Der Kardinal Nicolaus von Kues
Ein herrlich
leuchtendes Gestirn am Himmel mittelalterlichen
Geisteslebens ist Nicolaus Chrypffs aus Kues
(bei Trier 1401-1464). Er steht auf der Höhe des
Wissens seiner Zeit. In der Mathematik hat er
Hervorragendes geleistet. In der Naturwissenschaft darf
er als Vorläufer des Kopernikus bezeichnet werden,
denn er stellte sich auf den Standpunkt, daß die
Erde ein bewegter Himmelskörper ist gleich anderen.
Er hat schon gebrochen mit einer Anschauung, auf die sich
noch hundert Jahre später der große Astronom
Tycho de Brahe stützte, als er der Lehre des
Kopernikus den Satz entgegenschleuderte: «Die Erde
ist eine grobe, schwere und zur Bewegung ungeschickte
Masse; wie kann nun Kopernikus einen Stern daraus machen
und ihn in den Lüften herumführen?»
Nicolaus von Kues, der das Wissen seiner Zeit nicht nur
umfaßte, sondern auch weiterführte, hatte auch
in hohem Grade das Vermögen, dieses Wissen zum
inneren Leben zu erwecken, so daß es nicht nur
über die äußere Welt auf klärt,
sondern auch dem Menschen dasjenige geistige Leben
vermittelt, nach dem er sich, aus den tiefsten
Gründen seiner Seele heraus, sehnen muß.
Vergleicht man Nicolaus mit Geistern wie Eckhart oder
Tauler, so erhält man ein bedeutsames Ergebnis.
Nicolaus ist der wissenschaftliche Denker, der sich aus
der Forschung über die Dinge der Welt auf die Stufe
einer höheren Anschauung heben will; Eckhart und
Tauler sind die gläubigen Bekenner, die aus dem
Glaubensinhalt heraus das höhere Leben suchen.
Zuletzt kommt Nicolaus zu demselben inneren Leben wie der
Meister Eckhart; aber das des ersteren hat ein reiches
Wissen zum Inhalt. Die volle Bedeutung des Unterschiedes
wird klar, wenn man bedenkt, daß für
denjenigen, der sich in den verschiedenen Wissenschaften
umtut, die Gefahr nahe liegt, die Tragweite der
Erkenntnisart zu verkennen, die über die einzelnen
Wissensgebiete auf klärt. Ein solcher kann leicht zu
dem Glauben verführt werden, daß es nur eine
einzige Art der Erkenntnis gebe. Er wird dann diese
Erkenntnis, die in Dingen der einzelnen Wissenschaften
zum Ziele führt, entweder unter- oder
überschätzen. In dem einen Falle wird er auch
an die Gegenstände des höchsten Geisteslebens
so herantreten, wie an eine physikalische Aufgabe, und
sie mit Begriffen behandeln, mit denen er die Schwerkraft
oder Elektrizität behandelt. Die Welt wird ihm, je
nachdem et sich mehr oder weniger aufgeklärt glaubt,
eine blind wirkende Maschine, oder ein Organismus, oder
der zweckmäßige Bau eines persönlichen
Gottes; vielleicht auch ein Gebilde, das von irgendeiner
mehr oder weniger klar vorgestellten
«Weltseele» regiert und durchdrungen ist. In
dem anderen Falle merkt er, daß die Erkenntnis, von
der er allein eine Erfahrung hat, nur für die Dinge
der Sinnenwelt taugt; dann wird er ein Zweifler, der sich
sagt: Wir können über die Dinge nichts wissen,
die über die Sinneswelt hinausliegen. Unser Wissen
hat eine Grenze. Wir können uns für die
Bedürfnisse des höheren Lebens nur einem vom
Wissen unberührten Glauben in die Arme werfen.
Für einen gelehrten Theologen wie Nicolaus von Kues,
der zugleich Naturforscher war, lag die zweite Gefahr
besonders nahe. Er ging ja, seiner gelehrten Erziehung
nach, aus der Scholastik hervor, der Vorstellungsart,
welche innerhalb des wissenschaftlichen Lebens in der
Kirche des Mittelalters die herrschende war, und die
durch Thomas von Aquino (1225 bis 1274), dem
«Fürsten der Scholastiker», zu ihrer
höchsten Blüte gebracht worden war. Diese
Vorstellungsart muß man zum Hintergrunde machen,
wenn man die Persönlichkeit des Nicolaus von Kues
malen will.
Die Scholastik ist im höchsten Maße
ein Ergebnis des menschlichen Scharfsinnes. Die logische
Fähigkeit feierte in ihr die höchsten Triumphe.
Wer darnach strebt, Begriffe in den schärfsten,
reinlichsten Konturen auszuarbeiten, der sollte zu den
Scholastikern in die Lehre gehen. Sie bieten die hohe
Schule für die Technik des Denkens. Sie haben eine
unvergleichliche Gewandtheit, sich im Felde des reinen
Gedankens zu bewegen. Was sie auf diesem Felde zu leisten
imstande waren, das wird leicht unterschätzt. Denn
für die meisten Gebiete des Wissens ist es den
Menschen nur schwer zugänglich. Die meisten erheben
sich zu ihm nur deutlich auf dem Gebiete der Zähl-
und Rechenkunst, und beim Nachdenken über den
Zusammenhang geometrischer Gebilde. Wir können
zählen, indem wir im Gedanken eine Einheit zu einer
Zahl fügen, ohne daß wir uns sinnliche
Vorstellungen zu Hilfe rufen. Wir rechnen auch, ohne
solche Vorstellungen, nur im reinen Elemente des Denkens.
