Christentum und Heidnische Weisheit
In der
Zeit, in der auch das Christentum seine ersten Anfänge hat, treten innerhalb
der antiken heidnischen Kultur Weltanschauungen auf, die sich als eine
Fortführung der platonischen Vorstellungsart darstellen, und die auch
als eine verinnerlichte, vergeistigte Mysterienweisheit aufgefaßt werden
dürfen. Ihren Ausgang nahmen sie von dem Alexandriner Philo
(25 v. Chr. bis 50 n. Chr.). Ganz ins Innere der Menschenseele scheinen
bei ihm die Vorgänge verlegt, die zum Göttlichen führen. Man möchte
sagen: der Mysterientempel, in dem Philo seine Weihen sucht, ist einzig
und allein sein eigenes Innere und dessen höhere Erlebnisse selbst.
Durch Prozesse rein geistiger Art ersetzt er die Prozeduren, die sich
in den Mysterienstätten abspielen. Das Sinnesanschauen und die logische
Verstandeserkenntnis führen nach seiner Überzeugung nicht zum Göttlichen.
Sie haben es nur mit dem Vergänglichen zu tun. Aber es gibt für die
Seele einen Weg, sich über diese Erkenntnisarten zu erheben. Sie muß
aus dem heraustreten, was sie ihr gewöhnliches «Ich» nennt.
Sie muß diesem «Ich» entrückt werden. Dann tritt sie in
einen Zustand spiritueller Erhöhung, Erleuchtung ein, in dem sie nicht
mehr im gewöhnlichen Sinne weiß, denkt und erkennt. Denn sie ist mit
dem Göttlichen verwachsen, mit ihm ineinander geflossen. Das Göttliche
wird erlebt als ein solches, das sich nicht in Gedanken formen,
nicht in Begriffen mitteilen läßt. Es wird erlebt. Und der es erlebt,
weiß, daß er von ihm nur Mitteilung machen kann, wenn er dazu kommt,
den Worten Leben zu geben. Von dieser mystischen Wesenheit, die man
in den tiefsten Schachten der Seele erlebt, ist die Welt das Abbild.
Sie ist aus dem unsichtbaren, undenkbaren Gott hervorgegangen. Ein unmittelbares
Bild dieser Gottheit ist die weisheitsvolle Harmonie der Welt, der die
sinnlichen Erscheinungen folgen. Diese weisheitsvolle Harmonie ist das
geistige Ebenbild der Gottheit. Es ist der in die Welt ergossene göttliche
Geist: die Weltvernunft, der Logos, der Sproß oder Sohn Gottes. Der
Logos ist der Vermittler zwischen der Sinnenwelt und dem unvorstellbaren
Gott. Indem der Mensch sich mit Erkenntnis durchdringt, vereinigt er
sich mit dem Logos. Der Logos wird in ihm verkörperlicht. Die zur Geistigkeit
entwickelte Persönlichkeit ist Träger des Logos. Über dem Logos liegt
Gott; unterhalb desselben die vergängliche Welt. Der Mensch ist berufen,
die Kette zwischen beiden zu schließen. Was er in seinem Innern als
Geist erlebt, ist der Weltengeist. Unmittelbar wird man bei solchen
Vorstellungen an die pythagoreische Denkart erinnert. Im Innenleben
wird der Kern des Daseins gesucht. Aber das Innenleben ist sich seiner
kosmischen Geltung bewußt. Es ist im wesentlichen aus einer Vorstellungsart
hervorgegangen, die der des Philo ähnlich ist, was Augustinus sagt:
«Wir sehen alle Dinge, die gemacht sind, weil sie sind; aber weil
Gott sie sieht, sind sie.» – Und über das, was und wo durch
wir sehen, fügt er bezeichnend hinzu: «Und weil sie sind, sehen
wir sie äußerlich; und weil sie vollkommen sind, sehen wir sie innerlich.»
