III. Die Erkenntnistheorie nach Kant
Von der fehlerhaften Fragestellung
bei Kant sind nun alle nachfolgenden Erkenntnistheoretiker mehr oder
weniger beeinflußt worden. Bei Kant tritt die Anschauung, daß
alle uns gegebenen Gegenstände unsere Vorstellungen seien, als
Resultat seines Apriorismus auf. Seither ist sie nun zum Grundsatze
und Ausgangspunkte fast aller erkenntnistheoretischen Systeme gemacht
worden. Was uns zunächst und unmittelbar als gewiß feststehe,
sei einzig und allein der Satz, daß wir ein Wissen von unseren
Vorstellungen haben; das ist zu einer fast allgemein geltenden Überzeugung
der Philosophen geworden. G. E. Schulze behauptet bereits 1792 in seinem
«Anesidemus», daß alle unsere Erkenntnisse bloße
Vorstellungen seien, und daß wir über unsere Vorstellungen
nie hinausgehen können. Schopenhauer vertritt mit dem ihm eigenen
philosophischen Pathos die Ansicht. daß der bleibende Gewinn der
Kantschen Philosophie die Ansicht sei, daß die Welt «meine
Vorstellung» ist, Ed. v. Hartmann findet diesen Satz so unantastbar,
daß er in seiner Schrift «Kritische Grundlegung des transzendentalen
Realismus» überhaupt nur solche Leser voraussetzt, die sich
von der naiven Identifikation ihres Wahrnehmungsbildes mit dem Dinge
an sich kritisch losgerungen haben und sich die absolute Heterogeneität
eines durch den Vorstellungsakt als subjektiv-idealen Bewußtseinsinhalts
gegebenen Anschauungsobjekts und eines von dem Vorstellungsakt und der
Form des Bewußtseins unabhängigen, an und für sich bestehenden
Dinges zur Evidenz gebracht haben, d. i. solche, die von der Überzeugung
durchdrungen sind, daß die Gesamtheit dessen, was uns unmittelbar
gegeben ist, Vorstellungen seien.
[ 19 ]
In seiner letzten erkenntnistheoretischen
[ 20 ]
Publikation sucht Hartmann diese seine Ansicht allerdings auch noch
zu begründen. Wie sich eine vorurteilsfreie Erkenntnistheorie zu
einer solchen Begründung stellen muß, werden unsere weiteren
Ausführungen zeigen. Otto Liebmann spricht als sakrosankten obersten
Grundsatz aller Erkenntnislehre den aus: «Das Bewußtsein
kann sich selbst nicht überspringen.»
[ 21 ]
Volkelt hat das Urteil, daß die erste unmittelbarste Wahrheit
die sei: «all unser Wissen erstrecke sich zunächst nur auf
unsere Vorstellungen», das positivistische Erkenntnisprinzip genannt,
und er betrachtet nur diejenige Erkenntnistheorie als «eminent
kritisch», welche dieses «Prinzip, als das im Anfange des
Philosophierens einzig Feststehende an die Spitze stellt und es dann
konsequent durchdenkt.
[ 22 ]
Bei anderen Philosophen
findet man wieder andere Behauptungen an die Spitze der Erkenntnistheorie
gestellt, z. B. die, daß das eigentliche Problem derselben in
der Frage bestehe nach dem Verhältnis zwischen Denken und Sein
und der Möglichkeit einer Vermittlung zwischen beiden
[ 23 ]
oder auch in der: wie wird das Seiende bewußt (Rehmke) usw. Kirchmann
geht von zwei erkenntnistheoretischen Axiomen aus: «das Wahrgenommene
ist»und «der Widerspruch ist nicht.
[ 24 ]
Nach E. L. Fischer besteht das Erkennen in dem Wissen von einem
Tatsächlichen, Realen
[ 25 ],
und er läßt dieses
Dogma ebenso ungeprüft wie Göring, der ähnliches behauptet:
«Erkennen heißt immer, ein Seiendes erkennen, das ist Tatsache,
welche weder Skeptizismus noch Kantscher Kritizismus leugnen kann.«
[ 26 ]
Bei den beiden letzteren wird einfach dekretiert: das ist Erkennen,
ohne zu fragen, mit welchem Rechte denn dies geschehen kann.
Selbst
wenn diese verschiedenen Behauptungen richtig wären, oder zu richtigen
Problemstellungen führten, könnten sie durchaus nicht am Anfange
der Erkenntnistheorie zur Erörterung kommen. Denn sie stehen,
als ganz bestimmte Einsichten, alle schon innerhalb des Gebietes des
Erkennens. Wenn ich sage: mein Wissen erstreckt sich zunächst
nur auf meine Vorstellungen, so ist das doch ein ganz bestimmtes Erkenntnisurteil.