Für die geometrischen Gebilde wissen wir, daß
sie sich mit keiner sinnlichen Vorstellung vollkommen
decken. Es gibt in der Wirklichkeit der Sinne keinen
(ideellen) Kreis. Dennoch beschäftigt sich unser
Denken mit diesem. Für die Dinge und Vorgänge,
welche komplizierter sind als Zahlen- und Raumgebilde,
ist es schwieriger, die ideellen Gegenstücke zu
finden. Das hat dazu geführt, daß von manchen
Seiten behauptet wird, in den einzelnen
Erkenntnisgebieten sei nur so viel wirkliche
Wissenschaft, als sich darin messen und zählen
läßt. So ausgesprochen ist das unrichtig, wie
ein Einseitiges unrichtig ist; aber es besticht viele,
wie das eben oft nur Einseitigkeiten gelingt. Die
Wahrheit darüber ist, daß die meisten Menschen
nicht imstande sind, auch da noch das rein Gedankliche zu
ergreifen, wo es sich nicht mehr um Meß- oder
Zählbares handelt. Wer das aber nicht vermag
für höhere Lebens- und Wissensgebiete, der
gleicht in dieser Beziehung einem Kinde, das noch nicht
gelernt hat, anders zu zählen, als indem es Erbse zu
Erbse fügt. Der Denker, der gesagt hat, es sei so
viel wirkliche Wissenschaft in einem Wissensgebiete, als
darin Mathematik ist, hat die volle Wahrheit der Sache
nicht überschaut. Man muß verlangen: es sollte
alles andere, was sich nicht messen und zählen
läßt, gerade so ideell behandelt werden, wie
die Zahl- und Raumgebilde. Und diesem Verlangen trugen
die Scholastiker in vollkommenster Weise Rechnung. Sie
suchten überall den Gedankeninhalt der Dinge, wie
ihn der Mathematiker auf dem Gebiete des Meß- und
Zählbaren sucht.
Trotz dieser vollendeten logischen Kunst
brachten es die Scholastiker nur zu einem einseitigen und
untergeordneten Begriff vom Erkennen. Dieser ist der,
daß der Mensch beim Erkennen in sich ein Bild von
dem erzeugt, was er erkennen soll. Es ist ohne weiteres
einleuchtend, daß man bei einem solchen Begriffe vom
Erkennen alle Wirklichkeit außer das Erkennen
versetzen muß. Denn im Erkennen kann man dann kein
Ding selbst, sondern nur ein Bild dieses Dinges
ergreifen. Auch nicht sich selbst kann der Mensch in
seiner Selbsterkenntnis ergreifen, sondern auch, was er
von sich erkennt, ist nur ein Bild seines Selbst. Ganz
aus dem Geiste der Scholastik heraus sagt ein genauer
Kenner derselben (K. Werner in seinem Buche «Franz
Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte»,
2. Bd., S.122): «Der Mensch hat in der Zeit keine
Anschauung von seinem Ich, dem verborgenen Grunde seines
geistigen Wesens und Lebens; ... er wird ... nie dazu
kommen, sich selbst anzuschauen; denn entweder wird er,
auf immer Gott entfremdet, in sich nur einen bodenlosen
finsteren Abgrund, eine endlose Leere finden, oder er
wird, in Gott beseligt, den Blick nach innen wendend,
eben nur Gott finden, dessen Gnadensonne in ihm leuchtet,
dessen Bild in den geistigen Zügen seines
Wesens sich abgestaltet.» Wer so über alles
Erkennen denkt, der hat nur einen Begriff von
dem Erkennen, das auf äußere Dinge
anwendbar ist. Das Sinnliche an einem Ding bleibt uns
immer äußerlich. Deshalb können wir von
dem, was an der Welt sinnlich ist, nur Bilder in unsere
Erkenntnis aufnehmen. Wenn wir eine Farbe oder einen
Stein wahrnehmen, können wir nicht, um das Wesen der
Farbe oder des Steines zu erkennen, selbst zur Farbe oder
zum Stein werden. Ebensowenig können die Farbe oder
der Stein sich in einen Teil unseres eigenen Wesens
verwandeln! Es fragt sich aber, ob der Begriff einer
solchen auf das Äußere an den Dingen
gerichteten Erkenntnis ein erschöpfender ist? -
Für die Scholastik fällt allerdings im
wesentlichen alles menschliche Erkennen mit
diesem Erkennen zusammen. Ein anderer
vorzüglicher Kenner der Scholastik (Otto Willmann,
in seiner «Geschichte des Idealismus», 2. Bd.,
2. Aufl., S. 396) charakterisiert den für diese
Denkrichtung in Betracht kommenden Erkenntnisbegriff in
der folgenden Weise: «Unser Geist, im Erdenleben dem
Körper gesellt, ist in erster Linie eingestellt auf
die umgebende Körperwelt, aber hingeordnet auf das
Geistige in dieser: die Wesenheiten, Naturen, Formen der
Dinge, welche Daseinselemente ihm verwandt sind und ihm
die Sprossen zum Aufsteigen zum Übersinnlichen
darbieten; das Feld unserer Erkenntnis ist also das
Gebiet der Erfahrung, aber wir sollen, was sie bietet,
verstehen lernen, bis zu seinem Sinne und Gedanken
vordringen und uns damit die Gedankenwelt
erschließen.» Zu einem anderen Begriffe vom
Erkennen konnte der Scholastiker nicht gelangen. Daran
hinderte ihn der dogmatische Lehrgehalt seiner Theologie.
Hätte er den Blick seines geistigen Auges auf das
geheftet, was er als bloßes Bild ansieht, dann
hätte er gesehen, daß in diesem vermeintlichen
Bilde sich der geistige Inhalt der Dinge selbst
offenbart; dann hätte er gefunden, daß in
seinem Innern sich der Gott nicht bloß
abbildet, sondern daß er darin
lebt, wesenhaft gegenwärtig ist. Er
hätte bei dem Hineinblicken in sein Inneres nicht
einen finstern Abgrund, eine endlose Leere erblickt, aber
auch nicht bloß ein Bild Gottes; sondern er
hätte gefühlt, daß ein Leben in ihm
pulsiert, welches das göttliche Leben selbst ist;
und daß sein eigenes Leben eben Gottes Leben ist.
