Augustinus und die Kirche
Die volle
Gewalt des Kampfes, der sich in den Seelen christlicher Bekenner beim
Übergang aus dem Heidentum zu der neuen Religion abgespielt hat, kommt
in der Persönlichkeit des Augustinus (354–430) zur Anschauung.
Man betrachtet die Seelenkämpfe eines Origenes, Clemens von Alexandrien,
Gregors von Nazianz, Hieronymus und anderer in geheimnisvoller Art mit,
wenn man sieht, wie diese Kämpfe in dem Geiste des Augustinus zur Ruhe
gekommen sind.
Augustinus ist eine Persönlichkeit, in der sich aus einer
leidenschaftlichen Natur heraus die tiefsten geistigen Bedürfnisse entwickeln.
Er geht durch heidnische und halbchristliche Vorstellungen hindurch.
Er leidet tief unter den furchtbarsten Zweifeln, wie sie einen Menschen
befallen können, der die Ohnmacht vieler Gedanken gegenüber den geistigen
Interessen erprobt hat, und der die niederschlagende Empfindung gekostet
hat von dem: Kann denn der Mensch überhaupt etwas wissen?
Im Anfange
seines Strebens hafteten die Vorstellungen des Augustinus am Sinnlich-Vergänglichen.
Er konnte sich das Geistige nur in sinnlichen Bildern veranschaulichen.
Er empfindet es wie eine Befreiung, als er sich über diese Stufe erhoben
hat. Das schildert er in seinen «Bekenntnissen»: «Daß
ich mir, wenn ich Gott denken wollte, Körpermassen vorstellen mußte,
und glaubte, es könne nichts existieren als derartiges, das war der
gewichtigste und fast der einzige Grund des Irrtums, den ich nicht vermeiden
konnte.» Damit deutet er an, wohin der Mensch kommen muß, der
das wahre Leben im Geiste sucht. Es gibt Denker, welche behaupten –
und diese Denker sind nicht wenig zahlreich –: man könne zu einem reinen,
von allem sinnlichen Stoffe freien Vorstellen überhaupt nicht gelangen.
Diese Denker verwechseln dasjenige, was sie glauben von ihrem eigenen
Seelenleben sagen zu müssen, mit dem menschlich Möglichen. Die Wahrheit
ist vielmehr, daß man zu einer höheren Erkenntnis erst kommen kann,
wenn man sich zu einem von allem sinnlichen Stoffe freien Denken entwickelt
hat; zu einem solchen Seelenleben, dessen Vorstellungen nicht mehr dann
aufhören, wenn die Veranschaulichung durch sinnliche Eindrücke aufhört.
Augustinus erzählt, wie er zum geistigen Schauen aufgestiegen ist. Er
fragte überall an, wo das «Göttliche» ist. «Ich fragte
die Erde und sie sprach: Ich bin es nicht, und was auf ihr ist, bekannte
das Gleiche. Ich fragte das Meer und die Abgründe, und was von Lebendem
sie bergen, und sie antworteten: Wir sind nicht dein Gott; suche über
uns. Ich fragte die wehenden Lüfte, und es sprach der ganze Dunstkreis
samt allen seinen Bewohnern: Die Philosophen, die in uns das Wesen der
Dinge suchten, täuschten sich: wir sind nicht Gott. Ich fragte Sonne,
Mond und Sterne, sie sprachen: Wir sind nicht Gott, den du suchst.»
