Gottesfreundschaft
In Johannes
Tauler (1300-136I), Heinrich Soso
(1295-1366) und Johannes Ruysbroeck (1295-1366)
lernt man Persönlichkeiten kennen, in deren Leben
und Wirken sich auf die eindringlichste Art die
Seelenbewegungen zeigen, die ein Geistesweg wie derjenige
des Meister Eckhart in tiefangelegten Naturen verursacht.
Erscheint Eckhart wie ein Mann, der in seligem Erleben
der geistigen Wiedergeburt von der Beschaffenheit und dem
Wesen der Erkenntnis wie von einem Bilde spricht, das ihm
gelungen ist zu malen: so stellen sich die anderen dar
wie Wanderer, denen diese Wiedergeburt einen neuen Weg
gezeigt hat, den sie wandeln wollen, dessen Ziel sich
ihnen aber in unendliche Ferne rückt. Eckhart
schildert mehr die Herrlichkeiten seines Bildes, sie die
Schwierigkeiten des neuen Weges. Man muß sich
völlig klar machen, wie der Mensch zu seinen
höheren Erkenntnissen steht, wenn man den
Unterschied von Persönlichkeiten wie Eckhart und
Tauler sich vor die Seele treten lassen will. Der Mensch
ist eingesponnen in die Sinnenwelt und in die
Naturgesetzlichkeit, von welcher die Sinnenwelt
beherrscht ist. Er ist selbst ein Ergebnis dieser Welt.
Er lebt, indem ihre Kräfte und Stoffe in ihm
tätig sind; ja er nimmt diese Sinnenwelt wahr und
beurteilt sie nach den Gesetzen, nach denen sie und er
aufgebaut sind. Wenn er sein Auge auf einen Gegenstand
richtet, so stellt sich ihm nicht nur der Gegenstand als
eine Summe von ineinanderwirkenden Kräften dar, die
von den Naturgesetzen beherrscht sind, sondern das Auge
selbst ist ein nach solchen Gesetzen und von solchen
Kräften aufgebauter Körper; und das Sehen
geschieht nach solchen Gesetzen und durch solche
Kräfte. Wären wir in der Naturwissenschaft an
ein Ende gekommen, so könnten wir wohl bis in die
höchsten Regionen der Gedankenbildung dieses Spiel
der Naturkräfte im Sinne der Naturgesetze verfolgen.
- Aber schon, indem wir dies tun, erheben wir uns
über dieses Spiel. Stehen wir denn nicht
über aller bloßen
Naturgesetzmäßigkeit, wenn wir
überschauen, wie wir uns selbst in die
Natur eingliedern? Wir sehen mit unserem Auge
nach den Gesetzen der Natur. Aber wir erkennen
auch die Gesetze, nach denen wir sehen. Wir können
uns auf eine höhere Warte stellen, und zugleich die
Außenwelt und uns selbst in ihrem Zusammenspiel
überschauen. Wirkt da nicht eine Wesenheit in uns,
die höher ist als die nach Naturgesetzen und mit
Naturkräften tätige sinnlich-organische
Persönlichkeit? Ist in solchem Wirken noch eine
Scheidewand zwischen unserem Innern und der
Außenwelt? Was da urteilt, was sich Aufklärung
verschafft, ist nicht mehr unsere
Einzelpersönlichkeit; es ist vielmehr die allgemeine
Weltwesenheit, welche die Schranke niedergerissen hat
zwischen Innenwelt und Außenwelt, und die nunmehr
beide umspannt. So wahr es ist, daß ich noch immer
derselbe Einzelne der äußeren Erscheinung nach
bleibe, wenn ich in dieser Art die Schranke
niedergerissen habe, so wahr ist es auch, daß ich
dem Wesen nach nicht mehr dieser Einzelne bin.
In mir lebt nunmehr die Empfindung, daß in meiner
Seele das Allwesen spricht, das mich und alle Welt
umfaßt. - Solche Empfindungen leben in
Tauler, wenn er sagt: «Der Mensch ist
recht, als ob er drei Menschen sei, sein tierischer
Mensch, wie er nach den Sinnen ist, dann sein
vernünftiger Mensch, und endlich sein oberster
gottförmiger, gottgebildeter Mensch... Der eine ist
der auswendige, tierische, sinnliche Mensch; der andere
ist der inwendige, vernünftige Mensch, mit seinen
Vernünftigen Kräften; der dritte Mensch ist das
Gemüt, der alleroberste Teil der Seele» (vgl.
W. Preger, «Geschichte der deutschen Mystik»,3.
Bd., S. 161). Wie dieser dritte Mensch erhaben ist
über den ersten und zweiten, das hat Eckhart in den
Worten gesagt: «Das Auge, durch das ich Gott sehe,
das ist das gleiche Auge, mit dem Gott mich sieht. Mein
Auge und Gottes Auge das ist ein Auge und ein Sehen und
ein Erkennen und ein Empfinden.» Aber in Tauler lebt
zugleich mit dieser eine andere Empfindung. Er ringt sich
durch zu einer wirklichen Anschauung vom Geistigen und
vermengt nicht fortwährend, wie die falschen
Materialisten und die falschen Idealisten, das
Sinnlich-Natürliche mit dem Geistigen. Wäre
Tauler, mit seiner Gesinnung, Naturforscher geworden: er
hätte darauf bestehen müssen, alles
Natürliche, mit Einschluß des ganzen Menschen,
des ersten und zweiten, rein naturgemäß zu
erklären. Er hätte niemals «rein»
geistige Kräfte in die Natur selbst versetzt. Er
hätte nicht von einer nach Menschenmuster gedachten
«Zweckmäßigkeit» in der Natur
gesprochen. Er wußte, daß da, wo wir mit den
Sinnen wahrnehmen, keine
«Schöpfungsgedanken» zu finden sind. In
ihm lebte vielmehr das allerstärkste Bewußtsein
davon, daß der Mensch ein bloß natürliches
Wesen ist. Und da er sich nicht als Naturforscher,
sondern als Pfleger des sittlichen Lebens fühlte, so
empfand er den Gegensatz, der sich auftut zwischen diesem
natürlichen Wesen des Menschen und dem Gottschauen,
das inmitten der Natürlichkeit, auf natürliche
Weise, aber als Geistigkeit entspringt. Eben in diesem
Gegensatz trat ihm der Sinn des Lebens vor Augen. Als
Einzelwesen, als Naturgeschöpf findet sich der
Mensch. Und keine Wissenschaft kann ihm etwas anderes
über dieses Leben eröffnen, als daß er ein
solches Naturgeschöpf ist. Er kann als
Naturgeschöpf nicht über die
Naturgeschöpflichkeit hinaus. Er muß in ihr
bleiben. Und doch führt ihn sein inneres Leben
darüber hinaus. Er muß Vertrauen haben zu dem,
was ihm keine Wissenschaft der äußeren Natur
geben und zeigen kann. Nennt er diese Natur das
Da-Seiende, so muß er vordringen können zu der
Anschauung, die das Nicht-Seiende als das Höhere
anerkennt. Tauler sucht keinen Gott, der im Sinne einer
Naturkraft vorhanden ist; er sucht keinen Gott, der im
Sinne der Menschenschöpfungen die Welt geschaffen
hätte. In ihm lebt die Erkenntnis, daß selbst
der Schöpfungsbegriff der Kirchenlehrer nur
idealisiertes Menschenschaffen ist. Ihm ist klar,
daß Gott nicht gefunden wird, wie von der
Wissenschaft Naturwirken und Naturgesetzlichkeit gefunden
werden. Tauler ist sich dessen bewußt, daß wir
zu der Natur als Gott nichts hinzu denken dürfen. Er
weiß, daß wer, in seinem Sinne, Gott denkt,
nicht mehr Gedankeninhalt denkt, als wer die Natur in
Gedanken gefaßt hat. Tauler will deshalb nicht Gott
denken, sondern er will göttlich denken. Nicht
bereichert wird die Naturerkenntnis durch das
Gotteswissen, sondern verwandelt. Nicht
anderes weiß der Gotteserkenner als der
Naturerkenner, sondern er weiß anders.