Das durfte der Scholastiker nicht zugeben. Der Gott
durfte, seiner Meinung nach, nicht in ihn einziehen und
aus ihm sprechen; er durfte nur als Bild in ihm sein. In
Wirklichkeit mußte die Gottheit außer dem
Selbst vorausgesetzt werden. Sie konnte sich also auch
nicht im Innern durch das geistige Leben, sondern sie
mußte sich von außen, durch
übernatürliche Mitteilungen
offenbaren. Was dabei angestrebt wird, ist
dadurch gerade am allerwenigsten erreicht. Es soll von
der Gottheit ein möglichst hoher Begriff erreicht
werden. In Wirklichkeit wird die Gottheit erniedrigt zu
einem Ding unter anderen Dingen; nur daß sich dem
Menschen diese anderen Dinge auf natürlichem Wege
offenbaren, durch Erfahrung; während die Gottheit
sich ihm übernatürlich offenbaren soll. Es wird
aber ein Unterschied zwischen der Erkenntnis des
Göttlichen und des Geschöpflichen dadurch
erreicht, daß beim Geschöpflichen das
äußere Ding in der Erfahrung gegeben ist,
daß man von ihm ein wissen hat. Bei dem
Göttlichen ist der Gegenstand nicht in der Erfahrung
gegeben; man kann ihn nur im Glauben erreichen.
Die höchsten Dinge sind also für den
Scholastiker keine Gegenstände des Wissens, sondern
lediglich des Glaubens. Es ist das Verhältnis des
Wissens zum Glauben allerdings, nach scholastischer
Auffassung, nicht so vorzustellen, daß in einem
gewissen Gebiete nur das Wissen, in einem andern
nur der Glaube herrschte. Denn die
«Erkenntnis des Seienden ist uns möglich, weil
es selbst aus einem schöpferischen Erkennen stammt;
die Dinge sind für den Geist, weil sie
aus dem Geiste sind; sie haben uns etwas zu
sagen, weil sie einen Sinn haben, den eine höhere
Intelligenz in sie gelegt hat». (O. Willmann,
«Geschichte des Idealismus», 2. Bd., S. 383.)
Weil Gott die Welt nach Gedanken geschaffen hat,
können wir, wenn wir die Gedanken der Welt erfassen,
auch die Spuren des Göttlichen in der Welt durch
wissenschaftliches Nachdenken erfassen. Was Gott, seinem
Wesen nach, ist, können wir aber nur durch die
Offenbarung erfassen, die er uns auf
übernatürliche Weise gegeben hat, und an die
wir glauben müssen. Was wir von den höchsten
Dingen zu halten haben, darüber entscheidet keine
menschliche Wissenschaft, sondern der Glaube; und
«zum Glauben gehört alles, was in den Schriften
des neuen und alten Bundes und in den göttlichen
Überlieferungen enthalten ist». (Joseph
Kleutgen, «Die Theologie der Vorzeit», 1. Bd.,
S. 39) - Es kann hier nicht eine Aufgabe sein, das
Verhältnis des Glaubensinhalts zum Wissensinhalt
ausführlich darzustellen und zu begründen. In
Wahrheit stammt aller Glaubensinhalt aus einer irgend
einmal gemachten inneren menschlichen Erfahrung. Er wird
dann, seinem äußerlichen Gehalte nach,
aufbewahrt, ohne das Bewußtsein, wie er erworben
ist. Es wird von ihm behauptet, er sei durch
übernatürliche Offenbarung in die Welt
gekommen. Der christliche Glaubensinhalt wurde von den
Scholastikern als Überlieferung einfach hingenommen.
Die Wissenschaft, das innere Erleben durfte sich
über ihn keine Rechte anmaßen. So wenig die
Wissenschaft einen Baum schaffen kann, so wenig durfte
die Scholastik einen Gottesbegriff schaffen; sie
mußte den geoffenbarten als fertig hinnehmen, wie
die Naturwissenschaft den Baum als fertig hinnimmt.
Daß das Geistige selbst im Innern aufleuchtet und
lebt, durfte der Scholastiker nimmermehr zugeben. Er
begrenzte daher die Rechtskraft der Wissenschaft da, wo
das Gebiet der äußeren Erfahrung aufhört.
Die menschliche Erkenntnis durfte keinen Begriff der
höheren Wesenheiten aus sich heraus erzeugen. Sie
wollte einen geoffenbarten hinnehmen. Daß sie damit
doch nur einen in Wahrheit auf einer früheren Stufe
des menschlichen Geisteslebens erzeugten annahm und ihn
als geoffenbart erklärte, das konnten die
Scholastiker nicht zugeben. - Es waren daher aus der
Scholastik im Laufe ihrer Entwicklung alle Ideen
geschwunden, welche noch auf die Art und Weise
hindeuteten, wie der Mensch auf natürlichem Wege die
Begriffe des Göttlichen erzeugt hat. In den ersten
Jahrhunderten der Entwicklung des Christentums, zur Zeit
der Kirchenväter, sehen wir den Lehrinhalt der
Theologie Stück für Stück durch Aufnahme
innerer Erlebnisse entstehen. Bei Johannes Scotus
Erigena, der im neunten Jahrhunderte auf der
Höhe der christlichen theologischen Bildung stand,
finden wir diesen Lehrinhalt noch ganz wie ein inneres
Erlebnis behandelt. Bei den Scholastikern der folgenden
Jahrhunderte verliert sich vollkommen dieser Charakter
eines inneren Erlebnisses; der alte Lehrgehalt wird zum
Inhalte einer äußeren,
übernatürlichen Offenbarung umgedeutet. - Man
kann deshalb die Tätigkeit der mystischen Theologen
Eckhart, Tauler, Suso und ihrer Genossen auch so
auffassen, daß man sagt: sie wurden durch den
Lehrgehalt der Kirche, der in der Theologie enthalten,
aber umgedeutet war, angeregt, einen ähnlichen
Gehalt als inneres Erlebnis aus sich selbst wieder aufs
neue zu gebären.
