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FÜNFTER VORTRAG
ANTHROPOSOPHIE UND
SOZIALWISSENSCHAFT
Berlin, 9. März 1922
Meine sehr verehrten
Anwesenden! Noch mehr als bei den übrigen einleitenden Worten, die
ich zu diesen Tagesunternehmungen vorauszusprechen habe, wird es
heute der Fall sein, daß ich mich auf Andeutungen zu beschränken
habe, da ja das Wesentliche, was zu sagen ist, in den folgenden
Vorträgen über Einzelheiten des Wirtschaftslebens gerade für das
heute in Betracht kommende Gebiet wird liegen müssen.
Man kann heute wohl nicht
über Sozialwissenschaft sprechen, wenn man nur von einem
theoretischen Standpunkte ausgeht. Man kann heute — und ich meine
damit die unmittelbare Gegenwart, den gegenwärtigen Augenblick —
über solche Fragen nur sprechen, wenn man im Hintergrunde hat die
trostlose Lage des Wirtschaftslebens in der gegenwärtigen
zivilisierten Welt. In diese trostlose Lage fiel in einer gewissen
Weise auch noch dasjenige hinein, was ich nach der vorläufigen
Beendigung der furchtbaren Weltkriegskatastrophe darzustellen
versuchte in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage».
Ich ging dazumal aus von
jener Beobachtung des sozialwirtschaftlichen Lebens, die sich
eigentlich im gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltentwicklung jedem
aufdrängen sollte. Es ist die, daß das Wirtschaftsleben der
Gegenwart innig verquickt ist mit dem, was sich innerhalb des
ganzen Umfanges der sozialen Frage bewegt. Ja, die meisten Menschen
in der Gegenwart werden wohl kaum empfinden, daß die soziale Frage
getrennt werden könne von der wirtschaftlichen Frage. Und dennoch
ging gerade mein Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» darauf
aus, dadurch Klarheit zu schaffen in bezug auf das hier in Betracht
kommende Gebiet, daß darauf hingewiesen wurde, wie das
Wirtschaftsleben innerhalb des sozialen Organismus seine eigene
selbständige Stellung erhalten müsse, jene selbständige Stellung,
durch welche innerhalb desselben die Tatsachen und Einrichtungen
lediglich nach wirtschaftlichen Grundsätzen, wirtschaftlichen
Gesichtspunkten und Impulsen ihre Gestaltung bekommen. Insofern
enthält eigentlich mein Buch — ich sage es hier m ganz unumwundener
Weise, weil gerade darauf außerordentlich viel ankommt — einen
inneren Widerspruch. Allein, dieses Buch wollte nicht ein
theoretisches Buch der Sozialwissenschaft sein. Dieses Buch wollte
Anregungen geben vor allen Dingen den Lebenspraktikern; dieses Buch
wollte aus dem heraus geschrieben sein, was man in jahrzehntelanger
Beobachtung des europäischen Wirtschaftslebens sich aneignen
konnte. Und indem so dieses Buch anstrebte, durch und durch
realistisch zu sein, unmittelbar eine Anregung für praktisches
Handeln zu sein — und zwar für praktisches Handeln im Augenblick —,
mußte es ja einen Widerspruch enthalten. Dieser Widerspruch ist
nämlich kein anderer als der, der unser ganzes soziales Leben
durchzieht, und der darin besteht, daß dieses soziale Leben im
Laufe der neueren Zeit durcheinander, chaotisch das gebracht hat,
was nur dann lebensfähig ist, wenn es sich aus seinen eigenen
Bedingungen in jedem seiner einzelnen Glieder
entwickelt.