Und Augustinus erkannte, daß es nur eines gibt, das Antwort erteilt
auf seine Frage nach dem Göttlichen: die eigene Seele. Sie sprach: Kein
Auge, kein Ohr kann dir mitteilen, was in mir ist. Das kann ich dir
nur selbst sagen. Und ich sage es dir auf unzweifelhafte Weise. «Ob
die Lebenskraft in der Luft oder im Feuer liegt, darüber konnten die
Menschen zweifelhaft sein, aber wer wollte zweifeln, daß er lebt, sich
erinnert, versteht, will, denkt, weiß und urteilt? Wenn er zweifelt,
so lebt er ja, erinnert er sich ja, weshalb er zweifelt, versteht er
ja, daß er zweifelt, will er sich ja vergewissern, denkt er ja, weiß
er ja, daß er nichts weiß, urteilt er ja, daß er nichts voreilig annehmen
dürfe.» Die Außendinge wehren sich nicht, wenn wir ihnen Wesenheit
und Dasein absprechen. Aber die Seele wehrt sich. Sie könnte ja nicht
an sich zweifeln, wenn sie nicht wäre. Auch in ihrem Zweifel bestätigt
sie ihr Dasein. «Wir sind und wir erkennen unser Sein und lieben
unser Sein und Erkennen: in diesen drei Stücken kann uns kein dem Wahren
ähnlicher Irrtum beunruhigen, denn wir ergreifen sie nicht wie die Außendinge
mit einem körperlichen Sinne.» Vom Göttlichen erfährt der Mensch,
indem er seine Seele dazu bringt, sich selbst erst als Geistiges zu
erkennen, um als Geist den Weg in die geistige Welt zu finden. Dazu
hatte sich Augustinus durchgerungen, dieses zu erkennen. Aus solcher
Stimmung heraus erwuchs im heidnischen Volkstum den Erkenntnis suchenden
Persönlichkeiten das Verlangen, an die Pforten der Mysterien anzuklopfen.
Im Zeitalter des Augustinus konnte man mit diesen Überzeugungen Christ
werden. Der menschgewordene Logos, Jesus, hatte den Weg gewiesen, den
die Seele zu gehen hat, wenn sie zu dem kommen will, wovon sie sprechen
muß, wenn sie mit sich selbst ist. In Mailand wurde Augustinus 385 die
Belehrung des Ambrosius zuteil. Alle seine Bedenken gegen das Alte und
Neue Testament schwanden, als ihm der Lehrer die wichtigsten Stellen
nicht bloß dem Wortsinn nach sondern «mit Aufhebung des mystischen
Schleiers aus dem Geiste» deutete. In der geschichtlichen Tradition
der Evangelien und in der Gemeinschaft, von der diese Tradition bewahrt
wird, verkörpert sich für Augustinus das, was in den Mysterien behütet
worden ist. Er hält sich allmählich davon überzeugt, daß «ihr
Gebot, das zu glauben, was sie nicht bewies, maßvoll und ohne
Arg sei». Er kommt zu der Vorstellung: «Wer möchte so verblendet
sein, zu sagen, die Kirche der Apostel verdiene keinen Glauben, die
so treu ist und von so vieler Brüder Übereinstimmung getragen, daß diese
deren Schriften gewissenhaft den Nachkommen überlieferten, wie sie auch
deren Lehrstühle bis zu den gegenwärtigen Bischöfen herab mit streng
gesicherter Nachfolge erhalten hat.» Des Augustinus Vorstellungsart
sagte ihm, daß mit dem Christusereignisse andere Verhältnisse für die
nach dem Geist suchende Seele eingetreten waren, als sie vorher bestanden
hatten. Für ihn stand fest, daß in dem Christus Jesus dasjenige in der
äußeren geschichtlichen Welt sich geoffenbart hat, was der Myste durch
die Vorbereitung in den Mysterien suchte. Einer seiner bedeutsamen Aussprüche
ist: «Was man gegenwärtig die christliche Religion nennt, bestand
schon bei den Alten und fehlte nicht in den Anfängen des Menschengeschlechtes,
bis Christus im Fleische erschien, von wo an die wahre Religion, die
schon vorher vorhanden war, den Namen der christlichen erhielt.»