Bei Plato ist die gleiche Grundvorstellung vorhanden. Philo hat genau
wie Plato in den Schicksalen der menschlichen Seele den Abschluß des
großen Weltendramas, die Erweckung des verzauberten Gottes, gesehen.
Er hat ja die inneren Taten der Seele mit den Worten beschrieben: die
Weisheit in dem Innern des Menschen geht «die Wege des Vaters
nachahmend und formt, auf die Urbilder schauend, die Gestalten».
Es ist daher keine persönliche Angelegenheit, wenn der Mensch in sich
Gestalten formt. Diese Gestalten sind die ewige Weisheit, sind das kosmische
Leben. Das ist im Einklang mit der Mysterienauffassung von den Volksmythen.
Der Myste sucht in den Mythen den tieferen Wahrheitskern. Und was der
Myste mit den heidnischen Mythen tut, das vollbringt Philo mit den mosaischen
Schöpfungsberichten. Die Berichte des alten Testamentes sind ihm Bilder
für innere Seelenvorgänge. Die Bibel erzählt die Weltschöpfung. Wer
sie als Darstellung äußerer Vorgänge nimmt, der kennt sie nur halb.
Gewiß steht geschrieben: «Im Urbeginn schuf Gott Himmel und Erde.
Und die Erde war wüst und leer, und es war finster in der Tiefe; und
der Geist Gottes schwebte über den Wassern.» Aber der wahre, innere
Sinn solcher Worte muß in den Tiefen der Seele erlebt werden. Es muß
der Gott im Innern gefunden werden, dann erscheint er als der «Urglanz,
der unzählige Strahlen aussendet, nicht sinnlich-wahrnehmbar, sondern
insgesamt gedanklich». So drückt sich Philo aus. Fast genau wie
in der Bibel heißt es bei Plato, im «Timäos»: «Als
nun aber der Vater, welcher das All erzeugt hatte, es ansah, wie es
belebt und bewegt und ein Bild der ewigen Götter geworden war, da empfand
er Wohlgefallen daran.» In der Bibel liest man: «Und Gott
sah, daß alles gut war.» – Das Göttliche erkennen, heißt wie bei
Plato, wie in der Mysterienweisheit auch im Sinne der Bibel: den Schöpfungswerdegang
als eigenes seelisches Schicksal erleben. Geschichte der Schöpfung und
Geschichte der sich vergöttlichenden Seele fließen dadurch in Eins zusammen.
Man kann den Schöpfungsbericht des Moses nach Philos Überzeugung dazu
verwenden, die Geschichte der Gott suchenden Seele zu schreiben. Alle
Dinge in der Bibel erhalten dadurch einen tief symbolischen Sinn. Philo
wird zum Ausleger dieses symbolischen Sinnes. Er liest die Bibel als
Seelengeschichte.
Man darf
sagen, daß Philo mit dieser Art die Bibel zu lesen, einem Zuge seiner
Zeit entsprach, der aus der Mysterienweisheit geschöpft war; konnte
er ja dieselbe Art der Auslegung alter Schriften von den Therapeuten
berichten. «Sie besitzen auch Werke alter Schriftsteller, die
einst ihre Schule leiteten und viele Erklärungen über die in den allegorischen
Schriften übliche Methode hinterließen . . . Die Auslegung dieser Schriften
ist bei ihnen auf den tieferen Sinn der allegorischen Erzählungen gerichtet».
So war Philos Absicht auf den tieferen Sinn der «allegorischen»
Erzählungen des alten Testaments gerichtet. Man vergegenwärtige sich,
wozu eine solche Auslegung führen konnte. Man liest den Schöpfungsbericht
und findet darin nicht nur eine äußerliche Erzählung sondern das Vorbild
für die Wege, welche die Seele nehmen muß, um zum Göttlichen zu gelangen.