Nicht einen Buchstaben kann der Gotteserkenner zu dem
Naturerkennen hinzufügen; aber durch sein ganzes
Naturerkennen leuchtet ein neues Licht.
Welche Grundempfindungen sich der Seele eines
Menschen bemächtigen, der die Welt von solchen
Gesichtspunkten aus betrachtet, das wird davon
abhängen, wie er das Erlebnis der Seele betrachtet,
das die geistige Wiedergeburt bringt. Innerhalb dieses
Erlebnisses ist der Mensch ganz Naturwesen, wenn er sich
im Zusammenspiel mit der übrigen Natur betrachtet;
und er ist ganz Geistwesen, wenn er auf den Zustand
sieht, den ihm seine Verwandlung bringt. Man kann deshalb
mit gleichem Rechte sagen: der tiefste Grund der Seele
ist noch natürlich, wie auch, er ist schon
göttlich. Tauler betonte, seiner Sinnesweise
gemäß, das erstere. Wir mögen noch so tief
in unsere Seele dringen, wir bleiben immer
Einzelmenschen, sagte er sich. Aber doch leuchtet in dem
Seelengrunde des Einzelmenschen das Allwesen auf. Tauler
war beherrscht von dem Gefühle: du kannst dich von
der Einzelheit nicht loslösen, dich von ihr nicht
reinigen. Deshalb kann das Allwesen auch nicht in seiner
Reinheit in dir zum Vorschein kommen, sondern es kann nur
deinen Seelengrund bescheinen. In diesem kommt also doch
nur ein Abglanz, ein Bild des Allwesens
zustande. Du kannst deine Einzelpersönlichkeit so
verwandeln, daß sie im Bilde das Allwesen
wiedergibt; aber dieses Allwesen selbst leuchtet nicht in
dir. Von solchen Vorstellungen aus kam Tauler doch zu dem
Gedanken einer nie in der menschlichen Welt ganz
aufgehenden, nie in sie einfließenden Gottheit. Ja,
er legt Wert darauf, nicht mit denen verwechselt zu
werden, die das Innere des Menschen selbst als ein
Göttliches erklären. Er sagt, die Vereinigung
mit Gott «nehmen unverständige Menschen
fleischlich und sprechen, sie sollten in göttliche
Natur verwandelt werden; das ist aber zumal falsch und
böse Ketzerei. Denn auch bei der allerhöchsten,
nächsten, innigsten Einigung mit Gott ist doch
göttliche Natur und Gottes Wesen hoch, ja höher
als alle Höhe; das gehet in einen göttlichen
Abgrund, was da nimmer keiner Kreatur wird.» Tauler
will, im Sinne seiner Zeit und im Sinne seines
Priesterberufs gläubiger Katholik mit Recht genannt
werden. Es liegt ihm nicht daran, dem Christentum eine
andere Anschauung entgegenzusetzen. Er will dieses
Christentum durch seine Anschauung nur vertiefen,
vergeistigen. Er spricht wie ein frommer Priester von dem
Inhalte der Schrift. Aber diese Schrift wird in seiner
Vorstellungswelt doch zu einem Ausdrucksmittel für
die innersten Erlebnisse seiner Seele. «Gott wirket
alle seine Werke in der Seele und gibt sie der Seele, und
der Vater gebiert seinen eingeborenen Sohn in der Seele,
so wahrlich er ihn in der Ewigkeit gebiert, weder minder
noch mehr. Was wird geboren, wenn man spricht: Gott
gebiert in der Seele? Ist es ein Gleichnis Gottes, oder
ist es ein Bild Gottes, oder ist es etwas Gottes? Nein,
es ist weder Bild, noch Gleichnis Gottes, sondern
derselbe Gott und derselbe Sohn, den der Vater in der
Ewigkeit gebiert und nichts anderes, denn das minnigliche
göttliche Wort, das die andere Person in der
Dreifaltigkeit ist, den gebiert der Vater in der Seele...
und hievon hat die Seele also große und sonderliche
Würdigkeit» (vgl. Preger, «Geschichte der
deutschen Mystik», 3. Bd., S. 219 f). – Die
Erzählungen der Schrift werden für Tauler das
Kleid, in das er Vorgänge des inneren Lebens
hüllt. «Herodes, der das Kind verjagte und
töten wollte, ist ein Vorbild der Welt, welche noch
dieses Kind in einem gläubigen Menschen töten
will, darum soll und muß man sie fliehen, wollen wir
anders das Kind in uns lebendig erhalten, das Kind aber
ist die erleuchtete gläubige Seele eines jeglichen
Menschen.»
Tauler kommt es deshalb, weil er den Blick auf
den natürlichen Menschen richtet, weniger darauf an,
zu sagen, was wird, wenn der höhere Mensch in den
natürlichen einzieht, als vielmehr, die Wege zu
finden, welche die niederen Kräfte der
Persönlichkeit einzuschlagen haben, wenn sie in das
höhere Leben übergeführt werden sollen.