Für eine solche Vorstellungsart waren zwei Wege möglich. Der eine ist
der, welcher sich sagt, wenn die menschliche Seele diejenigen Kräfte
in sich ausbildet, durch welche sie zur Erkenntnis ihres wahren Selbst
gelangt, so wird sie, wenn sie nur weit genug geht, auch zur Erkenntnis
des Christus und alles dessen kommen, was mit ihm zusammenhängt. Dies
wäre eine durch das Christus-Ereignis bereicherte Mysterien Erkenntnis
gewesen. – Der andere Weg ist derjenige, welchen Augustinus wirklich
eingeschlagen hat, und durch welchen er für seine Nachfolger das große
Vorbild geworden ist. Er besteht darin, mit der Entwicklung der eigenen
Seelenkräfte an einem bestimmten Punkte abzuschließen und die Vorstellungen,
welche mit dem Christus-Ereignis zusammenhängen, aus den schriftlichen
Aufzeichnungen und mündlichen Überlieferungen über dasselbe zu entnehmen.
Den ersten Weg wies Augustinus als dem Stolze der Seele entspringend
ab, der zweite entsprach für ihn der rechten Demut. So sagt er zu denen,
welche den ersten Weg gehen wollen: «Ihr könntet Frieden finden
in der Wahrheit, aber dazu bedarf es der Demut, die eurem starken Nacken
so schwer ankommet.» Dagegen empfand er in unbegrenzter innerlicher
Seligkeit die Tatsache, daß man seit der «Erscheinung des Christus
im Fleische» sich sagen konnte: jede Seele kann zum Erleben des
Geistigen kommen, welche in sich selbst suchend so weit geht, als sie
eben gehen kann, und dann, um zum Höchsten zu kommen, Vertrauen
haben kann zu dem, was die schriftlichen und mündlichen Überlieferungen
der christlichen Gemeinschaft über den Christus und seine Offenbarung
aussagen. Er spricht sich darüber aus: «Welche Wonne und welch
dauernder Genuß des höchsten und wahren Gutes sich nun darbietet, welche
Heiterkeit, welcher Anhauch der Ewigkeit, wie soll ich das sagen? Es
haben dies gesagt, soweit sich das eben sagen läßt, jene großen unvergleichlichen
Seelen» denen wir zusprechen, daß sie geschaut haben und noch
schauen. Wir erreichen einen Punkt, in dem wir erkennen, wie wahr das
ist, was uns zu glauben geboten wurde, und wie gut und heilbringend
wir bei unserer Mutter, der Kirche, auferzogen worden sind, und welches
der Nutzen jener Milch war, die der Apostel Paulus den Kleinen zum Tranke
gab ...» (Was aus der andern möglichen Vorstellungsart, der um
das Christus-Ereignis bereicherten Mysterien-Erkenntnis sich entwickelt:
das zu betrachten liegt außerhalb des Rahmens dieser Schrift. Es findet
sich die Darstellung davon in meinem Umriß einer «Geheimwissenschaft».)
– Während in vorchristlichen Zeiten derjenige Mensch, welcher die geistigen
Gründe des Daseins suchen wollte, auf den Mysterienweg gewiesen werden
mußte, konnte Augustinus auch denjenigen Seelen, welche in sich selber
keinen solchen Weg gehen konnten, sagen: Kommt so weit, als sich mit
euren menschlichen Kräften in der Erkenntnis kommen läßt; von
da ab führt euch dann das Vertrauen, der Glaube, in die höheren
geistigen Regionen hinauf. – Es war nun nur ein Schritt weiter zu gehen
und zu sagen: es liegt in dem Wesen der menschlichen Seele, durch ihre
eigenen Kräfte bis zu einer gewissen Stufe der Erkenntnis nur kommen
zu können; von da an könne sie nur weiter kommen durch Vertrauen, durch
den Glauben an die christliche und mündliche Überlieferung. Dieser Schritt
war durch diejenige Geistesströmung getan, welche dem natürlichen
Erkennen ein gewisses Gebiet zuwies über welches sich die Seele
nicht durch sich selbst erheben kann; welche Strömung aber alles, was
über diesem Gebiet lag, zum Gegenstande des Glaubens machte, der sich
zu stützen hat auf die schriftliche und mündliche Überlieferung, auf
das Vertrauen in ihre Träger. Der größte Kirchenlehrer, Thomas von
Aquino (1225–1274), hat diese Lehre in seinen Schriften auf die
verschiedenste Art zum Ausdrucke gebracht. Das menschliche Erkennen
kann bis zu dem kommen, was dem Augustinus die Selbsterkenntnis gebracht
hat, bis zur Gewißheit des Göttlichen. Das Wesen dieses Göttlichen und
sein Verhältnis zur Welt liefert ihm dann die menschlichem Eigenerkennen
nicht mehr zugängliche, geoffenbarte Theologie, die als Glaubensinhalt
über alle Erkenntnis erhaben ist.
