Vom
Wesen des Christentums
Die tiefste
Wirkung mußte es auf die Bekenner des Christentums ausüben, daß ihnen
das Göttliche, das Wort, der ewige Logos nicht mehr in dem geheimnisvollen
Dunkel des Mysteriums, als Geist allein, entgegentrat; sondern das sie,
wenn sie von diesem Logos sprachen, immer auf die geschichtliche, menschliche
Persönlichkeit Jesu gewiesen wurden. Vorher hatte man ja innerhalb der
Wirklichkeit diesen Logos nur auf verschiedenen Stufen menschlicher
Vollkommenheiten gesehen. Man konnte die feinen, intimen Unterschiede
im Geistesdasein der Persönlichkeit beobachten und konnte sehen, in
welchen Arten und Graden in den einzelnen Persönlichkeiten, welche die
Einweihung suchten, der Logos lebendig wurde, Einen höheren Reifegrad
mußte man als eine höhere Entwicklungsstufe des geistigen Daseins deuten.
Man mußte die Vorstufen dazu in einem abgelebten Geistesleben suchen.
Und das gegenwärtige Leben konnte man als Vorstufe von künftigen geistigen
Entwicklungsstufen ansehen. Die Erhaltung der geistigen Kraft der Seele,
die Ewigkeit dieser Kraft durfte man behaupten im Sinne der jüdischen
Geheimlehre (Buch Sohar): «Nichts geht in der Welt verloren, nichts
fällt der Leere anheim, nicht einmal die Worte und die Stimme des Menschen;
alles hat seine Stelle und seine Bestimmung.» Die Eine Persönlichkeit
war nur eine Metamorphose der Seele, die sich von Persönlichkeit zu
Persönlichkeit wandelt. Das einzelne Leben der Persönlichkeit kam nur
als ein Entwicklungsglied einer nach vorwärts und rückwärts weisenden
Kette in Betracht. – Dieser sich wandelnde Logos ist durch das Christentum
von der einzelnen Persönlichkeit hingeleitet worden auf die einzige
Persönlichkeit Jesu. Was früher auf die ganze Welt verteilt war: das
wurde nunmehr auf eine einzige Persönlichkeit vereinigt. Jesus ist der
einzige Gottmensch geworden. In Jesus ist damit etwas einmal gegenwärtig
gewesen, das dem Menschen als das größte Ideal erscheinen muß, mit dem
er sich durch seine wiederholten Leben in der Zukunft immer mehr vereinigen
soll. Jesus hat die Vergottung der ganzen Menschheit auf sich genommen.
In ihm wurde gesucht, was vorher nur in der eigenen Seele gesucht werden
konnte. Man hatte der Persönlichkeit des Menschen das entrissen, was
in ihr selbst immer als Göttliches, als Ewiges gefunden worden war.
Und man konnte alles dieses Ewige in Jesus schauen. Nicht das Ewige
in der Seele überwindet den Tod und wird durch seine Kraft dereinst
als Göttliches auferweckt, sondern was in Jesus war, der einige Gott,
wird erscheinen und die Seelen auferwecken. Es war damit gegeben, daß
die Persönlichkeit eine ganz neue Bedeutung erhielt. Man hatte ihr das
Ewige, das Unsterbliche genommen. Sie war als solche, für sich, übrig
geblieben. Man mußte, wollte man nicht die Ewigkeit leugnen, dieser
Persönlichkeit selbst die Unsterblichkeit zuschreiben. Aus dem Glauben
an die ewige Wandelung der Seele wurde der persönliche Unsterblichkeitsglaube.
Eine unendliche Wichtigkeit erhielt ja diese Persönlichkeit, weil sie
das einzige war, was man am Menschen festhielt. – Es gibt fortan nichts
mehr zwischen der Persönlichkeit und dem unendlichen Gott. Man muß sich
zu ihm in ein unmittelbares Verhältnis setzen. Man war nicht mehr in
höherem oder niederem Grade selbst derVergöttlichung fähig; man war
einfach Mensch und stand zu Gott in einem unmittelbaren, aber äußeren
Verhältnisse. Wer die alte Mysterienanschauung kannte, mußte das als
einen ganz neuen Ton in der Weltanschauung empfinden. In diesem Falle
waren wohl zahlreiche Persönlichkeiten der ersten christlichen Jahrhunderte.