Als Pfleger des sittlichen Lebens will er dem Menschen
die Wege zum Allwesen zeigen. Er hat den unbedingten
Glauben und das Vertrauen, daß das Allwesen in dem
Menschen aufleuchtet, wenn dieser sein Leben so
einrichtet, daß für das Göttliche in ihm
eine Stätte ist. Niemals aber kann dieses Allwesen
aufleuchten, wenn der Mensch in seiner bloßen,
natürlichen, einzelnen Persönlichkeit sich
abschließt. Dieser in sich abgesonderte Mensch ist
in der Sprache Taulers nur ein Glied der Welt; eine
einzelne Kreatur. Je mehr sich der Mensch in dieses sein
Dasein als Glied der Welt einschließt, desto weniger
kann das Allwesen in ihm Platz finden. «Soll der
Mensch in der Wahrheit mit Gott eins werden, so
müssen alle Kräfte auch des inwendigen Menschen
sterben und schweigen. Der Wille muß selbst des
Guten und alles Willens entbildet und willenlos
werden.» «Der Mensch soll entweichen allen
Sinnen und einkehren alle seine Kräfte, und kommen
in ein Vergessen aller Dinge und seiner selbst.»
«Denn das wahrhafte und ewige Wort Gottes wird
allein in der Wüste gesprochen, wenn der Mensch von
sich selbst und von allen Dingen ausgegangen ist, und
ganz ledig, wüst und einsam steht.»
Als Tauler auf seiner Höhe stand, da trat
die Frage in den Mittelpunkt seines Vorstellungslebens:
wie kann der Mensch sein Einzeldasein in sich vernichten,
überwinden, damit er im Sinne des All-Lebens
mitlebe? Wer in dieser Lage ist, dem drängen sich
die Gefühle gegenüber dem Allwesen in das eine
zusammen: Ehrfurcht vor diesem Allwesen, als dem, was
unerschöpflich, unendlich ist. Er sagt sich: hast du
welche Stufe immer erreicht; es gibt noch höhere
Ausblicke, noch erhabenere Möglichkeiten. So
bestimmt und klar ihm die Richtung ist, in der er seine
Schritte zu bewegen hat, so klar ist ihm auch, daß
er von einem Ziele nie sprechen kann. Ein neues Ziel ist
nur der Anfang zu einem neuen Wege. Durch ein solches
neues Ziel hat der Mensch einen Entwicklungsgrad
erreicht; die Entwicklung selbst bewegt sich ins
Unermeßliche. Und was sie auf einer ferneren Stufe
erreichen wird, weiß sie in der gegenwärtigen
nie. Ein Erkennen des letzten Zieles gibt es
nicht; nur ein Vertrauen in den Weg, in die
Entwicklung. Für alles, was der Mensch schon
erreicht hat, gibt es ein Erkennen. Es besteht in dem
Durchdringen eines schon vorhandenen Gegenstandes durch
die Kräfte unseres Geistes. Für das höhere
Leben des Innern gibt es ein solches Erkennen
nicht. Hier müssen sich die Kräfte unseres
Geistes den Gegenstand selbst erst in das Vorhandensein
versetzen; sie müssen ihm ein Dasein, das so ist,
wie das natürliche Dasein, erst schaffen.
Die Naturwissenschaft verfolgt die Entwicklung der Wesen
von dem einfachsten bis zu dem vollkommensten, dem
Menschen selbst. Diese Entwicklung liegt als
abgeschossene vor uns. Wir erkennen sie, indem wir sie
mit unseren Geisteskräften durchdringen. Ist die
Entwicklung beim Menschen angekommen, dann
findet er keine weitere Fortsetzung vorhanden
vor. Er vollzieht selbst die Weiterentwicklung. Er
lebt nunmehr, was er für frühere
Stufen bloß erkennt. Er schafft
dem Gegenstande nach, was er für das vorhergehende
nur dem geistigen Wesen gemäß
nachschafft. Daß die Wahrheit nicht eins
ist mit dem Vorhandenen in der Natur, sondern
natürlich Vorhandenes und Nicht-Vorhandenes
umspannt: davon ist Tauler ganz erfüllt in allen
seinen Empfindungen. Es ist uns überliefert,
daß er zu dieser Erfüllung durch einen
erleuchteten Laien, einen «Gottesfreund vom
Oberland» geführt worden ist. Es liegt hier
eine geheimnisvolle Geschichte vor. Darüber, wo
dieser Gottesfreund gelebt hat, gibt es nur Vermutungen;
darüber, wer er gewesen ist, nicht einmal solche. Er
soll viel von Taulers Art, zu predigen, gehört
haben, und sich nach diesen Mitteilungen entschlossen
haben, zu Tauler, der als Prediger in Straßburg
wirkte, zu reisen, um an ihm eine Aufgabe zu
erfüllen. Das Verhältnis Taulers zum
Gottesfreund und den Einfluß, den dieser auf jenen
ausgeübt hat, finden wir in einer Schrift
dargestellt, die den ältesten Ausgaben von Taulers
Predigten unter dem Titel «Das Buch des
Meisters» beigedruckt ist. Darin erzählt ein
Gottesfreund, in dem man den erkennen will, der zu Tauler
in Beziehungen getreten ist, von einem
«Meister», als den man Tauler selbst erkennen
will. Er erzählt, wie ein Umschwung, eine geistige
Wiedergeburt in einem «Meister» bewirkt worden
ist, und wie dieser, als er seinen Tod herankommen
fühlte, den Freund zu sich rief und ihn bat, die
Geschichte seiner «Erleuchtung» zu schreiben,
jedoch dafür zu sorgen, daß niemals jemand
erfährt, von wem in dem Buche die Rede ist. Er
bittet darum aus dem Grunde, weil alle die Erkenntnisse,
die von ihm ausgehen, doch nicht von ihm sind. «Denn
wisset, Gott hat alles durch mich armen Wurm gewirkt, das
ist es auch, es ist nicht mein, es ist Gottes.» Ein
wissenschaftlicher Streit, der sich an die Angelegenheit
geknüpft hat, ist für das Wesen der Sache nicht
von der allergeringsten Bedeutung. Es wurde von einer
Seite (Denifle, «Die Dichtungen des Gottesfreundes
im Oberlande») zu beweisen versucht, daß der
Gottesfreund niemals existiert habe, sondern daß
seine Existenz erdichtet sei, und die ihm zugeschriebenen
Bücher von einem anderen (Rulman Merswin)
herrühren. Mit vielen Gründen hat Wilhelm
Preger («Geschichte der deutschen Mystik») die
