Zweiter Anhang
In dem Folgenden wird in
allem Wesentlichen wiedergegeben, was als eine Art
«Vorrede» in der ersten Auflage dieses Buches
stand. Da es mehr die Gedankenstimmung gibt, aus der ich vor
fünfundzwanzig Jahren das Buch niederschrieb, als
daß es mit dem Inhalte desselben unmittelbar etwas zu
tun hätte, setze ich es hier als «Anhang» her.
Ganz weglassen möchte ich es aus dem Grunde nicht, weil
immer wieder die Ansicht auftaucht, ich habe wegen meiner
späteren geisteswissenschaftlichen Schriften etwas von
meinen früheren Schriften zu unterdrücken.
Unser Zeitalter kann die Wahrheit nur aus
der Tiefe des menschlichen Wesens schöpfen
wollen[1]. Von Schillers bekannten zwei
Wegen:
«Wahrheit suchen wir beide, du außen im
Leben, ich innen
In dem Herzen, und so findet sie jeder gewiß.
Ist das Auge gesund, so begegnet es außen dem
Schöpfer;
Ist es das Herz, dann gewiß spiegelt es innen die
Welt»
wird der Gegenwart vorzüglich der zweite
frommen. Eine Wahrheit, die uns von außen kommt,
trägt immer den Stempel der Unsicherheit an sich. Nur
was einem jeden von uns in seinem eigenen Innern als Wahrheit
erscheint, daran mögen wir glauben.
Nur die Wahrheit kann uns Sicherheit bringen im
Entwickeln unserer individuellen Kräfte. Wer von
Zweifeln gequält ist, dessen Kräfte sind
gelähmt. In einer Welt, die ihm rätselhaft ist,
kann er kein Ziel seines Schaffens finden.
Wir wollen nicht mehr bloß glauben;
wir wollen wissen. Der Glaube fordert Anerkennung
von Wahrheiten, die wir nicht ganz durchschauen. Was wir aber
nicht ganz durchschauen, widerstrebt dem Individuellen, das
alles mit seinem tiefsten Innern durchleben will. Nur das
Wissen befriedigt uns, das keiner äußeren
Norm sich unterwirft, sondern aus dem Innenleben der
Persönlichkeit entspringt.
Wir wollen auch kein solches Wissen, das in
eingefrorenen Schulregeln sich ein für allemal
ausgestaltet hat, und in für alle Zeiten gültigen
Kompendien aufbewahrt ist. Wir halten uns jeder berechtigt,
von seinen nächsten Erfahrungen, seinen unmittelbaren
Erlebnissen auszugehen, und von da aus zur Erkenntnis des
ganzen Universums aufzusteigen. Wir erstreben ein sicheres
Wissen, aber jeder auf seine eigene Art.
Unsere wissenschaftlichen Lehren sollen auch nicht
mehr eine solche Gestalt annehmen, als wenn ihre Anerkennung
Sache eines unbedingten Zwanges wäre. Keiner von uns
möchte einer wissenschaftlichen Schrift einen Titel
geben, wie einst Fichte: «Sonnenklarer Bericht
an das größere Publikum über das eigentliche
Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser
zum Verstehen zu zwingen.» Heute soll niemand zum
Verstehen gezwungen werden. Wen nicht ein
besonderes, individuelles Bedürfnis zu einer Anschauung
treibt, von dem fordern wir keine Anerkennung, noch
Zustimmung. Auch dem noch unreifen Menschen, dem Kinde,
wollen wir gegenwärtig keine Erkenntnisse eintrichtern,
sondern wir suchen seine Fähigkeiten zu entwickeln,
damit es nicht mehr zum Verstehen gezwungen zu
werden braucht, sondern verstehen will.
Ich gebe mich keiner Illusion hin in bezug auf
diese Charakteristik meines Zeitalters. Ich weiß, wie
viel individualitätloses Schablonentum lebt und sich
breit macht. Aber ich weiß ebenso gut, daß viele
meiner Zeitgenossen im Sinne der angedeuteten Richtung ihr
Leben einzurichten suchen. Ihnen möchte ich diese
Schrift widmen. Sie soll nicht «den einzig
möglichen» Weg zur Wahrheit führen, aber sie
soll von demjenigen erzählen, den einer
eingeschlagen hat, dem es um Wahrheit zu tun ist.