Sie wußten von der Art der Mysterien; wollten sie Christen werden, so
mußten sie sich mit dieser alten Art auseinandersetzen. Das mag sie
In die schwierigsten Seelenkämpfe gebracht haben. In der mannigfaltigsten
Art mögen sie einen Ausgleich gesucht haben zwischen beiden Richtungen
der Weltanschauung. Die Schriften der ersten christlichen Jahrhunderte
spiegeln diesen Kampf; sowohl die der Heiden, die von der Hoheit des
Christentums angezogen werden, wie auch diejenigen der Christen, denen
es schwer wird, die Mysterienweise zu verlassen. Langsam wächst das
Christentum aus dem Mysterienwesen heraus. Christliche Überzeugungen
werden in der Form der Mysterienwahrheiten vorgetragen; Mysterienweisheit
wird in die Worte des Christentums gekleidet. Klemens von Alexandrien,
der heidnisch gebildete christliche Schriftsteller (gestorben 217 n.
Chr.) gibt davon ein Beispiel: «Gott hat uns nicht versagt, vom
Guten auszuruhen in der Feier des Sabbats; denen, die es fassen können,
hat er verliehen, an den göttlichen Geheimnissen und an dem heiligen
Lichte teilzunehmen; er hat nicht der Menge geoffenbart, was sich für
sie nicht schickt, sondern nur wenigen, für die er es geziemend erachtete,
die es fassen können und sich darnach bilden, wie Gott das Unaussprechliche
dem Logos vertraut, nicht der Schrift. – Gott hat der Kirche einige
als Apostel gegeben, andre als Propheten, andre als Evangelisten, andre
als Hirten und Lehrer zur Vollendung der Heiligen, zum Werke des Dienstes,
zur Erbauung des Leibes Christi.» Auf die mannigfaltigste Art
suchen die Persönlichkeiten den Weg von den antiken Anschauungen zu
den christlichen zu finden. Und wer auf dem rechten Wege zu sein glaubt,
bezeichnet andere als Irrlehrer. Daneben befestigt sich immer mehr die
Kirche als äußere Institution. Je mehr sie an Macht gewann, desto mehr
trat der Weg, den sie durch die Konzil-Beschlüsse, durch äußere Festsetzung
als den richtigen anerkannte, an die Stelle des persönlichen Forschens.
Sie entschied, wer zu weit abwich von der von ihr bewahrten göttlichen
Wahrheit. Der Begriff des «Irrlehrers» bekam eine immer
festere Gestalt. In den ersten Jahrhunderten des Christentums war das
Suchen des göttlichen Weges viel mehr persönliche Angelegenheit als
in den späteren. Es war erst ein langer Weg zurückzulegen, bis die Überzeugung
des Augustinus möglich war: «Ich würde an die Wahrheit der Evangelien
nicht glauben, wenn mich nicht die Autorität der katholischen Kirche
dazu zwänge» (vergleiche Seite 108).
Der Kampf
zwischen der Mysterienart und der christlichen bekam eine besondere
Prägung durch die verschiedenen «gnostischen» Sekten und
Schriftsteller. Als Gnostiker kann man alle Schriftsteller der ersten
christlichen Jahrhunderte auffassen, die nach einem tieferen, geistigen
Sinn der christlichen Lehren suchten. (Eine glänzende Darstellung der
Entwicklung der Gnosis bietet das obengenannte Buch von Mead «Fragmente
eines verschollenen Glaubens».) Man versteht diese Gnostiker,
wenn man sie ansieht als durchtränkt mit alter Mysterienweisheit und
bestrebt, das Christentum von dem Gesichtspunkt der Mysterien aus zu
begreifen. Christus ist ihnen der Logos. Er ist zunächst als solcher
geistiger Art. Er kann in seiner Urwesenheit nicht von außen an den
Menschen herankommen. Er muß in der Seele erweckt werden. Aber der geschichtliche
Jesus muß ein Verhältnis haben zu diesem geistigen Logos. Das war die
gnostische Grundfrage. Mochte sie der eine so, der andere so lösen.