Existenz, die Echtheit der Schriften und die Richtigkeit
der Tatsachen, die sich auf Tauler beziehen, zu
stützen gesucht. - Mir obliegt es hier nicht, mit
aufdringlicher Forschung ein menschliches Verhältnis
zu beleuchten, von dem derjenige, welcher die in Betracht
kommenden Schriften zu lesen versteht, ganz gut
weiß, daß es Geheimnis bleiben soll. (Diese in
Betracht kommenden Schriften sind u. a.: «Von eime
eiginwilligen weltwisen manne, der von eime heiligen
weltpriestere gewiset wart uffe demuetige
gehorsamme», 1338; «Das Buch von den zwei
Mannen»; «Der gefangene Ritter», 1349;
«Die geistliche stege», 1350; «Von der
geistlichen Leiter», 1357; «Das
Meisterbuch», 1369; «Geschichte von zwei jungen
15 jährigen Knaben».) Wenn von Tauler gesagt
wird, daß mit ihm auf einer gewissen Stufe seines
Lebens eine Wandlung sich vollzogen habe, wie diejenige
ist, die ich nunmehr schildern will, so genügt das
vollkommen. Taulers Persönlichkeit kommt dabei gar
nicht mehr in Betracht, sondern eine Persönlichkeit
«im allgemeinen». Was Tauler betrifft, so geht
uns nur an, daß wir seine Wandlung unter
dem durch das Folgende angegebenen Gesichtspunkte zu
verstehen haben. Vergleichen wir sein späteres
Wirken mit seinem vorhergehenden, so ist, ohne weiteres,
die Tatsache dieser Wandlung gegeben. Ich lasse alle
äußeren Tatsachen weg und erzähle die
inneren Seelenvorgänge des «Meisters»
unter «dem Einflusse des Laien». Was sich mein
Leser unter dem «Laien» und unter dem
«Meister» denkt, hängt ganz von seiner
Geistesart ab; was ich mir selbst darunter vorstelle,
davon kann ich nicht wissen, für wen es noch in
Betracht kommt. - Ein Meister belehrt seine Zuhörer
über das Verhältnis der Seele zum Allwesen der
Dinge. Er spricht davon, daß der Mensch nicht mehr
die natürlichen, beschränkten Kräfte der
Einzelpersönlichkeit in sich wirken fühlt, wenn
er in den Abgrund seiner Seelentiefen hinuntersteigt.
Dort spricht nicht mehr der einzelne Mensch, dort spricht
Gott. Dort sieht nicht der Mensch Gott, oder die Welt;
dort sieht Gott sich selbst. Der Mensch ist mit Gott
eins geworden. Aber der Meister weiß,
daß diese Lehre noch nicht völlig lebendig in
ihm geworden ist. Er denkt sie mit dem Verstande; aber er
lebt noch nicht in ihr mit jeder Faser seiner
Persönlichkeit. Er lehrt also von einem Zustande,
den er in sich noch nicht vollkommen durchgemacht hat.
Die Schilderung des Zustandes entspricht der Wahrheit;
doch ist diese Wahrheit nichts wert, wenn sie nicht Leben
gewinnt, wenn sie sich nicht in der Wirklichkeit als
Dasein hervorbringt. Der «Laie» oder
«Gottesfreund» hört von dem Meister und
seinen Lehren. Er ist von der Wahrheit, die der Meister
ausspricht, nicht minder durchdrungen als dieser selbst.
Aber er hat diese Wahrheit nicht als Verstandessache. Er
hat sie als ganze Kraft seines Lebens. Er weiß,
daß man diese Wahrheit, wenn sie von außen
angeflogen ist, selbst aussprechen kann, ohne auch nur im
geringsten in ihrem Sinne zu leben. Man hat dann doch
nichts anderes als die natürliche Erkenntnis des
Verstandes in sich. Man spricht von dieser
natürlichen Erkenntnis dann so, als ob sie die
höchste, mit dem Wirken des Allwesens gleiche,
wäre. Sie ist es nicht, weil sie nicht in einem
Leben erworben ist, das schon als ein verwandeltes, als
ein wiedergeborenes an diese Erkenntnis herangetreten
ist. Was man als bloß natürlicher
Mensch erwirbt, das bleibt bloß
natürlich, auch wenn man hinterher den Grundzug der
höheren Erkenntnis in Worten ausspricht. Aus der
Natur selbst heraus muß die Verwandlung vollzogen
werden. Die Natur, die lebend sich bis zu einer gewissen
Stufe entwickelt hat, muß durch das Leben
weiterentwickelt werden; neues muß durch diese
Weiterentwicklung entstehen. Nicht bloß
zurückschauen auf die schon vorliegende Entwicklung
darf der Mensch und das, was sich in seinem Geiste
über diese Entwicklung nachbildet, als das
höchste ansprechen; sondern vorschauen
muß er auf Ungeschaffenes; ein Anfang eines
neuen Inhalts muß seine Erkenntnis sein, nicht ein
Ende des vor ihr liegenden Entwicklungsinhalts.
Die Natur schreitet vom Wurm zum Säugetier, vom
Säugetier zum Menschen nicht in einem begrifflichen,
sondern in einem wirklichen Prozeß. Der Mensch soll
diesen Prozeß im Geiste nicht bloß wiederholen.
Die geistige Wiederholung ist nur der Anfang einer neuen
wirklichen Entwicklung, die aber eine geistige
Wirklichkeit ist. Der Mensch erkennt dann nicht
bloß, was die Natur hervorgebracht hat; er setzt die
Natur fort; er setzt seine Erkenntnis in lebendiges Tun
um. Er gebiert in sich den Geist; und dieser Geist
schreitet von da an fort von Entwicklungsstufe zu
Entwicklungsstufe, wie die Natur fortschreitet. Der Geist
beginnt einen Naturprozeß auf höherer Stufe.
Das Sprechen über den Gott, der sich im Innern des
Menschen selbst schaut, nimmt bei dem, der solches
erkannt hat, einen anderen Charakter an. Er legt wenig
Wert darauf, daß eine schon erlangte Erkenntnis ihn
in die Tiefen des Allwesens geführt hat; dafür
gewinnt seine Geistesart ein neues Gepräge. Sie
entwickelt sich in der Richtung, die durch das Allwesen
bestimmt ist, weiter. Ein solcher Mensch
betrachtet nicht allein die Welt anders als der
bloß Verständige; er lebt das Leben
anders. Er spricht nicht von dem Sinn, den das
Leben schon hat durch die Kräfte und Gesetze der
Welt; sondern er gibt erst diesem Leben einen neuen Sinn.