Ich füge durch diesen Satz der mir gegebenen Welt ein Prädikat
bei, nämlich die Existenz in Form der Vorstellung. Woher aber soll
ich vor allem Erkennen wissen, daß die mir gegebenen
Dinge Vorstellungen sind?
Wir werden
uns von der Richtigkeit der Behauptung, daß dieser Satz nicht
an die Spitze der Erkenntnistheorie gestellt werden darf, am besten
überzeugen, wenn wir den Weg verfolgen, den der menschliche Geist
nehmen muß, um zu ihm zu kommen. Der Satz ist fast ein Bestandteil
des ganzen modernen wissenschaftlichen Bewußtseins geworden. Die
Erwägungen, die dasselbe zu ihm hingedrängt haben, finden
sich in ziemlicher Vollständigkeit systematisch zusammengestellt
in dem 1. Abschnitt von Ed. v. Hartmanns Schrift: «Das Grundproblem
der Erkenntnistheorie». Das in derselben Vorgebrachte kann somit
als eine Art von Leitfaden dienen, wenn man sich zur Aufgabe macht,
alle Gründe zu erörtern, die zu jener Annahme führen
können. Diese Gründe sind physikalische, psycho-physische,
physiologische und eigentlich philosophische.
Der Physiker
gelangt durch Beobachtung derjenigen Erscheinungen, die sich in unserer
Umgebung abspielen, wenn wir z. B. eine Schallempfindung haben, zu der
Annahme, daß in diesen Erscheinungen nichts liege, das mit dem
auch nur die entfernteste Ähnlichkeit hätte, was wir unmittelbar
als Schall wahrnehmen. Draußen, in dem uns umgebenden Raume, sind
lediglich longitudinale Schwingungen der Körper und der Luft aufzufinden.
Daraus wird gefolgert, daß das, was wir im gewöhnlichen Leben
Schall oder Ton nennen, lediglich eine subjektive Reaktion unseres Organismus
auf jene Wellenbewegung sei. Ebenso findet man , daß das Licht
und die Farbe oder die Wärme etwas rein Subjektives sind. Die Erscheinungen
der Farbenzerstreuung, der Brechung, Interferenz und Polarisation belehren
uns, daß den obengenannten Empfindungsqualitäten im Außenraume
gewisse transversale Schwingungen entsprechen, die wir teils den Körpern,
teils einem unmeßbar feinen, elastischen Fluidum, dem Äther,
zuzuschreiben uns veranlaßt fühlen. Ferner sieht sich der
Physiker gezwungen, aus gewissen Erscheinungen in der Körperwelt
den Glauben an die Kontinuität der Gegenstände im Raume aufzugeben
und dieselben auf Systeme von kleinsten Teilen (Molekülen, Atomen)
zurückzuführen, deren Größen im Verhältnisse
zu ihren Entfernungen unmeßbar klein sind. Daraus wird geschlossen,
daß alle Wirkung der Körper aufeinander durch den leeren
Raum hindurch geschehe, somit eine wahre actio in distans sei. Die Physik
glaubt sich berechtigt anzunehmen, daß die Wirkung der Körper
auf unseren Tast- und Wärmesinn nicht durch unmittelbare Berührung
geschehe, weil ja immer eine gewisse, wenn auch kleine, Entfernung zwischen
der den Körper berührenden Hautstelle und diesem selbst da
sein müsse. Daraus ergebe sich, daß das, was wir z.B. als
Härte oder Wärme der Körper empfinden, nur Reaktionen
unserer Tast- und Wärmenerven-Endorgane auf die durch den leeren
Raum hindurch wirkenden Molekularkräfte der Körper
seien.
Als Ergänzung
treten zu diesen Erwägungen des Physikers jene des Psycho-Physikers
hinzu, die in der Lehre von den spezifischen Sinnes-Energien ihren Ausdruck
finden. J. Müller
[ 27 ]
hat gezeigt, daß
jeder Sinn nur in der ihm eigentümlichen, durch seine Organisation
bedingten Weise affiziert werden kann, und daß er immer in derselben
Weise reagiert, was auch immer für ein äußerer Eindruck
auf ihn ausgeübt wird. Wird der Sehnerv erregt, so empfinden wir
Licht, gleichgültig, ob es Druck oder elektrischer Strom oder Licht
ist, was auf den Nerv einwirkt. Andererseits erzeugen dieselben äußeren
Vorgänge ganz verschiedene Empfindungen, je nachdem sie von diesem
oder jenem Sinne perzipiert werden. Daraus hat man gefolgert, daß
es nur eine Art von Vorgängen in der Außenwelt gebe, nämlich
Bewegungen, und daß die Mannigfaltigkeit der von uns wahrgenommenen
Welt wesentlich eine Reaktion unserer Sinne auf diese Vorgänge
sei. Nach dieser Ansicht nehmen wir nicht die Außenwelt als solche
wahr, sondern bloß die in uns von ihr ausgelösten, subjektiven
Empfindungen.