Ich mußte sprechen von
einer Dreigliederung des sozialen Organismus, die dazu führen
würde, daß das Wirtschaftsleben in völlig freier Weise, relativ
abgesondert sich organisiert von dem Rechts- und Staatsleben und
von dem geistigen Leben, daß also dieses Wirtschaftsleben von
denjenigen, die in ihm drinnen stehen, die aus seinen eigenen
Impulsen heraus handeln können, gestaltet wird. Nun aber leben wir
ja zunächst in einer Zeit, in welcher ein solcher Zustand nicht da
ist, in welcher das Wirtschaftsleben absolut drinnen steht in der
übrigen Struktur des sozialen Organismus. Wir leben in einer Zeit,
in welcher der Widerspruch eine Realität ist. Daher konnte eine
Schrift, die aus der Realität heraus geschrieben sein wollte und
für die Realität Anregungen bieten wollte, nur etwas
Widerspruchsvolles wiederum bringen; sie konnte nur darauf
ausgehen, aus dem Widersprechenden heraus zunächst zur Klarheit,
zur Klärung der Verhältnisse aufzurufen.
Ich bin deshalb heute in
einer ganz besonderen Lage, indem ich diese Einleitung spreche,
weil in bezug auf dasjenige, was auf anthroposophischem Boden, mit
anthroposophischen Denkmethoden gefunden worden ist, aber gefunden
worden ist aufgrund durchaus realistischer, jahrzehntelanger
Beobachtung der europäischen Wirtschaftsverhältnisse — weil das
doch in den weitesten Kreisen zunächst in der ärgsten Weise
mißverstanden worden ist. Ich kann nur sagen: Ich begreife
vollständig diese Mißverständnisse, die diesen zugrunde liegenden
Absichten entgegengebracht worden sind; diese Mißverständnisse sind
eben auch ein Zeitphänomen. Allein, ich muß auf der anderen Seite
der Anschauung sein, daß in der Überwindung dieser Mißverständnisse
dasjenige liegt, was wir zunächst auf soziologischem, auf sozialem
Gebiete anzustreben haben, und gerade dazu möchte ich einiges
Orientierende sagen.
Als mein Buch «Die
Kernpunkte der sozialen Frage» zuerst veröffentlicht wurde, fiel es
in eine Zeit mitteleuropäischer Entwicklung, die unmittelbar
gefolgt war der furchtbaren Kriegskatastrophe. Es war eine Zeit,
die dem Versailler Vertrag vorangegangen war; es war eine Zeit, in
welcher die Valutaverhältnisse der mitteleuropäischen und der
osteuropäischen Staaten noch wesentlich andere waren. Nicht aus
irgendeinem Wolkenkuckucksheim heraus waren die Impulse gemeint,
die damals in meinen «Kernpunkten» niedergeschrieben wurden,
sondern sie waren aus der unmittelbaren Weltsituation der damaligen
Zeit heraus so gedacht, daß ich glauben durfte, wenn eine größere
Anzahl von Menschen sich fände, welche auf Grundlage dieser
Anregungen Weiteres suchte, dann würde man — namentlich von
Mitteleuropa aus — einen Impuls auch in die wirtschaftliche
Entwicklung hineinwerfen können, der zu einer Art von Aufstieg
führen könnte in dem ja damals deutlich vernehmbaren und bis heute
andauernden Abfall des Wirtschaftslebens und des sozialen Lebens
überhaupt. Man konnte damals sich sagen, wenn man aus den sehr
komplizierten Verhältnissen der Weltsituation heraus dachte:
Vielleicht bleibt kein Stein stehen, so wie er hineingebaut ist in
das Ideengebäude der «Kernpunkte der sozialen Frage» —; aber diese
Ideen waren überall herausgedacht aus demjenigen, was war. Doch man
könnte sie angreifen, und es wäre vielleicht etwas ganz anderes
herausgekommen, als man zunächst schriftlich fixieren konnte. Denn
nicht darauf kam es an, Ideen in utopistischer Weise hinzustellen,
die ein Bild etwa eines sozialen Zukunftsorganismus entwerfen
wollten; sondern darauf kam es an, Menschen zu finden, welche
verstanden: Hier hegen reale, unmittelbar im Leben vorhandene
Probleme vor; wir müssen uns aus unserer Sachkenntnis heraus mit
diesen Problemen befassen und müssen sehen, ob wir, indem wir uns
mit diesen Problemen befassen, dann immer weiteres und weiteres
Verständnis finden.