So wenig der Fisch das in sich hat, was auf späterer
Entwicklungsstufe als Säugetier zum Vorschein kommt,
so wenig hat der verständige Mensch das schon in
sich, was aus ihm als höherer Mensch geboren werden
soll. Könnte der Fisch sich und die Dinge um sich
her erkennen: er betrachtete das Fisch-Sein als den Sinn
des Lebens. Er würde sagen: Das Allwesen ist gleich
dem Fisch; im Fisch sieht das Allwesen sich selbst. So
mag der Fisch sprechen, solange er bloß an sein
verstandesmäßiges Erkennen sich hält. In
Wirklichkeit hält er sich nicht daran. Er geht mit
seinem Wirken über sein Erkennen hinaus. Er wird zum
Kriechtier und später zum Säugetier. Der Sinn,
den er sich in Wirklichkeit gibt, geht über den
Sinn, den ihm das bloße Betrachten eingibt, hinaus.
Auch beim Menschen muß es so sein. Er gibt sich
einen Sinn in der Wirklichkeit; er bleibt nicht stehen
bei dem Sinne, den er schon hat, und den ihm seine
Betrachtung zeigt. Das Erkennen springt über sich
selbst hinaus, wenn es sich nur recht versteht. Die
Erkenntnis kann nicht aus einem fertigen Gotte die Welt
ableiten; sie kann nur aus einem Keime sich in der
Richtung nach einem Gotte entwickeln. Der Mensch, der das
begriffen hat, will nicht Gott betrachten wie etwas, das
außer ihm ist; er will Gott behandeln wie ein Wesen,
welches mit ihm wandelt zu einem Ziel, das im Anfange so
unbekannt ist, wie dem Fisch die Natur des
Säugetiers unbekannt ist. Nicht Erkenner des
verborgenen, oder sich offenbarenden, seienden Gottes
will er sein, sondern Freund des göttlichen,
über Sein und Nicht-Sein erhabenen göttlichen
Tuns und Wirkens. Ein «Gottesfreund» in diesem
Sinne war der Laie, der zu dem Meister kam. Und durch ihn
wurde der Meister aus einem Betrachter der Wesenheit
Gottes ein «Lebendiger im Geiste», der nicht
bloß betrachtete, sondern lebte im
höheren Sinn. Dieser holte nun nicht mehr Begriffe
und Ideen des Verstandes aus seinem Innern, sondern diese
Begriffe und Ideen drangen aus ihm hervor als lebendiger,
wesenhafter Geist. Er erbaute nicht mehr bloß seine
Zuhörer; er erschütterte sie. Er versenkte ihre
Seelen nicht mehr in ihr Inneres; er führte sie in
ein neues Leben. Symbolisch wird uns das erzählt:
etwa vierzig Menschen fielen durch seine Predigt hin und
waren wie tot.
Als Führer zu einem solchen neuen Leben
stellt sich eine Schrift dar, über deren Verfasser
nichts bekannt ist. Luther hat sie zuerst durch den Druck
bekanntgemacht. Der Sprachforscher Franz Pfeiffer hat sie
nach einer aus dem Jahre 1497 stammenden Handschrift
neuerdings gedruckt, und zwar mit einer dem Urtext
gegenüberstehenden neu-deutschen Übersetzung.
Was der Schrift vorgeschickt ist, gibt ihre Absicht und
ihr Ziel an: «Hier hebet der Frankfurter an und sagt
gar hohe und gar schöne Dinge von einem vollkommenen
Leben.» Es schließt sich daran «die
Vorrede über den Frankfurter»: «Dies
Büchlein hat der allmächtige, ewige Gott
ausgesprochen durch einen weisen, verständigen,
wahrhaftigen, gerechten Menschen, seinen Freund, der vor
Zeiten ein deutscher Herr gewesen ist, ein Priester und
ein Custos in der deutschen Herren Haus zu Frankfurt; es
lehret gar manche liebliche Erkenntnis göttlicher
Wahrheit, und besonders, wie und wodurch man erkennen mag
die wahrhaften, gerechten Gottesfreunde, und auch die
ungerechten, falschen, freien Geister, die der heiligen
Kirche gar schädlich sind.» - Man darf unter
«freien Geistern» diejenigen verstehen, welche
in einer Vorstellungswelt leben, wie der oben
beschriebene «Meister» vor seiner Verwandlung
durch den «Gottesfreund», und unter den
«wahrhaften, gerechten Gottesfreunden» solche
mit der Gesinnung des «Laien». Man darf ferner
dem Buch die Absicht zuschreiben, auf seine Leser so zu
wirken, wie der «Gottesfreund im Oberland» auf
den Meister gewirkt hat. Man kennt den Verfasser nicht.
Was heißt das aber? Man weiß nicht, wann er
geboren und gestorben ist, und was er innerhalb des
äußerlichen Lebens getrieben hat. Daß der
Verfasser über diese Tatsachen seines
äußeren Lebens ein ewiges Geheimnis erstrebt
hat, gehört schon zu der Art, in der er wirken
wollte. Nicht das in einem bestimmten Zeitpunkte geborene
«Ich» dieses oder jenes Menschen soll zu uns
sprechen, sondern die Ichheit, auf deren Grund sich
«die Besonderheit der Individualitäten»
(im Sinne des Ausspruches Paul Asmus', vgl. oben S. 27
f.) erst entwickelt. «Wenn Gott alle Menschen an
sich nähme, die da sind und je waren, und in ihnen
vermenscht würde, und sie in ihm vergottet, und
geschähe es nicht auch an mir, so würden mein
Fall und mein Abkehren nimmer gebessert, es geschähe
denn auch in mir. Und in dieser Wiederherstellung und
Besserung kann und mag und soll ich nichts dazu tun, als
ein bloßes lauteres Leiden, also daß Gott
allein alle Dinge in mir tue und wirke, und ich leide ihn
und alle seine Werke und seinen göttlichen Willen.