*
Nicolaus von Kues begibt sich auf den
Weg, von dem Wissen, das man in den einzelnen
Wissenschaften erwirbt, selbst zu den inneren Erlebnissen
aufzusteigen. Es ist kein Zweifel, daß die
vorzügliche logische Technik, welche die
Scholastiker ausgebildet haben, und für die Nicolaus
erzogen war, ein treffliches Mittel bietet, zu inneren
Erlebnissen zu kommen, wenn die Scholastiker selbst auch
durch den positiven Glauben von diesem Wege
zurückgehalten wurden. Vollkommen verstehen wird man
Nicolaus aber nur, wenn man bedenkt, daß sein Beruf
als Priester, der ihn bis zur Kardinalswürde
emporhob, ihn zu einem völligen Bruch mit dem
Kirchenglauben, der in der scholastischen Theologie
seinen zeitgemäßen Ausdruck fand, nicht kommen
ließ. Wir finden ihn auf einem Wege so weit,
daß ihn jeder Schritt weiter auch aus der Kirche
hätte hinausführen müssen. Wir verstehen
den Kardinal deshalb am besten, wenn wir den Schritt, den
er nicht mehr gemacht hat, auch noch vollziehen; und
dann, rückwärts, das beleuchten, was er gewollt
hat.
Der bedeutsamste Begriff des Geisteslebens
Nicolaus' ist derjenige der «gelehrten
Unwissenheit». Er versteht darunter ein Erkennen,
das gegenüber dem gewöhnlichen Wissen eine
höhere Stufe darstellt. Wissen im untergeordneten
Sinne ist Erfassen eines Gegenstandes durch den Geist.
Das wichtigste Kennzeichen des Wissens ist, daß es
Aufklärung gibt über etwas außer dem
Geiste, daß es also auf etwas blickt, was es nicht
selbst ist. Der Geist beschäftigt sich also im
Wissen mit außerhalb seiner gedachten Dingen. Nun
ist aber dasjenige, was der Geist in sich über die
Dinge ausbildet, das Wesen der Dinge. Die Dinge
sind Geist. Der Mensch sieht zunächst den Geist nur
durch die sinnliche Hülle. Was außerhalb des
Geistes bleibt, ist nur diese sinnliche Hülle; das
Wesen der Dinge geht in den Geist ein. Blickt dann der
Geist auf dieses Wesen, das Stoff von seinem Stoffe ist,
dann kann er gar nicht mehr von Wissen reden, denn er
blickt nicht auf ein Ding, das außerhalb seiner ist;
er blickt auf ein Ding, das ein Teil von ihm ist; er
blickt auf sich selbst. Er weiß nicht mehr; er
schaut nur auf sich. Er hat es nicht mit einem
«Wissen», sondern mit einem
«Nicht-Wissen» zu tun. Er
begreift nicht mehr etwas durch den Geist; er
«schaut, ohne Begreifen» sein eigenes Leben an.
Diese höchste Stufe des Erkennens ist im
Verhältnis zu den niedrigen Stufen
«Nicht-Wissen». - Es ist aber einleuchtend,
daß das Wesen der Dinge nur durch diese
Stufe der Erkenntnis vermittelt werden kann. Nicolaus von
Kues spricht also mit seinem «gelehrten
Nichtwissen» von nichts anderem als von dem als
inneres Erlebnis wiedergeborenen Wissen. Er erzählt
selbst, wie er zu diesem inneren Erlebnis gekommen ist.
«Ich machte viele Versuche, die Gedanken über
Gott und Welt, Christus und Kirche in einer Grundidee zu
vereinigen, aber keiner von allen befriedigte mich, bis
sich endlich bei der Rückkehr aus Griechenland zur
See wie durch eine Erleuchtung von oben der Blick meines
Geistes zu der Anschauung erhob, in welcher mir Gott als
die höchste Einheit aller Gegensätze
erschien.» Mehr oder weniger sind an dieser
Erleuchtung die Einflüsse beteiligt, die von dem
Studium seiner Vorgänger herrührten. Man
erkennt in seiner Vorstellungsart eine eigenartige
Erneuerung der Anschauungen, die uns in den Schriften
eines gewissen Dionysius begegnen. Der schon genannte
Scotus Erigena hat diese Schriften ins Lateinische
übersetzt. Er nennt den Verfasser «den
großen und göttlichen Offenbarer». Die in
Rede stehenden Schriften werden zuerst in der ersten
Hälfte des sechsten Jahrhunderts erwähnt. Man
schrieb sie dem in der Apostelgeschichte erwähnten
Areopagiten Dionysius zu, der von Paulus zum Christentum
bekehrt worden ist. Wann diese Schriften wirklich
abgefaßt worden sind, möge hier dahingestellt
bleiben. Ihr Inhalt wirkte stark auf Nicolaus, wie er
schon auf Johannes Scotus Erigena gewirkt hatte, und wie
er auch vielfach anregend für die Denkart Eckharts
und seiner Genossen gewesen sein muß. Das
«gelehrte Nichtwissen» ist in einer gewissen
Art in diesen Schriften vorgebildet. Es sei hier nur der
Grundzug in der Vorstellungsart dieser Schriften
aufgezeichnet. Der Mensch erkennt zunächst die Dinge
der Sinneswelt. Er macht sich Gedanken über ihr Sein
und Wirken. Der Urgrund aller Dinge muß höher
liegen als diese Dinge selbst. Der Mensch kann daher
diesen Urgrund nicht mit denselben Begriffen und Ideen
erfassen wollen wie die Dinge. Sagt er daher von dem
Urgrund (Gott) Eigenschaften aus, welche er an den
niederen Dingen kennengelernt hat, so können solche
Eigenschaften bloße Hilfsvorstellungen des schwachen
Geistes sein, der den Urgrund zu sich herabsieht, um ihn
vorstellen zu können. In Wahrheit wird daher nicht
irgendeine Eigenschaft, welche niedere Dinge haben, von
Gott behauptet werden dürfen. Es wird nicht einmal
gesagt werden dürfen, daß Gott ist.