Die Seele muß also – darin nur kann ihr mystisches Weisheitsstreben
bestehen – in sich die Wege Gottes mikrokosmisch wiederholen. Es muß
sich in jeder Seele das Weltendrama abspielen. Eine Erfüllung
des im Schöpfungsbericht gegebenen Vorbildes ist das Seelenleben des
mystischen Weisen. Moses hat nicht nur geschrieben, um geschichtliche
Tatsachen zu erzählen, sondern um in Bildern zu veranschaulichen, was
die Seele für Wege nehmen muß, wenn sie Gott finden will.
Das alles
bleibt in der Weltanschauung Philos innerhalb des Geistes beschlossen.
Der Mensch erlebt in sich, was Gott in der Welt erlebt hat.
Das Wort Gottes, der Logos, wird Seelenereignis. Gott hat die Juden
aus Ägypten nach dem gelobten Lande geführt; er hat sie durch Qualen
und Entbehrungen gehen lassen, um ihnen dann das Land der Verheißung
zu schenken. Das ist der äußere Vorgang. Man erlebe ihn im Innern. Man
geht aus dem Lande Ägypten, der vergänglichen Welt, durch die Entbehrungen,
welche zur Unterdrückung der sinnlichen Welt führen, in das gelobte
Land der Seele ein, man erreicht das Ewige. Bei Philo ist das alles
innerlicher Vorgang. Der Gott, der in die Welt ausgegossen wurde, feiert
seine Auferstehung in der Seele, wenn sein Schöpfungswort verstanden
und in der Seele nachgebildet wird. Dann hat der Mensch in sich den
Gott, den Mensch gewordenen Gottesgeist, den Logos, Christus, auf geistige
Art geboren. In diesem Sinne war die Erkenntnis für Philo und für diejenigen,
die in seinem Sinne dachten, eine Christusgeburt innerhalb der Welt
des Geistigen. Eine Fortbildung dieser philonischen Denkungsart war
auch die neuplatonische Weltanschauung, die sich mit dem Christentum
zugleich fortbildete. Man sehe, wie Plotin (204 bis 269 n.
Chr.) seine geistigen Erlebnisse schildert:
«Oftmals, wenn ich aus dem Schlummer der Körperlichkeit
erwache, zu mir komme, von der Außenwelt abgewendet in mich einkehre,
so schaue ich eine wundersame Schönheit; dann bin ich gewiß, meines
besseren Teiles inne geworden zu sein; ich betätige das wahre Leben,
bin mit dem Göttlichen geeint, und in ihm gegründet, gewinne ich die
Kraft, mich noch über die Überwelt hinaus zu versetzen. Wenn ich dann
nach diesem Ruhen in Gott aus dem Geistesschauen wieder zur Gedankenbildung
herabsteige, dann frage ich mich, wie es zuging, daß ich jetzt herabsteige,
und daß überhaupt einmal meine Seele in den Körper eingegangen ist,
da sie doch in ihrem Wesen so ist, wie sie sich mir eben gezeigt hatte»,
und «was mag denn der Grund sein, daß die Seelen den Vater, Gott,
vergessen, da sie doch aus dem Jenseits stammen und ihm gehören, und
so von ihm und sich selbst nichts wissen? Des Bösen Anfang ist für sie
der Wagemut und die Werdelust und die Selbstentfremdung und die Lust,
nur sich zu gehören. Es gelüstete sie nach Selbstherrlichkeit; sie tummelten
sich nach ihrem Sinne, und so gerieten sie auf den Abweg und schritten
zum vollen Abfalle vor, und damit schwand ihnen die Erkenntnis ihres
Ursprungs aus dem Jenseits, wie Kinder, früh von ihren Eltern getrennt
und in der Ferne aufgezogen, nicht wissen, wer sie und ihre Eltern sind».