Zu den
Erwägungen der Physik treten auch noch jene der Physiologie. Jene
verfolgt die außer unserem Organismus vor sich gehenden Erscheinungen,
welche den Wahrnehmungen korrespondieren; diese sucht die Vorgänge
im eigenen Leibe des Menschen zu erforschen, die sich abspielen, während
in uns eine gewisse Sinnesqualität ausgelöst wird. Die Physiologie
lehrt, daß die Epidermis gegen Reize der Außenwelt vollständig
unempfindlich ist. Wenn also z. B. die Endorgane unserer Tastnerven
an der Körperperipherie von den Einwirkungen der Außenwelt
affiziert werden sollen, so muß der Schwingungsvorgang, der außerhalb
unseres Leibes liegt, erst durch die Epidermis fortgepflanzt werden.
Beim Gehör- und Gesichtssinne wird außerdem der äußere
Bewegungsvorgang durch eine Reihe von Organen in den Sinneswerkzeugen
verändert, bevor er an den Nerv herankommt. Diese Affektion der
Endorgane muß nun durch den Nerv bis zum Zentralorgan geleitet
werden, und hier erst kann sich das vollziehen, wodurch auf Grund von
rein mechanischen Vorgängen im Gehirne die Empfindung erzeugt wird.
Es ist klar, daß durch diese Umformungen, die der Reiz, der auf
die Sinnesorgane ausgeübt wird, erleidet, derselbe so vollständig
umgewandelt wird, daß jede Spur von Ahnlichkeit zwischen der ersten
Einwirkung auf die Sinne und der zuletzt im Bewußtsein auftretenden
Empfindung verwischt sein muß. Hartmann spricht das Ergebnis dieser
Überlegung mit folgenden Worten aus: «Dieser Bewußtseinsinhalt
besteht ursprünglich aus Empfindungen, mit welchen die Seele auf
die Bewegungszustände ihres obersten Hirnzentrums reflektorisch
reagiert, welche aber mit den molekularen Bewegungszuständen, durch
welche sie ausgeübt werden, nicht die geringste Ähnlichkeit
haben.»
[ 28 ]
Wer diesen
Gedankengang vollständig bis ans Ende durchdenkt, muß zugeben,
daß, wenn er richtig ist, auch nicht der geringste Rest von dem,
was man äußeres Dasein nennen kann, in unserem Bewußtseinsinhalt
enthalten wäre. Hartmann fügt zu den physikalischen und physiologischen
Einwänden gegen den sogenannten «naiven Realismus»
noch solche, die er im eigentlichen Sinne philosophische nennt, hinzu.
Bei einer logischen Durchmusterung der beiden ersten Einwände bemerken
wir, daß wir im Grunde doch nur dann zu dem angezeigten Resultate
kommen können, wenn wir von dem Dasein und dem Zusammenhange der
äußeren Dinge, wie sie das gewöhnliche naive Bewußtsein
annimmt, ausgehen und dann untersuchen, wie diese Außenwelt bei
unserer Organisation in unser Bewußtsein kommen kann. Wir haben
gesehen, daß uns jede Spur von einer solchen Außenwelt auf
dem Wege vom Sinneseindruck bis zum Eintritt in das Bewußtsein
verlorengeht, und in dem letzteren nichts als unsere Vorstellungen übrig
bleiben. Wir müssen daher annehmen, daß jenes Bild der Außenwelt,
das wir wirklich haben, von der Seele auf Grund des Empfindungsmaterials
aufgebaut werde. Zunächst wird aus den Empfindungen des Gesichts-
und des Tastsinns ein räumliches Weltbild konstruiert, in das dann
die Empfindungen der übrigen Sinne eingefügt werden. Wenn
wir uns gezwungen sehen, einen bestimmten Komplex von Empfindungen zusammenhängend
zu denken, so kommen wir zum Begriffe der Substanz, die wir als Träger
derselben ansehen. Bemerken wir, daß an einer Substanz Empfindungsqualitäten
verschwinden und andere wieder auftauchen, so schreiben wir solches
einem durch das Gesetz der Kausalität geregelten Wechsel in der
Erscheinungswelt zu. So setzt sich, nach dieser Auffassung, unser ganzes
Weltbild aus subjektivem Empfindungsinhalt zusammen, der durch die eigene
Seelentätigkeit geordnet wird. Hartmann sagt: «Was das Subjekt
wahrnimmt, sind also immer nur Modifikationen seiner eigenen psychischen
Zustände und nichts anderes.»