Man kann
diesen Gesichtspunkt förmlich in seiner Entstehung beobachten in der
Weltanschauung des Johannes Scotus Erigena, der im neunten
Jahrhundert am Hofe Karls des Kahlen lebte, und der auf die natürlichste
Weise von den ersten Zeiten des Christentums zu den Gesichtspunkten
des Thomas von Aquino hinüberleitet. Seine Weltanschauung ist im Sinne
des Neuplatonismus gehalten. Die Lehren des Dionysius des Areopagyten
hat Scotus in seinem Werke über die «Einteilung der Natur»
weiter gebildet. Das war eine Lehre, die von dem über alles Sinnlich-Vergängliche
erhabenen Gott ausgeht und von diesem die Welt ableitet. Der Mensch
ist eingeschlossen in die Verwandlung aller Wesen zu diesem Gotte hin,
der am Ende das erreicht, was er vom Anfange an war. In die durch den
Weltprozeß hindurchgegangene und zuletzt vollendete Gottheit fällt alles
wieder zurück. Aber der Mensch muß, um dahin zu gelangen, den Weg zu
dem Fleisch gewordenen Logos finden. Dieser Gedanke führt bei Erigena
schon zu dem andern: Was in den Schriften enthalten ist, die über diesen
Logos berichten, das führt als Glaubensinhalt zum Heil. Vernunft und
Schriftautorität, Glaube und Erkenntnis stehen nebeneinander.
Eines widerspricht nicht dem andern; aber der Glaube muß bringen, wozu
das Erkennen sich nie bloß durch sich selbst erheben kann.
Was im
Sinne der Mysterien der Menge vorenthalten werden sollte, die Erkenntnis
des Ewigen, das war für diese Vorstellungsart durch die christliche
Gesinnung zum Glaubensinhalte geworden, der seiner Natur nach
sich auf etwas dem bloßen Erkennen Unerreichbares bezog. Der vorchristliche
Myste war der Überzeugung: ihm sei die Erkenntnis des Göttlichen und
dem Volke der bildliche Glaube. Das Christentum wurde der Überzeugung:
Gott hat durch seine Offenbarung die Weisheit dem Menschen geoffenbart;
diesem kommt durch seine Erkenntnis ein Abbild der göttlichen Offenbarung
zu. Die Mysterienweisheit ist eine Treibhauspflanze, die einzelnen,
Reifen geoffenbart wird; die christliche Weisheit ist ein Mysterium,
das als Erkenntnis keinem, als Glaubensinhalt allen geoffenbart wird.
Im Christentum lebte der Mysterien-Gesichtspunkt fort. Aber er lebte
fort in veränderter Form. Nicht der besondere einzelne, sondern alle
sollten der Wahrheit teilhaftig werden. Aber es sollte so geschehen,
daß man von einem gewissen Punkte der Erkenntnis deren Unfähigkeit erkannte
weiter zu gehen und von da aus zum Glauben aufstieg. Das Christentum
holte den Inhalt der Mysterien-Entwicklung aus der Tempeldunkelheit
in das helle Tageslicht hervor. Die eine gekennzeichnete Geistesrichtung
innerhalb des Christentums führte zu der Vorstellung, daß dieser Inhalt
in der Form des Glaubens verbleiben müsse.
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