Aber so ich das nicht leiden will, sondern mich besitze
mit Eigenschaft, d. i. mit Mein und Ich, Mir, Mich und
dergleichen, das hindert Gott, daß er nicht
lauterlich allein und ohne Hindernis in mir sein Werk
wirken kann. Darum so bleibt auch mein Fall und mein
Abkehren ungebessert.» Der «Frankfurter»
will nicht als Einzelner sprechen; er will Gott sprechen
lassen. Daß er das doch nur als einzelne, besondere
Persönlichkeit kann, weiß er natürlich;
aber er ist «Gottesfreund», das heißt, ein
Mensch, der nicht durch Betrachten das Wesen des Lebens
darstellen, sondern durch den lebendigen Geist den
Anfang einer Entwicklungsrichtung weisen will.
Die Auseinandersetzungen der Schrift sind verschiedene
Unterweisungen, wie man zu diesem Wege kommt. Der
Grundgedanke kehrt immer wieder: Der Mensch soll
abstreifen alles, was mit derjenigen Anschauung
zusammenhängt, die ihn als eine einzelne, besondere
Persönlichkeit erscheinen läßt. Dieser
Gedanke scheint nur im Hinblick auf das sittliche Leben
ausgeführt; er ist, ohne weiteres, auch auf das
höhere Erkenntnisleben zu übertragen. Man soll
in sich vernichten, was als Besonderheit erscheint: dann
hört das Sonderdasein auf; das All-Leben zieht in
uns ein. Wir können uns nicht dadurch dieses
All-Lebens bemächtigen, daß wir es an uns
heranziehen. Es kommt in uns, wenn wir das Einzel-Sein in
uns zum Schweigen bringen. Wir haben gerade dann das
All-Leben am allerwenigsten, wenn wir unser Einzeldasein
so betrachten, als wenn in ihm schon das All ruhte. Dies
geht erst dann in dem Einzeldasein auf, wenn dieses
Einzeldasein nicht für sich in Anspruch nimmt, etwas
zu sein. Dieses Beanspruchen des Einzeldaseins nennt die
Schrift das «Annehmen». Durch das
«Annehmen» macht es sich das «Ich»
unmöglich, daß das All-Ich in es einzieht. Das
Ich setzt sich dann als Teil, als Unvollkommenes an die
Stelle des Ganzen, des Vollkommenen. «Das
Vollkommene ist ein Wesen, das in sich und in seinem
Wesen alle Wesen begriffen und beschlossen hat, und ohne
das und außer dem kein wahres Wesen ist, und in dem
alle Dinge ihr Wesen haben; denn es ist aller Dinge Wesen
und ist in sich selber unwandelbar und unbeweglich, und
verwandelt und bewegt alle anderen Dinge. Aber das
Geteilte und Unvollkommene ist das, was aus diesem
Vollkommenen entsprungen ist, oder wird, recht wie ein
Glanz oder ein Schein, der da ausfließt aus der
Sonne oder aus einem Lichte und scheint etwas, dies oder
das. Und das heißt Kreatur, und dieser Geteilten
aller ist keins das Vollkommene. Also ist auch das
Vollkommene der Geteilten keins... Wenn das
Vollkommene kommt, so verschmäht man das Geteilte.
Wann kommt es aber? Ich spreche: wenn es, sofern es
möglich ist, erkannt, empfunden und geschmeckt wird
in der Seele; denn der Mangel liegt gänzlich in uns
und nicht in ihm. Denn gleich wie die Sonne die ganze
Welt erleuchtet und dem einen ebenso nahe ist wie dem
anderen, so sieht sie doch ein Blinder nicht. Aber das
ist kein Gebrechen der Sonne, sondern des Blinden... Soll
mein Auge etwas sehen, so muß es gereinigt werden,
oder sein von allen anderen Dingen... Nun möchte man
sprechen: sofern es nun unerkenntlich und unbegreiflich
ist von allen Kreaturen, und die Seele nun eine Kreatur
ist, wie mag es dann in der Seele erkannt werden?»
Antwort: darum spricht man, die Kreatur soll als
Kreatur erkannt werden. Das heißt so viel, als
alle Kreatur soll als Kreatürlichkeit und
Geschaffenheit angesehen werden, und nicht, wodurch dies
Erkennen unmöglich ist, als Ichheit und Selbstheit
sich betrachten. «Denn in welcher Kreatur dies
Vollkommene erkannt werden soll, da muß
Kreatürlichkeit, Geschaffenheit, Ichheit, Selbstheit
und dergleichen alles verloren und zu nichte
werden.» (1. Kapitel der Schrift des Frankfurters.)
Die Seele muß also in sich sehen, da findet sie ihre
Ichheit, ihre Selbstheit. Bleibt sie dabei stehen, so
scheidet sie sich von dem Vollkommenen ab. Betrachtet sie
ihre Ichheit nur als eine ihr gleichsam geliehene und
vernichtet sie im Geiste dieselbe, so wird sie von dem
Strom des All-Lebens, der Vollkommenheit, erfaßt.
«Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt, als
Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermögens,
kürzlich alles dessen, das man gut nennen soll, und
meint, daß sie das sei oder daß es das Ihre sei
oder ihr zugehöre oder daß es von ihr sei: so
oft und viel das geschieht, so kehrt sie sich ab.»
Es hat «die geschaffene Seele des Menschen zwei
Augen. Das eine ist die Möglichkeit, zu sehen in die
Ewigkeit; das andere, zu sehen in die Zeit und in die
Kreatur.» «Der Mensch sollte also gar frei ohne
sich selbst stehen und sein, das ist ohne Selbstheit,
Ichheit, Mir, Mein, Mich und desgleichen, also daß
er sich und des Seinen so wenig suchte und meinte in
allen Dingen, als ob es nicht wäre; und sollte auch
also wenig von sich selber halten, als ob er nicht
wäre, und als ob ein anderer alle seine Werke getan
hätte.» (5. Kapitel.) Auch bei dem Verfasser
dieser Sätze muß man damit rechnen, daß
der Vorstellungsgehalt, dem er durch seine höheren
Ideen und Empfindungen eine Richtung gibt, derjenige
eines gläubigen Priesters im Sinne seiner Zeit ist.
Hier handelt es sich nicht um den Vorstellungsinhalt,
sondern um die Richtung, nicht um die Gedanken, sondern
um die Geistesart. Wer nicht wie er in christlichen
Dogmen, sondern in Vorstellungen der Naturwissenschaft
lebt, prägt andere Gedanken seinen Sätzen ein;
aber er weist mit diesen anderen Gedanken nach derselben
Richtung hin. Und diese Richtung ist die, welche zur
Überwindung der Selbstheit durch diese Selbstheit
selber führt. Dem Menschen leuchtet in seinem Ich
das höchste Licht. Aber dieses Licht gibt seiner
Vorstellungswelt nur den rechten Widerschein, wenn er
gewahr wird, daß es nicht sein Selbstlicht ist,
sondern das allgemeine Weltlicht. Es gibt daher keine
wichtigere Erkenntnis als die Selbsterkenntnis; und es
gibt zugleich keine, die so vollkommen über sich
selbst hinausführt. Wenn das «Ich» sich
recht erkennt, so ist es schon kein «Ich» mehr.
