kommen kann; der eigentliche Inhalt aber desselben muß von diesen
Erwägungen unabhängig sein. Von einer solchen Einleitung in
die Erkenntnistheorie ist der aber jedenfalls weit entfernt, der wie
Kant am Anfange Behauptungen mit ganz bestimmtem, dogmatischem Charakter
aufstellt.
Notes:
7. Erfahrung
und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie von Johannes
Volkelt. Hamburg und Leipzig 1886. S. 20.
8. Kritik der reinen Vernunft S. 61 ff nach
der Ausgabe von Kirchmann, auf welche Ausgabe auch alle anderen
Seitenzahlen bei Zitaten aus der Kritik der reinen Vernuft und der
<Prolegomena> zu beziehen sind.
9. Prolegomena § 5
10. Kritik der reinen Vernunft S. 53 f.
11. Die Welt als Wahrnehmung und Begriff S.
161 ff.
12. Ein Versuch, der übrigens durch die
Einwendungen Robert Zimmermanns (Über Kants mathematisches
Vorurteil und dessen Folgen), wenn auch nicht gänzlich widerlegt,
so doch sehr in Frage gestellt ist.
(Siehe auch Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 6)
13. Kants Theorie dr Erfahrung S. 90 ff.
14. Die Grundsatze der reinen Erkenntnistheorie
in der Kantschen Philosophie S. 76 f.
15. Erfahrung und Denken S. 21
16. Liebmann, Analysis S. 211 ff., Hölder,
Erkenntnistheorie S. 14 ff., Windelband, Phasen S. 239, Überweg,
System der Logik S. 380 f., Hartmann, Kritische Grundlegung S.142-172.
17. Geschichte der neueren Philosophie VB.
S.60. In bezug auf Kuno Fischer irrt Volkelt, wenn er (Kants Erkenntnistheorie
5.198 f. Anmerkung) sagt, es würde «aus der Darstellung
K. Fischers nicht klar, ob seiner Ansicht nach Kant nur die psychologische
Tatsächlichkeit der allgemeinen und notwendigen Urteile oder
zugleich die objektive Gültigkeit und Rechtmäßigkeit
derselben voraussetze». Denn an der angeführten Stelle
sagt Fischer, daß die Hauptschwierigkeit der Kritik der reinen
Vernunft darin zu suchen sei, daß deren «Grundlegungen
von gewissen Voraussetzungen abhängig» seien, «die
man eingeräumt haben müsse, um das Folgende gelten zu
lassen». Diese Voraussetzungen sind auch für Fischer
der Umstand, daß «erst die Tatsache der Erkenntnis»
festgestellt wird und dann durch Analyse die Erkenntnisvermögen
gefunden, «aus denen jene Tatsache selbst erklärt wird».
18. Inwiefern wir mit unseren eigenen erkenntnistheoretischen
Erwägungen ganz in derselben Weise vorgehen, zeigen wir in
Kapitel IV: Die Ausgangspunkte der Erkenntnistheorie.
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