[ 29 ]
Fragen
wir uns nun: wie kommen wir zu einer solchen Überzeugung? Das Skelett
des angestellten Gedankenganges ist folgendes: Wenn eine Außenwelt
existiert, so wird sie von uns nicht als solche wahrgenommen, sondern
durch unsere Organisation in eine Vorstellungswelt umgewandelt. Wir
haben es hier mit einer Voraussetzung zu tun, die, konsequent verfolgt,
sich selbst aufhebt. Ist dieser Gedankengang aber geeignet, irgendeine
Überzeugung zu begründen? Sind wir berechtigt, das uns gegebene
Weltbild deshalb als subjektiven Vorstellungsinhalt anzusehen, weil
die Annahme des naiven Bewußtseins, strenge durchgedacht, zu dieser
Ansicht führt? Unser Ziel ist ja doch, diese Annahme selbst als
ungültig zu erweisen. Dann müßte es möglich sein,
daß eine Behauptung sich als falsch erwiese und doch das Resultat,
zu dem sie gelangt, ein richtiges sei. Das kann ja immerhin irgendwo
vorkommen; aber nimmermehr kann dann das Resultat als aus jener Behauptung
erwiesen angesehen werden.
Man nennt
gewöhnlich die Weltansicht, welche die Realität des uns unmittelbar
gegebenen Weltbildes wie etwas nicht weiter Anzuzweifelndes, Selbstverständliches
hinnimmt, naiven Realismus. Die entgegengesetzte dagegen, die dieses
Weltbild bloß für unseren Bewußtseinsinhalt hält,
transzendentalen Idealismus. Wir können somit auch das Ergebnis
der vorangehenden Erwägungen mit folgenden Worten zusammenfassen:
Der transzendentale Idealismus erweist seine Richtigkeit, indem
er mit den Mitteln des naiven Realismus, dessen Widerlegung er anstrebt,
operiert.
Er ist
berechtigt, wenn der naive Realismus falsch ist; aber die Falschheit
wird nur mit Hilfe der falschen Ansicht selbst bewiesen. Wer sich dieses
vor Augen bringt, für den bleibt nichts übrig, als den Weg
zu verlassen, der hier eingeschlagen wird, um zu einer Weltansicht zu
gelangen, und einen anderen zu gehen. Soll das aber, auf gut Glück,
versuchsweise geschehen, bis wir zufällig auf das Rechte treffen?
Ed. v. Hartmann ist allerdings dieser Ansicht, wenn er die Gültigkeit
seines erkenntnistheoretischen Standpunktes damit dargetan zu haben
glaubt, daß dieser die Welterscheinungen erklärt, während
die anderen das nicht tun. Nach der Ansicht dieses Denkers nehmen die
einzelnen Weltanschauungen eine Art von Kampf ums Dasein auf, und diejenige,
welche sich in demselben am besten bewährt, wird zuletzt als Siegerin
akzeptiert. Aber ein solches Verfahren scheint uns schon deshalb unstatthaft,
weil es ja ganz gut mehrere Hypothesen geben könnte, die gleich
befriedigend zur Erklärung der Welterscheinungen führen. Deshalb
wollen wir uns lieber an den obigen Gedankengang zur Widerlegung des
naiven Realismus halten und nachsehen, wo eigentlich sein Mangel liegt.
Der naive Realismus ist doch diejenige Auffassung, von der alle Menschen
ausgehen. Schon deshalb empfiehlt es sich, die Korrektur gerade bei
ihm zu beginnen. Haben wir dann eingesehen, warum er mangelhaft sein
muß, dann werden wir mit ganz anderer Sicherheit auf einen richtigen
Weg geführt werden, als wenn wir einen solchen einfach auf gut
Glück versuchen. Der oben skizzierte Subjektivismus beruht auf
einer denkenden Verarbeitung gewisser Tatsachen. Er setzt also
voraus, daß, von einem tatsächlichen Ausgangspunkte aus,
durch folgerichtiges Denken (logische Kombination bestimmter Beobachtungen)
richtige Überzeugungen gewonnen werden können. Das Recht
zu einer solchen Anwendung unseres Denkens wird aber auf diesem Standpunkt
nicht geprüft. Und darin liegt seine Schwäche. Während
der naive Realismus von der ungeprüften Annahme ausgeht, daß
der von uns wahrgenommene Erfahrungsinhalt objektive Realität habe,
geht der charakterisierte Standpunkt von der ebenfalls ungeprüften
Überzeugung aus, daß man durch Anwendung des Denkens zu wissenschaftlich
berechtigten Überzeugungen kommen könne. Im Gegensatz zum
naiven Realismus kann man diesen Standpunkt naiven Rationalismus nennen.
