Erster Anhang
(Zusatz zur Neuausgabe 1918)
Einwendungen, die mir
gleich nach dem Erscheinen dieses Buches von philosophischer
Seite her gemacht worden sind, veranlassen mich, die folgende
kurze Ausführung dieser Neuausgabe hinzuzufügen.
Ich kann mir gut denken, daß es Leser gibt, die für
den übrigen Inhalt dieses Buches Interesse haben, die
aber das Folgende als ein ihnen überflüssiges und
fernliegendes abstraktes Begriffsgespinst ansehen. Sie
können diese kurze Darstellung ungelesen lassen. Allein
innerhalb der philosophischen Weltbetrachtung tauchen
Probleme auf, die mehr in gewissen Vorurteilen der Denker als
im naturgemäßen Gang jedes menschlichen Denkens
selbst ihren Ursprung haben. Was sonst in diesem Buche
behandelt ist, das scheint mir eine Aufgabe zu sein, die
jeden Menschen angeht, der nach Klarheit ringt in
bezug auf das Wesen des Menschen und dessen Verhältnis
zur Welt. Das Folgende aber ist mehr ein Problem, von dem
gewisse Philosophen fordern, daß es behandelt werde,
wenn von den in diesem Buche dargestellten Dingen die Rede
ist, weil diese Philosophen sich durch ihre Vorstellungsart
gewisse nicht allgemein vorhandene Schwierigkeiten geschaffen
haben. Geht man ganz an solchen Problemen vorbei, so sind
dann gewisse Persönlichkeiten schnell mit dem Vorwurf
des Dilettantismus und dergleichen bei der Hand. Und es
entsteht die Meinung, als ob der Verfasser einer Darstellung
wie der in diesem Buche gegebenen mit Ansichten sich nicht
auseinandergesetzt hätte, die er in dem Buche selbst
nicht besprochen hat.
Das Problem, das ich hier meine, ist dieses: Es
gibt Denker, welche der Meinung sind, daß sich eine
besondere Schwierigkeit ergäbe, wenn man begreifen will,
wie ein anderes menschliches Seelenleben auf das eigene (des
Betrachters) wirken könne. Sie sagen: meine bewußte
Welt ist in mir abgeschlossen; eine andere bewußte Welt
ebenso in sich. Ich kann in die Bewußtseinswelt eines
andern nicht hineinsehen. Wie komme ich dazu, mich mit ihm in
einer gemeinsamen Welt zu wissen? Diejenige Weltansicht,
welche es für möglich hält, von der
bewußten Welt aus auf eine unbewußte zu
schließen, die nie bewußt werden kann, versucht
diese Schwierigkeit in der folgenden Art zu lösen. Sie
sagt: die Welt, die ich in meinem Bewußtsein habe, ist
die in mir repräsentierte Welt einer von mir bewußt
nicht zu erreichenden Wirklichkeitswelt. In dieser liegen die
mir unbekannten Veranlasser meiner Bewußtseinswelt. In
dieser liegt auch meine wirkliche Wesenheit, von der ich
ebenfalls nur einen Repräsentanten in meinem
Bewußtsein habe. In dieser liegt aber auch die Wesenheit
des andern Menschen, der mir gegenüber tritt. Was nun im
Bewußtsein dieses andern Menschen erlebt wird, das hat
seine von diesem Bewußtsein unabhängige
entsprechende Wirklichkeit in seiner Wesenheit. Diese wirkt
in dem Gebiet, das nicht bewußt werden kann, auf meine
prinzipielle unbewußte Wesenheit, und dadurch wird in
meinem Bewußtsein eine Repräsentanz geschaffen
für das, was in einem von meinem bewußten Erleben
ganz unabhängigen Bewußtsein gegenwärtig ist.
Man sieht: es wird hier zu der von meinem Bewußtsein
erreichbaren Welt eine für dieses im Erleben
unerreichbare hypothetisch hin-zugedacht, weil man sonst sich
zu der Behauptung gedrängt glaubt, alle Außenwelt,
die ich meine vor mir zu haben, sei nur meine
Bewußtseinswelt, und das ergäbe die —
solipsistische — Absurdität, auch die andern Personen
lebten nur innerhalb meines Bewußtseins.
