Jesus
und Sein Geschichtlicher Hintergrund
In der
Mysterienweisheit ist der Boden zu suchen, aus dem der Geist des Christentums
hervorgewachsen ist. Es bedurfte nur des Überhandnehmens der Grundüberzeugung,
daß dieser Geist in höherem Maße ins Leben eingeführt werden
müsse, als dies durch das Mysterienwesen selbst geschehen war. Aber
auch eine solche Grundüberzeugung fand sich in weiten Kreisen vor. Man
braucht bloß auf die Lebenshaltung der Essäer und Therapeuten zu sehen,
die vor der Entstehung des Christentums lange vorhanden waren. Die Essäer
waren eine in sich abgeschlossene palästinensische Sekte, deren Zahl
zur Zeit Christi auf viertausend geschätzt wird. Sie bildeten eine Gemeinde,
die es als Anforderung an ihre Mitglieder stellte, ein Leben zu führen,
das innerhalb der Seele ein höheres Selbst entwickelt und damit eine
Wiedergeburt bewirkt. Der Aufzunehmende wurde einer strengen Prüfung
unterworfen, ob er auch reif sei, sich für ein höheres Leben vorzubereiten.
Wer aufgenommen war, mußte eine Probezeit durchmachen. Ein feierliches
Gelübde mußte abgelegt werden, an die Fremden die Geheimnisse der Lebensführung
nicht zu verraten. Das Leben selbst war geeignet, die niedere Natur
im Menschen zu erdrücken, damit der in ihm schlummernde Geist immer
mehr geweckt werde. Wer den Geist bis zu einer bestimmten Stufe in sich
erlebt hatte, der stieg zu einem höheren Ordensgrad auf; und er genoß
eine dementsprechende, nicht äußerlich auferzwungene, sondern in den
Grundüberzeugungen naturgemäß bedingte Autorität. Verwandt mit den Essäern
waren die in Ägypten wohnenden Therapeuten. Über ihre Lebensführung
erlangt man allen wünschenswerten Aufschluß durch eine Schrift des Philosophen
Philo «Über das beschauliche Leben». (Der Streit
darüber, ob diese Schrift echt oder unecht sei, muß heute als geschlichtet
betrachtet und die Annahme als berechtigt angesehen werden, daß Philo
wirklich das Leben einer lange vor dem Christentum bestehenden, ihm
wohl bekannten Gemeinschaft beschrieben hat. Vergleiche darüber G. R.
Mead, Fragmente eines verschollenen Glaubens, Leipzig 1902.) Man braucht
sich nur einzelne Stellen aus dieser Schrift vorzuhalten, um zu sehen,
auf was es ankam. «Die Wohnungen der Gemeindemitglieder sind äußerst
einfach, sie gewähren nur den notwendigen Schutz gegen äußerste Sonnenhitze
und äußerste Kälte. Die Wohnungen liegen nicht dicht beieinander wie
in den Städten, denn Nachbarschaft ist weniger anziehend für jemand,
der die Einsamkeit sucht; noch sind sie weit voneinander entfernt, um
die geselligen Beziehungen, die ihnen so lieb sind, nicht zu erschweren
und um sich bei einem Räuberanfall leicht Hilfe gewähren zu können.
In jeder Behausung ist ein geheiligter Raum, Tempel oder Monasterium
genannt, ein kleines Zimmer, oder Kammer, oder Zelle, in welchen sie
den Geheimnissen des höheren Lebens nachgehen ... Sie besitzen
auch Werke alter Schriftsteller, die einst ihre Schule leiteten und
viele Erklärungen über die in den allegorischen Schriften übliche Methode
hinterließen ... Die Auslegung der heiligen Schriften ist bei ihnen
auf den tieferen Sinn der allegorischen Erzählungen gerichtet.»
– Man sieht: es handelte sich um eine Verallgemeinerung dessen, was
im engeren Kreise der Mysterien auch angestrebt worden ist. Nur wird
natürlich durch eine solche Verallgemeinerung der strenge Charakter
abgeschwächt worden sein. – Die Essäer- und Therapeutengemeinden bilden
einen natürlichen Übergang von den Mysterien zu dem Christentum. Das
Christentum wollte aber zu einer Menschheitsangelegenheit machen, was
sie zu einer Sektenangelegenheit gemacht hatten. Dadurch war natürlich
die Grundlage für eine weitere Abschwächung des strengen Charakters
gegeben.
Aus dem Vorhandensein solcher Sekten wird verständlich,
inwiefern die damalige Zeit reif war für eine Erfassung des Christus-Geheimnisses.
In den Mysterien war der Mensch künstlich vorbereitet worden, damit
auf entsprechender Stufe in seiner Seele die höhere geistige Welt aufging.
Innerhalb der Essäer- oder Therapeutengemeinde suchte sich die Seele
durch einen entsprechenden Lebenswandel für die Erweckung des «höheren
Menschen » reif zu machen. Ein weiterer Schritt ist dann der,
daß man sich zu einer Ahnung davon durchringt: eine Menschen-Individualität
könne in wiederholten Erdenleben sich zu immer höheren und höheren Stufen
der Vollkommenheit entwickelt haben. Wer solches ahnen konnte, vermochte
auch eine Empfindung dafür haben, daß in Jesus eine Individualität von
hoher Geistigkeit erschienen sei. Je höher die Geistigkeit, desto größer
die Möglichkeit, Bedeutsames zu vollbringen. Und so konnte die Jesus-Individualität
fähig werden, jene Tat zu vollbringen, welche die Evangelien in dem
Vorgang der Johannes-Taufe so geheimnisvoll andeuten, und durch die
Art, wie sie darauf hinweisen, doch so klar als etwas Wichtigstes bezeichnen.
– Die Persönlichkeit des Jesus wurde fähig, in die eigene Seele aufzunehmen
Christus, den Logos, so daß dieser in ihr Fleisch wurde. Seit dieser
Aufnahme ist das «Ich» des Jesus von Nazareth der Christus,
und die äußere Persönlichkeit ist der Träger des Logos. Dieses Ereignis,
daß das «Ich» des Jesus der Christus wird, das ist durch
die Johannes-Taufe dargestellt. Während der Mysterien-Epoche war die
«Vereinigung mit dem Geiste» für wenige Menschen die Angelegenheit
der Einzuweihenden. Bei den Essäern sollte sich eine ganze Gemeinde
eines Lebens befleißigen, durch das deren Angehörige zu der «Vereinigung»
kommen konnten; durch das Christus-Ereignis sollte vor die ganze Menschheit
etwas – eben die Taten des Christus – hingestellt werden, so daß die
«Vereinigung» eine Erkenntnis-Angelegenheit der ganzen Menschheit
sein konnte.
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