Um diese Terminologie zu rechtfertigen, möchten wir hier eine kurze
Bemerkung über den Begriff des «Naiven»einschalten.
A. Doring sucht diesen Begriff in seinem Aufsatze: «Über
den Begriff des naiven Realismus»naher zu bestimmen.
[ 30 ]
Er sagt darüber: «Der Begriff der Naivität bezeichnet
gleichsam den Nullpunkt auf der Skala der Reflektion über das eigene
Verhalten. Inhaltlich kann die Naivität durchaus das Richtige treffen,
denn sie ist zwar reflexionslos und eben darum kritiklos oder unkritisch,
aber dies Fehlen der Reflexion und Kritik schließt nur die objektive
Sicherheit des Richtigen aus; es schließt die Möglichkeit
und Gefahr des Verfehlens, keineswegs die Notwendigkeit desselben in
sich. Es gibt eine Naivität des Fühlens und Wollens, wie des
Vorstellens und Denkens im weitesten Sinne des letzteren Wortes, ferner
eine Naivität der Äußerungen dieser inneren Zustände
im Gegensatz gegen die durch Rücksichten, Reflexion bewirkte Repression
oder Modifikation derselben. Die Naivität ist, wenigstens bewußt,
nicht beeinflußt vom Hergebrachten, Angelernten und Vorschriftsmäßigen,
sie ist auf allen Gebieten, was das Stammwort nativus ausdrückt,
das Unbewußte, Impulsive, Instinktive, Dämonische.»Wir
wollen, von diesen Sätzen ausgehend, den Begriff des Naiven doch
noch etwas präziser fassen. Bei aller Tätigkeit, die wir vollbringen,
kommt zweierlei in Betracht: die Tätigkeit selbst und das Wissen
um deren Gesetzmäßigkeit. Wir können in der ersten vollständig
aufgehen, ohne nach der letzteren zu fragen. Der Künstler, der
die Gesetze seines Schaffens nicht in reflexionsmäßiger Form
kennt, sondern sie dem Gefühle, der Empfindung nach übt,
ist in diesem Falle. Wir nennen ihn naiv. Aber es gibt eine Art von
Selbstbeobachtung, die sich um die Gesetzlichkeit des eigenen Tuns fragt,
und welche für die soeben geschilderte Naivität das Bewußtsein
eintauscht, daß sie genau die Tragweite und Berechtigung dessen
kennt, was sie vollführt. Diese wollen wir kritisch nennen.
Wir glauben damit am besten den Sinn dieses Begriffes zu treffen, wie
er sich seit Kant mit mehr oder minder klarem Bewußtsein in der
Philosophie eingebürgert hat. Kritische Besonnenheit ist demnach
das Gegenteil von Naivität. Wir nennen ein Verhalten kritisch,
das sich der Gesetze der eigenen Tätigkeit bemächtigt, um
deren Sicherheit und Grenzen kennen zu lernen. Die Erkenntnistheorie
kann aber nur eine kritische Wissenschaft sein. Ihr Objekt ist ja ein
eminent subjektives Tun des Menschen: das Erkennen, und was sie darlegen
will, ist die Gesetzmäßigkeit des Erkennens. Von
dieser Wissenschaft muß also alle Naivität ausgeschlossen
sein. Sie muß gerade darinnen ihre Stärke sehen, daß
sie dasjenige vollzieht, von dem sich viele aufs Praktische gerichtete
Geister rühmen, es nie getan zu haben, nämlich das «Denken
über das Denken».
Notes:
19. Kritische Grundlegung, Vorrede S.10.
20. Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 7
21. Zur Analysis S.28 ff
22. Kants Erkenntnistheorie § 1.
23. Dorner, Das menschliche Erkennen
24. Die Lehre vom Wissen.
25. Grundfragen S. 385.
26. System S. 257.
27. Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 8
28. Hinweise des Herausgebers,
Anmerkung 9
29. Hartmann: „Grundproblem...“,
S. 37.
30. Philosophische Monatshefte Bd. XXVI, 5.390,
Heidelberg 1890.
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