Klarheit über diese durch manche
erkenntnistheoretische Strömungen der neueren Zeit
geschaffene Frage kann man gewinnen, wenn man vom
Gesichtspunkte der geistgemäßen Beobachtung, der in
der Darstellung dieses Buches eingenommen ist, die Sache zu
überschauen trachtet. Was habe ich denn zunächst
vor mir, wenn ich einer andern Persönlichkeit
gegenüberstehe? Ich sehe auf das nächste. Es ist
die mir als Wahrnehmung gegebene sinnliche Leibeserscheinung
der andern Person; dann noch etwa die Gehörwahrnehmung
dessen, was sie sagt, und so weiter. Alles dies starre ich
nicht bloß an, sondern es setzt meine denkende
Tätigkeit in Bewegung. Indem ich denkend vor der andern
Persönlichkeit stehe, kennzeichnet sich mir die
Wahrnehmung gewissermaßen als seelisch durchsichtig. Ich
bin genötigt, im denkenden Ergreifen der Wahrnehmung mir
zu sagen, daß sie dasjenige gar nicht ist, als was sie
den äußeren Sinnen erscheint. DieSinneserscheinung
offenbart in dem, was sie unmittelbar ist, ein anderes, was
sie mittelbar ist. Ihr Sich-vor-mich Hinstellen ist zugleich
ihr Auslöschen als bloße Sinneserscheinung. Aber
was sie in diesem Auslöschen zur Erscheinung bringt, das
zwingt mich als denkendes Wesen, mein Denken für die
Zeit ihres Wirkens auszulöschen und an dessen Stelle ihr
Denken zu setzen. Dieses ihr Denken aber ergreife
ich in meinem Denken als Erlebnis wie mein eigenes.
Ich habe das Denken des andern wirklich wahrgenommen. Denn
die als Sinneserscheinung sich auslöschende unmittelbare
Wahrnehmung wird von meinem Denken ergriffen, und es ist ein
vollkommen in meinem Bewußtsein liegender Vorgang, der
darin besteht, daß sich an die Stelle meines Denkens das
andere Denken setzt. Durch das Sich-Auslöschen der
Sinneserscheinung wird die Trennung zwischen den beiden
Bewußtseinssphären tatsächlich aufgehoben. Das
repräsentiert sich in meinem Bewußtsein dadurch,
daß ich im Erleben des andern Bewußtseinsinhaltes
mein eigenes Bewußtsein ebensowenig erlebe, wie ich es
im traumlosen Schlafe erlebe. Wie in diesem mein
Tagesbewußtsein ausgeschaltet ist, so im Wahrnehmen des
fremden Bewußtseinsinhaltes der eigene. Die
Täuschung, als ob dies nicht so sei, rührt nur
davon her, daß im Wahrnehmen der andern Person erstens
an die Stelle der Auslöschung des eigenen
Bewußtseinsinhaltes nichtBewußtlosigkeit tritt wie
im Schlafe, sondern der andere Bewußtseinsinhalt, und
zweitens, daß die Wechselzustände zwischen
Auslöschen und Wieder-Aufleuchten des Bewußtseins
von mir selbst zu schnell aufeinander folgen, um für
gewöhnlich bemerkt zu werden. — Das ganze hier
vorliegende Problem löst man nicht durch künstliche
Begriffskonstruktionen, die von Bewußtem auf solches
schließen, das nie bewußt werden kann, sondern
durch wahres Erleben dessen, was sich in der Verbindung von
Denken und Wahrnehmung ergibt. Es ist dies bei sehr vielen
Fragen der Fall, die in der philosophischen Literatur
auftreten. Die Denker sollten den Weg suchen zu unbefangener
geistgemäßerBeobachtung;statt dessen schieben sie
vor dieWirklichkeit eine künstliche Begriffskonstruktion
hin.
In einer Abhandlung Eduard von Hartmanns «Die
letzten Fragen der Erkenntnistheorie und Metaphysik» (in
der Zeitschrift für Philosophie und philosophische
Kritik, 108. Bd. 5. 55 ff.) wird meine «Philosophie der
Freiheit» in die philosophische Gedankenrichtung
eingereiht, die sich auf einen «erkenntnistheoretischen
Monismus» stützen will.