Denn auch das «Sein» ist eine Vorstellung, die
sich der Mensch an den niederen Dingen gebildet hat. Gott
aber ist erhaben über «Sein» und
«Nicht-Sein». Der Gott, dem wir Eigenschaften
beilegen, ist also nicht der wahre. Wir kommen zu dem
wahren Gotte, wenn wir über einen Gott mit solchen
Eigenschaften einen «Übergott» denken. Von
diesem «Überzogt» können wir nichts
im gewöhnlichen Sinne wissen. Um zu ihm zu gelangen,
muß das «Wissen» in das
«Nicht-Wissen» einmünden. - Man sieht,
einer solchen Anschauung liegt das Bewußtsein
zugrunde, daß der Mensch aus dem heraus, was ihm
seine Wissenschaften geliefert haben, selbst - auf rein
natürlichem Wege - ein höheres Erkennen
entwickeln kann, das nicht mehr bloßes
Wissen ist. Die scholastische Anschauung
erklärte das Wissen ohnmächtig zu einer solchen
Entwicklung und ließ an dem Punkte, wo das Wissen
aufhören soll, den auf äußerliche
Offenbarung sich stützenden Glauben dem Wissen zu
Hilfe kommen. - Nicolaus von Kues war also auf dem Wege,
das aus dem Wissen heraus wieder zu entwickeln,
wovon die Scholastiker erklärt hatten, daß es
für das Erkennen unerreichbar sei.
Vom Gesichtspunkte des Nicolaus von Kues aus
kann man somit nicht davon sprechen, daß es nur
eine Art des Erkennens gebe. Es legt sich das
Erkennen vielmehr deutlich auseinander in ein solches,
welches ein Wissen von äußeren Dingen
vermittelt, und in ein solches, welches der Gegenstand,
von dem man eine Erkenntnis erwirbt, selbst ist. Das
erstere Erkennen herrscht in den Wissenschaften, die wir
uns über die Dinge und Vorgänge der Sinneswelt
erwerben; das zweite ist in uns, wenn wir in dem
Erworbenen selbst leben. Die zweite Art des
Erkennens entwickelt sich aus der ersten. Nun ist es aber
doch dieselbe Welt, auf die sich beide Arten des
Erkennens beziehen; und es ist derselbe Mensch, welcher
sich in beiden betätigt. Die Frage muß
entstehen, woher kommt es, daß ein und derselbe
Mensch von ein und derselben Welt zweierlei Arten der
Erkenntnis entwickelt? - Auf die Richtung, in welcher die
Antwort auf diese Frage zu suchen ist, konnte bereits bei
Tauler (vgl. S. 25) gedeutet werden. Hier bei Nicolaus
von Kues läßt sich diese Antwort noch
entschiedener formen. Der Mensch lebt zunächst als
einzelnes (individuelles) Wesen unter anderen einzelnen
Wesen. Zu den Wirkungen, welche die anderen Wesen
aufeinander ausüben, kommt bei ihm noch das
(niedere) Erkennen. Er erhält durch seine Sinne
Eindrücke von den anderen Wesen und verarbeitet
diese Eindrücke mit seinen geistigen Kräften.
Er lenkt den geistigen Blick von den äußeren
Dingen ab und sieht sich selbst, seine eigene
Tätigkeit an. Daraus geht ihm die Selbsterkenntnis
hervor. Solange er auf dieser Stufe der Selbsterkenntnis
bleibt, schaut er sich noch nicht, im wahren Sinn des
Wortes, selbst an. Er kann noch immer glauben, in ihm sei
irgendeine verborgene Wesenheit tätig, deren
Äußerungen, Wirkungen das nur seien, was ihm
als seine Tätigkeit erscheint. Nun kann aber der
Punkt kommen, wo dem Menschen durch eine unwiderlegliche
innere Erfahrung klar wird, daß er in dem, was er in
seinem Inneren wahrnimmt, erlebt, nicht die
Äußerung, die Wirkung einer verborgenen Kraft
oder Wesenheit, sondern diese Wesenheit selbst in ihrer
ureigensten Gestalt hat. Er darf sich dann sagen, alle
anderen Dinge finde ich in einer gewissen Weise fertig
vor; und ich, der ich außer ihnen stehe, füge
zu ihnen hinzu, was der Geist über sie zu sagen hat.
Was ich so aber selbst zu den Dingen in mir hinzu
schaffe, darin lebe ich selbst, das bin ich; das ist mein
eigenes Wesen. Was aber spricht da auf dem Grunde meines
Geistes? Es spricht das Wissen, das ich mir über die
Dinge der Welt erworben habe. Aber in diesem Wissen
spricht nicht mehr irgendeine Wirkung, eine
Äußerung; es spricht etwas, was nichts
zurückbehält von dem, was es in sich hat. Es
spricht in diesem Wissen die Welt in aller ihrer
Unmittelbarkeit. Dieses Wissen habe ich aber von den
Dingen und von mir selbst, als einem Dinge unter Dingen,
erworben. Aus meinem eigenen Wesen spreche ich selbst,
und es sprechen die Dinge. Ich spreche also, in Wahrheit,
gar nicht mehr bloß mein Wesen aus; ich spreche das
Wesen der Dinge aus. Mein «Ich» ist die Form,
das Organ, in dem sich die Dinge über sich selbst
aussprechen. Ich habe die Erfahrung gewonnen, daß
ich in mir meine eigene Wesenheit erlebe; und diese
Erfahrung erweitert sich mir zu der anderen, daß
sich in mir und durch mich die All-Wesenheit selbst
ausspricht, oder, mit anderen Worten, erkennt. Ich kann
mich nun nicht mehr als ein Ding unter Dingen
fühlen; ich kann mich nur mehr als eine Form
fühlen, in der das All -Wesen sich auslebt. - Es ist
daher nur natürlich, daß ein und derselbe
Mensch zwei Arten von Erkenntnis hat. Er ist, den
sinnlichen Tatsachen nach, ein Ding unter Dingen, und,
insofern er ein solches ist, erwirbt er sich ein Wissen
von diesen Dingen; er kann aber in jedem Augenblicke die
höhere Erfahrung machen, daß er die Form ist,
in der sich das All-Wesen anschaut. Dann verwandelt er
sich selbst, von einem Ding unter Dingen, zu einer Form
des All-Wesens - und mit ihm verwandelt sich das Wissen
von den Dingen zum Aussprechen des Wesens der Dinge.