Die Schrift führt zuerst in abstraktere
Gebiete, wo der Gedanke scharfe Konturen ziehen muß, um
zu sichern Punkten zu kommen. Aber der Leser wird aus den
dürren Begriffen heraus auch in das konkrete Leben
geführt. Ich bin eben durchaus der Ansicht, daß man
auch in das Ätherreich der Begriffe sich erheben
muß, wenn man das Dasein nach allen Richtungen
durchleben will. Wer nur mit den Sinnen zu genießen
versteht, der kennt die Leckerbissen des Lebens nicht. Die
orientalischen Gelehrten lassen die Lernenden erst Jahre
eines entsagenden und asketischen Lebens verbringen, bevor
sie ihnen mitteilen, was sie selbst wissen. Das Abendland
fordert zur Wissenschaft keine frommen Übungen und keine
Askese mehr, aber es verlangt dafür den guten Willen,
kurze Zeit sich den unmittelbaren Eindrücken des Lebens
zu entziehen, und in das Gebiet der reinen Gedankenwelt sich
zu begeben.
Der Gebiete des Lebens sind viele. Für jedes
einzelne entwickeln sich besondere Wissenschaften. Das Leben
selbst aber ist eine Einheit, und je mehr die Wissenschaften
be strebt sind, sich in die einzelnen Gebiete zu vertiefen,
desto mehr entfernen sie sich von der Anschauung des
lebendigen Weltganzen. Es muß ein Wissen geben, das in
den einzelnen Wissenschaften die Elemente sucht, um den
Menschen zum vollen Leben wieder zurückzuführen.
Der wissenschaftliche Spezialforscher will sich durch seine
Erkenntnisse ein Bewußtsein von der Welt und ihren
Wirkungen erwerben; in dieser Schrift ist das Ziel ein
philosophisches: die Wissenschaft soll selbst
organisch-lebendig werden. Die Einzelwissenschaften sind
Vorstufen der hier angestrebten Wissenschaft. Ein
ähnliches Verhältnis herrscht in den Künsten.
Der Komponist arbeitet auf Grund der Kompositionslehre. Die
letztere ist eine Summe von Kenntnissen, deren Besitz eine
notwendige Vorbedingung des Komponierens ist. Im Komponieren
dienen die Gesetze der Kompositionslehre dem Leben, der
realen Wirklichkeit. Genau in demselben Sinne ist die
Philosophie eine Kunst. Alle wirklichen Philosophen
waren Begriffskünstler. Für sie wurden die
menschlichen Ideen zum Kunstmateriale und die
wissenschaftliche Methode zur künstlerischen Technik.
Das abstrakte Denken gewinnt dadurch konkretes, individuelles
Leben. Die Ideen werden Lebensmächte. Wir haben dann
nicht bloß ein Wissen von den Dingen, sondern wir haben
das Wissen zum realen, sich selbst beherrschenden Organismus
gemacht; unser wirkliches, tätiges Bewußtsein hat
sich über ein bloß passives Aufnehmen von
Wahrheiten gestellt.
Wie sich die Philosophie als Kunst zur
Freiheit des Menschen verhält, was die letztere
ist, und ob wir ihrer teilhaftig sind oder es werden
können: das ist die Hauptfrage meiner Schrift. Alle
anderen wissenschaftlichen Ausführungen stehen hier nur,
weil sie zuletzt Aufklärung geben über jene, meiner
Meinung nach, den Menschen am nächsten liegenden Fragen.
Eine «Philosophie der Freiheit» soll in
diesen Blättern gegeben werden.
Alle Wissenschaft wäre nur Befriedigung
müßiger Neugierde, wenn sie nicht auf die
Erhöhung des Daseinswertes der menschlichen
Persönlichkeit hinstrebte. Den wahren Wert erhalten
die Wissenschaften erst durch eine Darstellung der
menschlichen Bedeutung ihrer Resultate. Nicht die Veredlung
eines einzelnen Seelenvermögens kann Endzweck des
Individuums sein, sondern die Entwickelung aller in uns
schlummernden Fähigkeiten. Das Wissen hat nur dadurch
Wert, daß es einen Beitrag liefert zur
allseitigen Entfaltung der ganzen
Menschennatur.
Diese Schrift faßt deshalb die Beziehung
zwischen Wissenschaft und Leben nicht so auf, daß der
Mensch sich der Idee zu beugen hat und seine Kräfte
ihrem Dienst weihen soll, sondern in dem Sinne, daß er
sich der Ideenwelt bemächtigt, um sie zu seinen
menschlichen Zielen, die über die bloß
wissenschaftlichen hinausgehen, zu gebrauchen.
Man muß sich der Idee erlebend
gegenüberstellen können; sonst gerät
man unter ihre Knechtschaft.
1. Ganz weggelassen
sind hier nur die allerersten Eingangssätze (der
ersten Auflage) dieser Ausführungen, die mir heute
ganz unwesentlich erscheinen. Was aber des weiteren darin
gesagt ist, scheint mir auch gegenwärtig trotz der
naturwissenschaftlichen Denkart unserer Zeitgenossen, ja
gerade wegen derselben, zu sagen notwendig.
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