Ein solcher Standpunkt wird von Eduard von Hartmann
als ein unmöglicher abgelehnt.Dem liegt folgendes
zugrunde. Gemäß der Vorstellungsart, welche sich in
dem genannten Aufsatze zum Ausdruck bringt, gibt es nur drei
mögliche erkenntnistheoretische Standpunkte. Entweder
man bleibt auf dem naiven Standpunkt stehen, welcher die
wahrgenommenenErscheinungen als wirkliche Dinge außer
dem menschlichen Bewußtsein nimmt. Dann fehlte es einem
an kritischer Erkenntnis. Man sehe nicht ein, daß man
mit seinem Bewußtseinsinhalt doch nur in dem eigenen
Bewußtsein sei. Man durchschaue nicht, daß man es
nicht mit einem «Tische an sich» zu tun habe,
sondern nur mit dem eigenen Bewußtseinsobjekte. Wer auf
diesem Standpunkte bleibe oder durch irgendwelche
Erwägungen zu ihm wieder zurückkehre, der sei
naiver Realist. Allein dieser Standpunkt sei eben
unmöglich, denn er verkenne, daß das
Bewußtsein nur seine eigenen Bewußtseinsobjekte
habe. Oder man durchschaue diesen Sachverhalt und gestehe
sich ihn voll ein. Dann werde man zunächst
transzendentaler Idealist. Man müsse dann aber ablehnen,
daß von einem «Dinge an sich» jemals etwas im
menschlichen Bewußtsein auftreten könne. Dadurch
entgehe man aber nicht dem absoluten Illusionismus, wenn man
nur konsequent genug dazu sei. Denn es verwandelt sich einem
die Welt, der man gegenübersteht, in eine bloße
Summe von Bewußtseinsobjekten, und zwar nur von Objekten
des eigenen Bewußtseins. Auch die anderer Menschen sei
man dann — absurderweise — gezwungen, nur als im eigenen
Bewußtseinsinhalt allein anwesend zu denken. Ein
möglicherStandpunkt sei nur der dritte, der
transzendentale Realismus. Dieser nimmt an, es gibt
«Dinge an sich», aber das Bewußtsein kann in
keiner Weise im unmittelbaren Erleben mit ihnen zu tun haben.
Sie bewirken jenseits des menschlichen Bewußtseins auf
eine Art, die nicht ins Bewußtsein fällt, daß
in diesem die Bewußtseinsobjekte auftreten. Man kann auf
diese «Dinge an sich» nur durch
Schlußfolgerung aus dem allein erlebten, aber eben
bloß vorgestellten Bewußtseinsinhalt kommen. Eduard
von Hartmann behauptet nun in dem genannten Aufsatze, ein
« erkenntnistheoretischer Monismus», als den er
meinen Standpunkt auffaßt, müsse sich in
Wirklichkeit zu einem der drei Standpunkte bekennen; er tue
es nur nicht, weil er die tatsächlichen Konsequenzen
seiner Voraussetzungen nicht ziehe. Und dann wird in dem
Aufsatz gesagt: «Wenn man herausbekommen will, welchem
erkenntnistheoretischen Standpunkt ein angeblicher
erkenntnistheoretischer Monist angehört, so braucht man
ihm nur einige Fragen vorzulegen und ihn zur Beantwortung
derselben zu zwingen. Denn von selbst läßt sich
kein solcher zur Äußerung über diese Punkte
herbei, und auch derBeantwortung direkter Fragen wird er auf
alle Weise auszuweichen suchen, weil jede Antwort den
Anspruch auf erkenntnistheoretische Monismus als einen von
den drei anderen verschiedenen Standpunkt aufhebt. Diese
Fragen sind folgende: 1. Sind die Dinge in ihrem Bestande
kontinuierlich oder intermittierend? Wenn
die Antwort lautet: sie sind kontinuierlich, so hat man es
mit irgendeiner Form des naiven Realismus zu tun. Wenn sie
lautet: sie sind intermittierend, so liegt transzendentaler
Idealismus vor. Wenn sie aber lautet: sie sind einerseits
(als Inhalte des absoluten Bewußtseins, oder als
unbewußte Vorstellungen oder als
Wahrnehmungsmöglichkeiten) kontinuierlich, andererseits
(als Inhalte des beschränkten Bewußtseins)
intermittierend, so ist transzendentaler Realismus
konstatiert. — 2. Wenn drei Personen an einem Tisch sitzen,
wieviele Exemplare des Tisches sind vorhanden? Wer
antwortet: eines, ist naiver Realist; wer antwortet: drei,
ist transzendentaler Idealist; wer aber antwortet: vier, der
ist transzendentaler Realist. Es ist dabei allerdings
vorausgesetzt, daß man so ungleichartiges wie den
einenTisch als Ding an sich und die drei Tische als
Wahrnehmungsobjekte in den drei Bewußtseinen unter die
gemeinsame Bezeichnung «Exemplare des Tisches» zus
ammen-fassen dürfe. Wem dies als eine zu große
Freiheit erscheint, der wird die Antwort «einer und
drei» geben müssen, anstatt «vier». — 3.
Wenn zwei Personen allein in einem Zimmer zusammen sind,
wieviel Exemplare dieser Personen sind vorhanden?