Diese Verwandlung kann aber tatsächlich nur durch
den Menschen selbst vollzogen werden. Das, was in der
höheren Erkenntnis vermittelt wird, ist noch nicht
da, solange diese höhere Erkenntnis selbst noch
nicht da ist. Erst im Schaffen dieser höheren
Erkenntnis wird der Mensch wesenhaft; und erst durch des
Menschen höhere Erkenntnis bringen auch die Dinge
ihr Wesen zum tatsächlichen Dasein. Wenn also
verlangt würde, der Mensch solle durch seine
höhere Erkenntnis nichts zu den Sinnendingen
hinzufügen, sondern nur aussprechen, was in diesen
Dingen draußen schon liegt, so hieße das nichts
anderes, als auf alle höhere Erkenntnis verzichten.
- Aus der Tatsache, daß der Mensch, seinem
sinnlichen Leben nach, ein Ding unter Dingen ist, und
daß er zur höheren Erkenntnis nur gelangt, wenn
er mit sich als Sinneswesen die Verwandlung zum
höheren Wesen selbst vollzieht, folgt, daß er
niemals die eine Erkenntnis durch die andere ersetzen
kann. Sein geistiges Leben besteht vielmehr in einem
fortwährenden Hin- und Herbewegen zwischen beiden
Polen der Erkenntnis, zwischen dem Wissen und
dem Schauen. Schließt er sich von dem
Schauen ab, so verzichtet er auf das Wesen der Dinge;
wollte er sich von dem sinnlichen Erkennen
abschließen, so entzöge er sich die Dinge,
deren Wesen er erkennen will. - Es sind dieselben Dinge,
die sich dem niederen Erkennen und dem höheren
Schauen offenbaren; nur das eine Mal ihrer
äußeren Erscheinung nach; das andere Mal ihrer
inneren Wesenheit nach. - Es liegt also nicht an den
Dingen, daß sie auf einer gewissen Stufe, nur als
äußere Dinge erscheinen; sondern es liegt
daran, daß der Mensch sich zu der Stufe erst hinauf
verwandeln muß, auf der die Dinge aufhören,
äußere zu sein.
Von diesen Betrachtungen aus erscheinen gewisse
Anschauungen, welche die Naturwissenschaft im neunzehnten
Jahrhundert ausgebildet hat, erst im rechten Lichte. Die
Träger dieser Anschauungen sagen sich: Wir
hören, sehen und tasten die Dinge der
körperlichen Welt durch die Sinne. Das Auge z. B.
vermittelt uns eine Lichterscheinung, eine Farbe. Wir
sagen, ein Körper sende rotes Licht aus, wenn wir
mit Hilfe unseres Auges die Empfindung «rot»
haben. Aber das Auge bringt uns eine solche Empfindung
auch in anderen Fällen. Wenn es gestoßen oder
gedrückt wird, wenn ein elektrischer Funke durch den
Kopf strömt, so hat das Auge eine Lichtempfindung.
Es kann somit auch in den Fällen, in denen wir einen
Körper in einer bestimmten Farbe leuchtend
empfinden, in dem Körper etwas vorgehen, was gar
keine Ähnlichkeit mit der Farbe hat. Was auch immer
draußen im Raume vorgeht: wenn dieser Vorgang nur
geeignet ist, auf das Auge einen Eindruck zu machen, so
entsteht in mir eine Lichtempfindung. Was wir also
empfinden, entsteht in uns, weil wir so oder so
beschaffene Organe haben. Was draußen im Raume
vorgeht, das bleibt außer uns ; wir kennen nur die
Wirkungen, welche die äußeren Vorgänge in
uns hervorbringen. Hermann Helmholtz (1821-1894)
hat diesem Gedanken einen klar umrissenen Ausdruck
gegeben. «Unsere Empfindungen sind eben Wirkungen,
welche durch äußere Ursachen in unseren Organen
hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich
äußert, hängt natürlich ganz
wesentlich von der Art des Apparats ab, auf den gewirkt
wird. Insofern die Qualität unserer Empfindung uns
von der Eigentümlichkeit der äußeren
Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht
gibt, kann sie als ein Zeichen derselben gelten,
aber nicht als ein Abbild. Denn vom Bilde
verlangt man irgendeine Art der Gleichheit mit dem
abgebildeten Gegenstände, von einer Statue
Gleichheit der Form, von einer Zeichnung Gleichheit der
perspektivischen Projektion im Gesichtsfelde, von einem
Gemälde auch noch Gleichheit der Farben. Ein Zeichen
aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem
zu haben, dessen Zeichen es ist. Die Beziehung zwischen
beiden beschränkt sich darauf, daß das gleiche
Objekt, unter gleichen Umständen zur Einwirkung
kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß
also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung
entsprechen ... Wenn Beeren einer gewissen Art beim
Reifen zugleich rotes Pigment und Zucker ausbilden, so
werden in unserer Empfindung bei Beeren dieser Form rote
Farbe und süßer Geschmack sich immer
zusammenfinden.» Vgl. Helmholtz, «Die Tatsachen
in der Wahrnehmung», S.12 f.) Ich habe diese
Vorstellungsart ausführlich charakterisiert in
meiner «Philosophie der Freiheit» und in meinen
«Rätseln der Philosophie». - Man gehe dem
Gedankengange, den diese Anschauung zu dem ihrigen macht,
nur einmal Schritt vor Schritt nach. Draußen im
Raume wird ein Vorgang vorausgesetzt. Der übt eine
Wirkung auf mein Sinnesorgan; mein Nervensystem leitet
den gewordenen Eindruck zu meinem Gehirn. Da wird wieder
ein Vorgang bewirkt. Ich empfinde nunmehr
«rot». Nun wird gesagt: also ist die Empfindung
des «Rot» nicht draußen; sie ist in mir.