Die Hauptsache bleibt, daß nicht die bloße historische Überlieferung,
sondern die Mysterienweisheit, oder die aus derselben Quelle schöpfende
neuplatonische Philosophie, die in den ersten christlichen Jahrhunderten
blühte, zu einem wirklichen Verständnisse des Christus-Gedankens führen
sollte. Man hatte Vertrauen zur Menschenweisheit und glaubte, daß sie
einen Christus gebären könne, an dem der geschichtliche gemessen werden
kann. Ja, durch den dieser erst verstanden und im rechten Lichte geschaut
werden könne.
Von besonderem
Interesse, von diesem Gesichtspunkte aus, ist die Lehre, die in den
Büchern des Areopagiten Dionysius auftritt. Allerdings wird
dieser Schriften erst im sechsten Jahrhundert Erwähnung getan. Es kommt
aber bei ihnen nicht darauf an, wann und wo sie geschrieben sind, sondern
darauf, daß sie eine Darstellung des Christentums, ganz eingekleidet
in die Vorstellungsart der neuplatonischen Philosophie und in ein geistiges
Anschauen der höheren Welt, enthalten. Es ist dies unter allen Umständen
eine Darstellungsform, die den ersten christlichen Jahrhunderten angehört.
In alten Zeiten hat sich diese Darstellungsform als mündliche Tradition
fortgepflanzt; man vertraute eben in den älteren Zeiten das Wichtigste
gerade nicht der Schrift an. Man könnte das Christentum, das
sie darstellen, ein solches nennen, das aus dem Spiegel der neuplatonischen
Weltanschauung gezeigt werden sollte. Die sinnliche Wahrnehmung trübt
dem Menschen das Anschauen des Geistes. Er muß über das Sinnliche hinausgehen.
Nun sind aber alle menschlichen Begriffe zunächst aus der sinnlichen
Beobachtung geschöpft. Was der sinnliche Mensch beobachtet, das nennt
er seiend; was er nicht beobachtet, das bezeichnet er als nicht-seiend.
Will der Mensch sich daher eine wirkliche Perspektive zu dem Göttlichen
eröffnen, so muß er auch über das Seiende und Nicht-Seiende hinausgehen,
denn auch dieses entstammt in seiner Auffassung der Sinnensphäre. Gott
ist in diesem Sinne weder seiend, noch nicht-seiend. Er ist überseiend.
Man kann ihn daher nicht erreichen mit den Mitteln des gewöhnlichen
Erkennens, das es mit dem Seienden zu tun hat. Man muß über sich, über
seine Sinnenbeobachtung, über seine verständige Logik hinausgehoben
werden und den Übergang finden zu geistiger Anschauung; dann kann man
ahnend in die Perspektive des Göttlichen blicken. – Aber diese überseiende
Gottheit hat die weisheitsvolle Grundlage der Welt, den Logos hervorgebracht.
Ihn kann auch die niedere Kraft des Menschen erreichen. Er wird als
geistiger Sohn Gottes im Weltgebäude gegenwärtig; er ist der Mittler
zwischen Gott und dem Menschen. Er kann in verschiedenen Stufen im Menschen
gegenwärtig sein. Ihn kann eine weltliche Institution verwirklichen,
indem sie die in verschiedener Art von ihm erfüllten Menschen unter
einer Hierarchie vereinigt. Eine solche «Kirche» ist der
sinnlich-wirklicheLogos; und die Kraft, die in ihr lebt, lebte persönlich
in dem fleischgewordenen Christus, in Jesus. Durch Jesus ist also die
Kirche mit Gott vereinigt, in ihm hat sie ihre Spitze und ihren Sinn.