Wer antwortet: zwei, ist naiver Realist; wer antwortet: vier
(nämlich in jedem der beiden Bewußtseine ein Ich
und ein anderer), der ist transzendentaler Idealist; wer aber
antwortet: sechs (nämlich zwei Personen als Dinge an
sich und vier Vorstellungsobjekte von Personen in den zwei
Bewußtseinen), der ist transzendentaler Realist. Wer den
erkenntnistheoretischen Monismus als einen von diesen drei
Standpunkten verschiedenen erweisen wollte, der
müßte auf jede dieser drei Fragen eine andere
Antwort geben; ich wüßte aber nicht wie diese
lauten könnte.» Die Antworten der «Philosophie
der Freiheit» müßten so lauten: 1. Wer von den
Dingen nur die Wahrnehmungsinhalte erfaßt und diese
für Wirklichkeit nimmt, ist naiver Realist, und er macht
sich nicht klar, daß er eigentlich diese
Wahrnehmungsinhalte nur so lange für bestehend
ansehen dürfte, als er auf die Dinge hinsieht, daß
er also, was er vor sich hat, als intermittierend denken
müßte. Sobald er sich aber klar darüber wird,
daß Wirklichkeit nur im gedankendurchsetzten
Wahrnehmbaren vorhanden ist, gelangt er zu der Einsicht,
daß der als intermittierend auftretende
Wahrnehmungsinhalt durchsetzt von dem im Denken Erarbeiteten
sich als kontinuierlich offenbart. Als kontinuierlich
muß also gelten: der von dem erlebten Denken
erfaßte Wahrnehmungsgehalt, von dem das, was nur
wahrgenommen wird, als intermittierend zu denken wäre,
wenn es — was nicht der Fall ist — wirklich wäre. —
2. Wenn drei Personen an einem Tisch sitzen, wieviel
Exemplare des Tisches sind vorhanden? Es ist nur ein
Tisch vorhanden; aber so lange die drei Personen bei
ihren Wahrnehmungsbildern stehen bleiben wollten,
müßten sie sagen: diese Wahrnehmungsbilder
sind überhaupt keine Wirklichkeit. Sobald sie zu dem in
ihrem Denken erfaßten Tisch übergehen, offenbart
sich ihnen die eine Wirklichkeit des Tisches; sie
sind mit ihren drei Bewußtseinsinhalten in dieser
Wirklichkeit vereinigt. — 3. Wenn zwei Personen allein in
einem Zimmer zusammen sind, wieviel Exemplare dieser Personen
sind vorhanden? Es sind ganz gewiß nicht sechs — auch
nicht im Sinne des transzendentalen Realisten — Exemplare
vorhanden, sondern nur zwei. Nur hat jede der Personen
zunächst sowohl von sich wie von der anderen Person nur
das unwirkliche Wahrnehmungsbild. Von diesen Bildern
sind vier vorhanden, bei deren Anwesenheit in den
Denktätigkeiten der zwei Personen sich die Ergreifung
der Wirklichkeit abspielt. In dieser Denktätigkeit
übergreift eine jede der Personen ihre
Bewußtseinssphäre; die der anderen und der eigenen
Person lebt in ihr auf. In den Augenblicken dieses Auflebens
sind die Personen ebensowenig in ihrem Bewußtsein
beschlossen wie im Schlafe. Nur tritt in den anderen
Augenblicken das Bewußtsein von diesem Aufgehen in dem
andern wieder auf, so daß das Bewußtsein einer
jeden der Personen im denkenden Erleben sich und den andern
ergreift. Ich weiß, daß der transzendentale Realist
dieses als einen Rückfall in den naiven Realismus
bezeichnet. Doch habe ich bereits in dieser Schrift darauf
hingewiesen, daß der naive Realismus für das
erlebte Denken seine Berechtigung behält. Der
transzendentale Realist läßt sich auf den wahren
Sachverhalt im Erkenntnisvorgang gar nicht ein; er
schließt sich von diesem durch ein Gedankengespinst ab
und verstrickt sich in diesem. Es sollte der in der
«Philosophie der Freiheit» auftretende Monismus
auch nicht «erkenntnistheoretischer» genannt
werden, sondern, wenn man einen Beinamen will,
Gedanken-Monismus. Das alles wurde durch Eduard von Hartmann
verkannt. Er ging auf das Spezifische der Darstellung in der
«Philosophie der Freiheit» nicht ein, sondern
behauptete: ich hätte den Versuch gemacht, den
Hegelschen universalistischen Panlogismus mit
Humes individualistischem Phänomenalismus zu
verbinden (S. 71 der Zeitschrift für Philosophie, 108.
Bd., Anmerkung), während in der Tat die
«Philosophie der Freiheit» als solche gar nichts
mit diesen zwei Standpunkten, die sie angeblich zu vereinigen
bestrebt ist, zu tun hat. (Hier liegt auch der Grund, warum
es mir nicht naheliegen konnte, mich zum Beispiel mit dem
«erkenntnis theoretischen Monismus» Johannes
Rehmkes auseinanderzusetzen. Es ist eben der Gesichtspunkt
der «Philosophie der Freiheit» ein ganz anderer,
als was Eduard von Hartmann und andere
erkenntnistheoretischen Monismus nennen.)
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