Alle unsere Empfindungen sind nur Zeichen von
äußeren Vorgängen, über deren
wirkliche Qualität wir nichts wissen. Wir leben und
weben in unseren Empfindungen, und wissen nichts von
deren Ursprung. Man kann im Sinne dieser Denkweise auch
sagen: Hätten wir kein Auge, so wäre keine
Farbe; nichts würde dann den uns unbekannten
äußeren Vorgang in die Empfindung
«rot» umsetzen. Dieser Gedankengang hat
für viele etwas Bestrickendes. Er beruht aber doch
nur auf einer völligen Verkennung der Tatsachen,
über die man sich dabei Gedanken macht. (Wären
viele Naturforscher und Philosophen der Gegenwart nicht
bis zur Ungeheuerlichkeit durch diesen Gedankengang
verblendet, so brauchte man weniger über ihn zu
reden. Aber diese Verblendung hat in der Tat das Denken
der Gegenwart in vieler Beziehung verdorben.) Da der
Mensch ein Ding unter Dingen ist, so müssen die
Dinge natürlich auf ihn einen Eindruck machen, wenn
er von ihnen etwas erfahren soll. Ein Vorgang außer
dem Menschen muß einen Vorgang im Menschen erregen,
wenn im Blickfeld die Erscheinung «rot»
auftreten soll. Es fragt sich nur, was ist draußen,
was ist drinnen? Draußen ist ein in Raum und Zeit
ablaufender Vorgang. Drinnen ist aber zweifellos ein
ähnlicher Vorgang. Ein solcher ist im Auge und setzt
sich ins Gehirn fort, wenn ich «rot» wahrnehme.
Der Vorgang, der «drinnen» ist, den kann ich
nicht, ohne weiteres, wahrnehmen; ebensowenig, wie ich
die Wellenbewegung «draußen» unmittelbar
wahrnehmen kann, welche die Physiker der Farbe
«rot» entsprechend denken. Aber nur in diesem
Sinne kann ich von einem «draußen» und
«drinnen» sprechen. Nur auf der Stufe des
sinnlichen Erkennens hat der Gegensatz von
«draußen» und «drinnen» Geltung.
Es führt mich dieses Erkennen dazu,
«draußen» einen räumlich-zeitlichen
Vorgang anzunehmen, wenn ich diesen auch nicht
unmittelbar wahrnehme. Und weiter führt
mich das gleiche Erkennen dazu, in mir einen solchen
Vorgang anzunehmen, wenn ich auch diesen nicht
unmittelbar wahrnehmen kann. Aber ich nehme ja auch im
gewöhnlichen Leben räumlich-zeitliche
Vorgänge an, die ich nicht unmittelbar wahrnehme.
Ich höre z.B. in meinem Nebenzimmer Klavier spielen.
Ich nehme deshalb an, daß ein räumliches
Menschenwesen am Klavier sitzt und spielt. Und nicht
anders ist mein Vorstellen, wenn ich von Vorgängen
in mir und außer mir spreche. Ich setze voraus,
daß diese Vorgänge analoge Eigenschaften haben,
wie die Vorgänge, die in den Bereich meiner Sinne
fallen, nur daß sie, wegen gewisser Ursachen, sich
meiner unmittelbaren Wahrnehmung entziehen. Wollte ich
diesen Vorgängen alle Eigenschaften absprechen, die
mir meine Sinne im Bereich des Räumlichen und
Zeitlichen zeigen, so dächte ich in Wahrheit so
etwas wie das berühmte Messer ohne Griff, dem die
Klinge fehlt. Ich kann also nur sagen,
«draußen» spielen sich
räumlich-zeitliche Vorgänge ab; sie bewirken
«drinnen» räumlich-zeitliche
Vorgänge. Beide sind notwendig, wenn in meinem
Blickfeld «Rot» erscheinen soll. Dieses Rot,
insofern es nicht räumlich-zeitlich ist, werde ich
vergeblich suchen, gleichgültig, ob ich
«draußen» oder «drinnen» suche.
Die Naturforscher und Philosophen, die es
«draußen» nicht finden können,
sollten es auch nicht «drinnen» suchen wollen.
Es ist in demselben Sinne nicht «drinnen», in
dem es nicht «draußen» ist. Den gesamten
Inhalt dessen, was uns die Sinnenwelt darbietet, für
eine innere Empfindungswelt erklären, und zu ihr
etwas «Äußeres» suchen, ist eine
unmögliche Vorstellung. Wir dürfen also nicht
davon sprechen, daß «rot»,
«süß», «heiß» usw.
Zeichen seien, die als solche nur in uns erregt
werden und denen «außen» etwas ganz:
anderes entspricht. Denn, was wirklich in uns als Wirkung
eines äußeren Vorganges erregt wird, das ist
etwas ganz anderes als was in unserem Empfindungsfeld
auftritt. Will man das, was in uns ist, Zeichen
nennen, so kann man sagen: Diese Zeichen treten innerhalb
unseres Organismus auf, um uns die Wahrnehmungen zu
vermitteln, die als solche, in ihrer Unmittelbarkeit,
weder innerhalb noch außerhalb unser sind, sondern
die vielmehr zu der gemeinschaftlichen Welt gehören,
von der meine «Außenwelt» und meine
«Innenwelt» nur Teile sind. Um diese
gemeinschaftliche Welt erfassen zu können, muß
ich mich allerdings zu der höheren Stufe des
Erkennens erheben, für die es ein «Innen»
und «Außen» nicht mehr gibt. (Ich
weiß ganz gut, daß Leute, welche auf das
Evangelium pochen, daß «unsere ganze
Erfahrungswelt» sich aus Empfindungen von
unbekanntem Ursprunge aufbaut, hochmütig auf diese
Ausführungen herabsehen werden, wie etwa Herr Dr.