In seiner Sprache drückt das der Verfasser der in
Rede stehenden Schrift so aus: «Denn Gottes
Eigenschaft ist ohne dies und ohne das und ohne
Selbstheit und Ichheit; aber der Kreatur Natur und Eigen
ist, daß sie sich selber und das Ihre, und das dies
und das sucht und will; und in all dem, was sie tut oder
läßt, will sie ihren Frommen und Nutzen
empfangen. Wo nun die Kreatur oder der Mensch sein Eigen
und seine Selbstheit und sich selbst verliert, und von
sich selbst ausgeht, da geht Gott ein mit seinem Eigen,
das ist mit seiner Selbstheit.» (24. Kapitel.) Der
Mensch steigt von einer Anschauung über sein
«Ich», die ihm dieses als sein Wesen erscheinen
läßt, zu einer solchen empor, die es ihm als
bloßes Organ zeigt, in dem das Allwesen auf sich
wirkt. Innerhalb des Vorstellungskreises unserer Schrift
heißt das: «Kann der Mensch dazu gelangen,
daß er Gottes ebenso zugehörig ist, wie die
Hand des Menschen diesem zugehörig ist, dann lasse
er sich genügen und suche nicht weiter.» (54.
Kapitel.) Das soll nicht heißen, der Mensch soll in
einem gewissen Punkte seiner Entwicklung stehen bleiben,
sondern er soll, wenn er soweit ist, wie in obigen Worten
angedeutet ist, nicht weiter Untersuchungen über die
Bedeutung der Hand anstellen, sondern vielmehr die Hand
gebrauchen, auf daß sie dem Körper, dem sie
gehört, Dienste leiste.
Heinrich Suso und Johannes
Ruysbroek hatten eine Geistesart, die man als
Genialität des Gemüts bezeichnen darf. Ihr
Gefühl wird von etwas Instinktartigem dahin gezogen,
wohin Eckharts und Taulers Gefühle durch
höheres Vorstellungsleben geführt worden sind.
Inbrünstig wendet sich Susos Herz nach einem
Urwesen, das den einzelnen Menschen ebenso umfaßt
wie die ganze übrige Welt, und in dem er, sich
selbst vergessend, aufgehen will wie ein Wassertropfen in
dem großen Ozean. Er redet von diesem seinem Sehnen
nach dem Allwesen nicht wie von etwas, das er mit
Gedanken umspannen will; er redet davon wie von einem
Naturtrieb, der seine Seele trunken macht nach
Vernichtung ihres Sonderdaseins und nach dem
Wiederaufleben in der Allwirksamkeit des unendlichen
Wesens. «Zu dem Wesen kehre deine Augen in seiner
lauteren bloßen Einfältigkeit, daß du
fallen lassest dies und das teilhaftige Wesen. Nimm
allein Wesen an sich selbst, das unvermischt sei mit
Nichtwesen; denn alles Nichtwesen leugnet alles Wesen;
ebenso tut das Wesen an sich selbst, das leugnet alles
Nichtwesen. Ein Ding, das noch werden soll, oder gewesen
ist, das ist jetzt nicht in wesentlicher
Gegenwärtigkeit. Nun kann man vermischtes Wesen oder
Nichtwesen nicht erkennen, denn mit einem Gemerk des
alligen Wesens. Denn so man ein Ding will verstehen, so
begegnet der Vernunft zuerst Wesen, und das ist ein alle
Dinge wirkendes Wesen. Es ist nicht ein zerteiltes Wesen
dieser oder der Kreatur; denn das geteilte Wesen ist
alles vermischt mit etwas Anderheit einer
Möglichkeit, etwas zu empfangen. Darum, so muß
das namenlose göttliche Wesen in sich selbst ein
alliges Wesen sein, das alle zerteilte Wesen erhält
mit seiner Gegenwärtigkeit.» So spricht Suso in
der Selbstbiographie, die er im Verein mit seiner
Schülerin Elsbet Stäglin niedergeschrieben hat.
Auch er ist ein frommer Priester und lebt ganz in dem
christlichen Vorstellungskreis. Er lebt so darin, als ob
es ganz undenkbar wäre, daß man mit seiner
Geistesrichtung in einer anderen
Geisteswelt leben könnte. Aber auch von ihm
gilt, daß man doch mit seiner Geistesrichtung einen
anderen Vorstellungsinhalt verbinden kann. Es spricht
dafür deutlich, wie für ihn der Inhalt der
christlichen Lehre zum inneren Erlebnis, sein
Verhältnis zu Christus zu einem solchen zwischen
seinem Geiste und der ewigen Wahrheit in rein
ideellgeistiger Weise wird. Er hat ein
«Büchlein von der ewigen Weisheit»
verfaßt. In diesem läßt er die «ewige
Weisheit» zu ihrem «Diener», also wohl zu
ihm selbst, sprechen: «Erkennest du mich nicht? Wie
bist du sogar niedergesunken, oder ist dir von Herzenleid
die Besinnung geschwunden, mein zartes Kind? Ich bin es
doch, die barmherzige Weisheit, die da den Abgrund der
grundlosen Barmherzigkeit, welcher allen Heiligen dennoch
verborgen ist, weit aufgeschlossen hat, dich und alle
reuige Herzen gütlich zu empfangen; ich bin es, die
süße, ewige Weisheit, die da arm und elend
ward, daß ich dich zu deiner Würde
wiederbrächte; ich bin es, die den bittern Tod
erlitt, daß ich dich wieder lebendig machte! Ich
stehe hier bleich und blutig und minniglich, als ich
stand an dem hohen Galgen des Kreuzes, zwischen dem
strengen Gerichte meines Vaters und dir. Ich bin es, dein
Bruder; lug, ich bin es, dein Gemahl! Ich habe also gar
vergessen alles, das du je wider mich tatest, als ob es
nie geschehen wäre, so du dich nun gänzlich zu
mir kehrest und dich nicht mehr von mir scheidest.»