Die Lebensentwicklung, welche die Seele suchen soll, wird von Plotin
dargestellt: «Befriedet sei ihr Körperleben und dessen Wogenschlag,
befriedet sehe sie alles, was sie umgibt: die Erde und das Meer und
die Luft und den Himmel selbst, ohne Regung. Sie lerne darauf achten,
wie die Seele von außen her in den ruhenden Kosmos gleichsam sich ergießt
und einströmt, von allen Seiten andringt und einstrahlt; wie die Sonnenstrahlen
eine dunkle Wolke erleuchten und goldig erglänzen machen, so verleiht
die Seele, wenn sie in den Leib der himmelumspannten Welt eingeht, ihm
Leben und Unsterblichkeit.»
Es ergibt
sich, daß diese Weltanschauung mit dem Christentum eine tiefgehende
Ähnlichkeit hat. Bei den Bekennern der Jesusgemeinde heißt es: «Was
von Anfang an geschehen ist, was wir gehört und gesehen haben mit Augen,
was wir selbst geschauet, was unsere Hände berührt haben von dem Worte
des Lebens ... das melden wir euch»; so könnte im Sinne des
Neuplatonismus gesagt werden: Was vom Anfange an geschehen ist, was
man nicht hören und sehen kann: das muß man spirituell erleben als das
Wort des Lebens. – Die Entwicklung der alten Weltanschauung vollzieht
sich somit in einer Spaltung. Sie führt zu einer Christus-Idee, die
sich auf rein Geistiges bezieht, im Neuplatonismus und ähnlich gerichteten
Weltanschauungen; und andrerseits zu einem Zusammenfließen dieser Christus-Idee
mit einer geschichtlichen Erscheinung, der Persönlichkeit Jesu. Den
Schreiber des Johannes-Evangeliums kann man den Verbinder der beiden
Weltanschauungen nennen. «Im Urbeginne war das Wort.» Diese
Überzeugung teilt er mit den Neuplatonikern. Das Wort wird Geist im
Innern der Seele: das folgern die Neuplatoniker. Das Wort ist in Jesus
Fleisch geworden, das folgert der Schreiber des Johannes-Evangeliums,
und mit ihm die Christengemeinde. Der nähere Sinn, wie das Wort allein
Fleisch werden konnte, war durch die ganze Entwicklung der alten Weltanschauung
gegeben. Plato erzählt ja das makrokosmische: Gott hat auf den Weltleib
in Kreuzesform die Weltseele gespannt. Diese Weltseele ist
der Logos. Soll der Logos Fleisch werden, so muß er im Fleisches-Dasein
den kosmischen Weltprozeß wiederholen. Er muß ans Kreuz geschlagen werden
und auferstehen. Als geistige Vorstellung war dieser wichtigste Gedanke
des Christentums in den alten Weltanschauungen längst vorgezeichnet.
Als persönliches Erlebnis machte es der Myste bei der «Einweihung»
durch. Als Tatsache, die für die ganze Menschheit Geltung hat, mußte
es der «Mensch gewordene Logos» durchmachen. Etwas, was
also Mysterienvorgang in der alten Weisheitsentwicklung war: das wird
durch das Christentum zur historischen Tatsache. Dadurch wurde das Christentum
die Erfüllung nicht nur dessen, was die jüdischen Propheten vorhergesagt
hatten; sondern es wurde auch die Erfüllung dessen, was die Mysterien
vorhergebildet hatten. – Das Kreuz auf Golgatha ist der in eine Tatsache
zusammengezogene Mysterienkult des Altertums. Dieses Kreuz begegnet
uns zuerst in den alten Weltanschauungen; es begegnet uns innerhalb
eines einmaligen Ereignisses, das für die ganze Menschheit gelten soll,
am Ausgangspunkte des Christentums. Von diesem Gesichtspunkte aus kann
das Mystische im Christentum begriffen werden. Das Christentum als mystische
Tatsache ist eine Entwicklungsstufe im Werdegang der Menschheit; und
die Ereignisse in den Mysterien und die durch dieselben bedingten Wirkungen
sind die Vorbereitung zu dieser mystischen Tatsache.
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