Erich Adikes in seiner Schrift: «Kant contra
Haeckel» von oben herab sagt: «Vorerst
philosophieren Leute wie Haeckel und Tausende seines
Schlages noch munter darauf los, ohne sich um
Erkenntnistheorie und kritische Selbstbesinnung zu
bekümmern.» Solche Herren ahnen eben gar nicht,
wie billig ihre Erkenntnistheorien sind. Sie
vermuten den Mangel an kritischer Selbstbesinnung nur -
bei andern. Es sei ihnen ihre «Weisheit»
gegönnt.)
Nicolaus von Kues hat gerade über den hier
in Betracht kommenden Punkt treffende Gedanken. Sein
klares Auseinanderhalten von niederem und höherem
Erkennen läßt ihn auf der einen Seite zur
vollen Einsicht in die Tatsache kommen, daß der
Mensch als Sinneswesen in sich nur Vorgänge
haben kann, welche als Wirkungen den entsprechenden
äußeren Vorgängen unähnlich
sein müssen; es bewahrt ihn aber andererseits vor
der Verwechslung der inneren Vorgänge mit den
Tatsachen, die in unserem Wahrnehmungsfelde auftauchen,
und die, in ihrer Unmittelbarkeit, weder draußen,
noch drinnen sind, sondern die über diesen Gegensatz
erhaben sind. - An der rückhaltslosen Verfolgung des
Weges, den ihm diese Einsicht gewiesen hat, wurde
Nicolaus «durch das Priestergewand gehemmt». So
sehen wir denn, wir er mit dem Vorschreiten vom
«Wissen» zum «Nichtwissen» einen
schönen Anfang macht. Zugleich aber auch müssen
wir bemerken, daß er auf dem Felde des
«Nicht-Wissens» doch nichts anderes zeigt als
den theologischen Lehrgehalt, den uns auch die
Scholastiker darbieten. Allerdings weiß er diesen
theologischen Inhalt in geistvoller Form zu entwickeln.
Über Vorsehung, Christus, Weltschöpfung,
Erlösung des Menschen, über das sittliche Leben
stellt er Lehren dar, die durchaus im Sinne des
dogmatischen Christentums gehalten sind. Seinem geistigen
Ausgange hätte es entsprochen, zu sagen: Ich habe
das Vertrauen in die Menschennatur, daß diese,
nachdem sie sich in die Wissenschaften über die
Dinge nach allen Seiten vertieft hat, aus sich selbst
heraus dieses «Wissen» in ein
«Nichtwissen» zu verwandeln vermag, daß
also die höchste Erkenntnis Befriedigung bringt.
Nicht die überlieferten Ideen von Seele,
Unsterblichkeit, Erlösung, Gott, Schöpfung,
Dreieinigkeit usw. hätte er dann angenommen, wie er
es getan hat, sondern die selbstgefundenen hätte er
vertreten. - Nicolaus war aber persönlich mit den
Vorstellungen des Christentums so durchsetzt, daß er
wohl glauben konnte, er erwecke ein eigenes
«Nichtwissen»in sich, während er doch nur
die überlieferten Anschauungen zum Vorschein
brachte, in denen er erzogen war. - Er stand aber auch an
einem verhängnisvollen Abgrund im menschlichen
Geistesleben. Er war wissenschaftlicher Mensch.
Die Wissenschaft entfernt den Menschen ja zunächst
von der unschuldigen Eintracht, in der er mit der Welt
steht, solange er sich einer rein naiven Lebenshaltung
hingibt. Bei einer solchen Lebenshaltung fühlt der
Mensch dumpf seinen Zusammenhang mit dem Weltganzen. Er
ist ein Wesen wie die anderen, eingegliedert in den Strom
der Naturwirkungen. Mit dem Wissen trennt er sich von
diesem Ganzen ab. Er erschafft in sich eine geistige
Welt. Mit dieser steht er einsam der Natur
gegenüber. Er ist reicher geworden; aber der
Reichtum ist eine Last, die er schwer trägt. Denn
sie lastet zunächst auf ihm allein. Er muß, aus
eigener Kraft, den Weg zurückfinden zur Natur. Er
muß erkennen, daß er selbst seinen Reichtum
nunmehr eingliedern muß in den Strom der
Weltwirkungen, wie früher die Natur selbst seine
Armut eingegliedert hat. Hier lauern alle schlimmen
Dämonen auf den Menschen. Seine Kraft kann leicht
erlahmen. Statt die Eingliederung selbst zu vollziehen,
wird er bei solchem Erlahmen seine Zuflucht zu einer von
außen kommenden Offenbarung nehmen, die ihn aus
seiner Einsamkeit wieder erlöst, die das Wissen, das
er als Last empfindet, wieder zurückführt in
den Urschoß des Daseins, in die Gottheit. Er wird,
wie Nicolaus von Kues, glauben, seinen eigenen Weg zu
gehen; und er wird doch in Wirklichkeit nur den finden,
den ihm seine geistige Entwicklung gezeigt hat. Es gibt
nun drei Wege - im wesentlichen -, die man gehen kann,
wenn man da ankommt, wo Nicolaus angekommen war: Der eine
ist der positive Glaube, der von außen auf
uns eindringt; der zweite ist die Verzweiflung;
man steht einsam mit seiner Last und fühlt das ganze
Dasein mit sich wanken; der dritte Weg ist die
Entwicklung der tiefsten, eigenen Kräfte des
Menschen. Vertrauen in die Welt muß der
eine Führer auf diesem dritten Wege sein.
Mut, diesem Vertrauen zu folgen, gleichviel,
wohin es führt, muß der andere sein.[1]
1. Hier ist andeutungsweise in wenigen
Worten auf den Weg zur Geist-Erkenntnis gewiesen, den
ich in meinen späteren Schriften, besonders in
»Wie erlang man Erkenntnisse der höheren
Welten?», «Die Geheimwissenschaft im
Umriß», «Von Seelenrätseln»
gekennzeichnet habe.
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