Es war
für alle Gnosis klar: mit der Idee von Jesu Persönlichkeit mußte sie
sich verständigen. Christus und Jesus mußten in ein Verhältnis gebracht
werden. Die Göttlichkeit war der menschlichen Persönlichkeit genommen;
sie mußte auf irgend eine Art wieder gefunden werden. Es mußte möglich
sein, sie in Jesus wieder zu finden. Der Myste hatte mit einem Grade
der Göttlichkeit in sich und mit seiner irdisch-sinnlichen Persönlichkeit
zu tun. Der Christ hatte mit dieser und mit einem vollendeten, über
alles menschlich Erreichbare erhabenen Gott zu tun. Wird diese Anschauung
streng festgehalten, so ist eine mystische Grundstimmung der Seele nur
möglich, wenn dieser Seele, indem sie das höhere Geistige in sich findet,
das geistige Auge so geöffnet wird, daß in dieses das Licht fällt, welches
von dem Christus in dem Jesus ausgeht. Vereinigung der Seele mit ihren
höchsten Kräften ist zugleich Vereinigung mit dem geschichtlichen Christus.
Denn Mystik ist unmittelbares Fühlen und Empfinden des Göttlichen in
der eigenen Seele. Ein über alles Menschliche hinausragender Gott kann
aber im wahren Sinne des Wortes nie in der Seele wohnen. Die Gnosis
und auch alle spätere christliche Mystik stellen das Bestreben dar,
dieses Gottes doch auf irgend eine Art in der Seele unmittelbar teilhaftig
zu werden. Ein Kampf mußte da immer entstehen. Man konnte in Wirklichkeit
nur sein Göttliches finden, das ist aber ein Menschlich-Göttliches,
ein Göttliches auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Aber der christliche
Gott ist doch ein bestimmter, in sich vollendeter. Man konnte in sich
finden die Kraft, zu ihm emporzustreben; aber man konnte nicht etwas,
was man in der Seele auf irgend einer Stufe erlebte, als eins mit ihm
bezeichnen. Zwischen dem, was man in der Seele erkennen konnte, und
dem, was das Christentum als göttlich bezeichnete, entstand eine Kluft.
Es ist die Kluft zwischen Wissen und Glauben, zwischen Erkennen und
religiösem Empfinden. Für den Mysten im alten Sinne kann es diese Kluft
nicht geben. Denn er weiß zwar, daß er das Göttliche nur gradweise erfassen
kann; aber er weiß auch, warum er nur dies kann. Er ist sich klar, daß
er in dem gradweisen Göttlichen doch das wahre, lebendige Göttliche
hat; und es wird ihm schwer, von einem vollendeten, abgeschlossenen
Göttlichen zu sprechen. Ein solcher Myste will gar nicht den vollendeten
Gott erkennen, sondern er will das göttliche Leben erfahren. Er will
selbst vergottet-sein; er will nicht ein äußerliches Verhältnis zur
Gottheit gewinnen. Es ist in dem Wesen des Christentums gelegen, daß
seine Mystik nicht in diesem Sinne voraussetzungslos ist. Der christliche
Mystiker will in sich selbst die Gottheit schauen, aber er muß zu dem
geschichtlichen Christus hinblicken wie das physische Auge zur Sonne;
wie dieses sich sagt: durch diese Sonne werde ich erblicken, was ich
durch meine Kräfte sehen kann, so sagt der christliche Myste: ich steigere
mein Inneres zu göttlichem Schauen; das Licht, das mir solches Schauen
ermöglicht, ist in dem erschienenen Christus gegeben. Er ist,
wodurch ich in mir zum Höchsten steigen kann. Die christlichen Mystiker
des Mittelalters zeigen gerade darin ihren Unterschied von den Mysten
der alten Mysterien. (Vergleiche mein Buch: Die Mystik im Aufgange des
neuzeitlichen Geisteslebens. Berlin 1901.)
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