Alles Körperlich-Zeitliche in der christlichen
Weltvorstellung ist für Suso, wie man sieht, zu
einem geistig-idealischen Prozeß im Innern seiner
Seele geworden. - Aus einigen Kapiteln der erwähnten
Lebensbeschreibung Susos könnte es scheinen, als ob
er nicht durch die bloße Betätigung der eigenen
Geisteskraft, sondern durch äußerliche
Offenbarungen, durch geisthafte Visionen sich hätte
leiten lassen. Doch spricht er auch seine Meinung
darüber ganz klar aus. Zur Wahrheit gelangt man nur
durch Vernünftigkeit, nicht durch irgend welche
Offenbarung. «Den Unterschied zwischen lauterer
Wahrheit und zweifeligen Visionen in bekennender
Materie... will ich dir auch sagen. Ein mittelloses
Schauen der bloßen Gottheit, das ist rechte lautere
Wahrheit, ohne allen Zweifel; und eine jede Vision, je
vernünftiger und bildloser sie ist, und derselben
bloßen Schauung je gleicher, um so edler ist
sie.» - Auch der Meister Eckhart läßt
darüber keinen Zweifel, daß er die Anschauung
ablehnt, die in körperlich-räumlichen Gebilden,
in Erscheinungen, die man wie sinnliche wahrnehmen kann,
das Geistige schauen will. Geister von der Art Susos und
Eckharts sind somit Gegner einer Auffassung, wie sie sich
in dem im 19. Jahrhundert zur Entwicklung gekommenen
Spiritismus zum Ausdruck bringt.
Johannes Ruysbroek, der belgische
Mystiker, ging die gleichen Wege wie Suso. Sein geistiger
Weg fand einen lebhaften Angreifer in Johannes
Gerson (geb. 1363), der eine Zeitlang Kanzler der
Pariser Universität war und eine bedeutsame Rolle
beim Konstanzer Konzil spielte. Es wirft einiges Licht
auf das Wesen derjenigen Mystik, die in Tauler, Suso und
Ruysbroek ihre Pfleger fand, wenn man sie vergleicht mit
den mystischen Bestrebungen Gersons, der in Richard
v. St. Viktor, Bonaventura u. a. Vorgänger
hatte. - Ruysbroek selbst kämpfte gegen diejenigen,
die er zu den ketzerischen Mystikern zählte. Als
solche galten ihm alle die, welche durch ein
leichtfertiges Verstandesurteil alle Dinge für den
Ausfluß eines Urwesens halten, die also in der Welt
nur eine Mannigfaltigkeit sehen und in Gott die Einheit
dieser Mannigfaltigkeit. Zu ihnen rechnete sich Ruysbroek
nicht, denn er wußte, daß man nicht durch
Betrachtung der Dinge selbst zum Urwesen kommen
könne, sondern nur dadurch, daß man sich von
dieser niederen zu einer höheren Betrachtungsweise
erhebe. Ebenso wandte er sich gegen diejenigen, welche in
dem einzelnen Menschen, in seinem Sonderdasein (in seiner
Kreatürlichkeit), ohne weiteres auch seine
höhere Natur sehen wollten. Nicht wenig beklagte er
auch den Irrtum, der alle Unterschiede in der Sinnenwelt
verwischt, und leichten Sinnes sagt, nur dem Scheine nach
seien die Dinge verschieden, dem Wesen nach seien sie
alle gleich. Das wäre für eine Denkweise, wie
diejenige Ruysbroeks ist, gerade so, als wenn man sagte:
Daß die Bäume einer Allee für unser Sehen
in der Entfernung zusammenlaufen, ginge uns nichts an.
Sie seien in Wirklichkeit überall gleich weit
entfernt, deshalb müßten unsere Augen sich
gewöhnen, richtig zu sehen. Aber unsere Augen sehen
richtig. Daß die Bäume zusammenlaufen, beruht
auf einem notwendigen Naturgesetz; und wir haben nichts
gegen unser Sehen einzuwenden, sondern im Geiste
zu erkennen, warum wir so sehen. Auch der
Mystiker wendet sich nicht ab von den sinnlichen Dingen.
Als sinnliche nimmt er sie hin, wie sie sind. Und ihm ist
auch klar, daß sie durch kein Verstandesurteil
anders werden können. Aber er geht im Geiste
über Sinne und Verstand hinaus, und dann erst findet
er die Einheit. Sein Glaube ist ein
unerschütterlicher, daß er sich zum Schauen
dieser Einheit entwickeln kann. Deshalb schreibt er der
menschlichen Natur den göttlichen Funken zu, der in
ihm zum Leuchten, zum Selbstleuchten gebracht
werden kann. Anders Geister von der Art Gersons. Sie
glauben nicht an dieses Selbstleuchten. Für
sie bleibt das, was der Mensch schauen kann, immer ein
Äußeres, das von irgendeiner Seite auch
äußerlich an sie heran kommen muß.
Ruysbroek glaubte, daß die höchste Weisheit dem
mystischen Schauen aufleuchten müsse; Gerson glaubte
nur, daß die Seele einen äußeren
Lehrgehalt (den der Kirche) beleuchten könne.
Für Gerson war Mystik nichts anderes, als ein warmes
Gefühl haben für alles, was in diesem
Lehrgehalt geoffenbart ist. Für Ruysbroek war sie
ein Glaube, daß aller Lehrgehalt in der Seele auch
geboren wird. Deshalb tadelt Gerson an Ruysbroek,
daß dieser sich einbilde, er besitze nicht bloß
das Vermögen mit Klarheit das Allwesen zu schauen,
sondern in diesem Schauen drücke sich selbst eine
Tätigkeit des Allwesens aus. Ruysbroek konnte von
Gerson eben nicht verstanden werden. Beide sprachen von
zwei ganz verschiedenen Dingen. Ruysbroek hat das
Seelenleben im Auge, das sich in seinen Gott einlebt;
Gerson nur ein Seelenleben, das den Gott lieben will, den
es in sich selbst nimmer zu leben vermag. Wieso viele,
kämpfte auch Gerson gegen etwas, das ihm nur fremd
war, weil er es in der Erfahrung nicht fassen
konnte.[1]
1. In meinen Schriften wird man
verschiedener Art über «Mystik»
gesprochen finden. Man wird den scheinbaren
Widerspruch, den manche Persönlichkeiten darin
finden wollen, aufgeklärt finden in den
Anmerkungen zur Neuauflage meiner
»Erkenntnistheorie der Goetheschen
Weltanschauung», S. 139f.
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