Nun ist im Grunde genommen
etwas ganz anderes eingetreten. Es haben sich auf der einen Seite
wohl Theoretiker gefunden, welche über das, was in meinem Buche
steht, allerlei Diskussionen gepflogen haben, welche an das dort
Ausgesprochene allerlei Forderungen geknüpft haben. Es hat auch
Theoretiker gegeben, die in vollständig mißverstehender Art das,
was gesagt war, in utopistischem Sinne umdeuteten und immer wieder
fragten: Wie wird sich dieses, wie wird sich jenes gestalten? — was
man ja eigentlich hätte abwarten müssen. Es hat sich sogar die
merkwürdige Tatsache herausgestellt, die für mich ganz überraschend
war, daß gerade die wirtschaftlichen Praktiker, die in irgendeinem
Gebiete des Wirtschaftslebens mit ihrer Routine ganz gut drinnen
standen, die sich in diesem oder jenem Geschäftszweige auskannten
und es abgelehnt hätten, sich in ihrem Geschäftszweige etwas
hereinreden zu lassen von dem, der nicht gerade in diesem
Geschäftszweig versiert war —, daß diese Praktiker diskutierten
über die Kernpunkte der sozialen Frage und sich durch das, was von
ihnen als Folgerung gezogen wurde, gerade als die abstraktesten
Theoretiker erwiesen. Es zeigte sich, daß man im Wirtschaftsleben
ganz gut ein routinierter Praktiker sein konnte — im alten Sinne;
unter den neuen Verhältnissen kannten sie sich nicht mehr aus —,
daß aber diese Praktiker absolut nicht in der Lage waren, das,
washier angeschlagen war in bezug auf die Probleme auch des
Wirtschaftslebens, anders als gerade von dem Gesichtspunkte der
abstraktesten Theorien aus zu diskutieren; so daß man da gerade in
Verzweiflung kommen konnte, wenn man Praktikern gegenüberstand und
sich mit ihnen eine Diskussion entwickelte, wo sie durchaus nicht
auf etwas Konkretes eingingen, sondern nur das völlig triviale
Allgemeine über die soziale Frage und namentlich über den
wirtschaftlichen Teil der sozialen Frage wiederholten, wenn man
sich mit ihnen irgendwie darüber aussprach.
Das andere, was einem da
entgegentreten konnte, war, daß zunächst ja diejenigen, die nun so
die ganz handfesten Praktiker sind, es überhaupt ablehnten, sich in
solcher Weise über die mögliche Gestaltung der wirtschaftlichen
Probleme zu unterhalten. Das Weitere war, daß ja einiges Interesse
zum Beispiel in sozialistischen Kreisen erweckt werden konnte, daß
man aber gerade dort die Erfahrung machen konnte, daß das, was
gewollt war, am allerwenigsten von dieser Seite verstanden wurde,
und daß alles nur danach beurteilt wurde, ob es sich in die alten
Parteischablonen einfüge oder nicht. Und so verging jene Zeit, aus
der heraus diese Anregungen gedacht waren. Es kam das ganze
furchtbare Valuta-Elend, das aber in einer ganz anderen Weise
eigentlich zu beurteilen ist, als man es heute gewöhnlich
beurteilt.
Als zuerst mein «Aufruf an
das deutsche Volk und an die Kulturwelt» und dann die «Kernpunkte
der sozialen Frage» erschienen waren, da zeigte sich sogleich, wie
einzelne Persönlichkeiten, die es ja in ihrer Art mit einer
Gesundung des mitteleuropäischen Wirtschaftslebens ganz ehrlich
meinten, sagten: Ja, solche Vorschläge — sie nannten das Vorschläge
— sind ja ganz schön, aber es sollte zunächst einmal gesagt werden,
wie wir zu einer Aufbesserung der Valuta kommen. Das wurde in
Zeiten gesagt, als das Valuta-Elend gegenüber den heutigen
Verhältnissen noch das reine Paradies war. Nun zeigt sich in
solchen Forderungen, wie man überall nur an den äußeren Symptomen
herumpfuschen will. Es zeigt sich wenig Verständnis dafür, daß ja
in den Valutaverhältnissen nur die an die Oberfläche schlagenden
ungesunden Wirtschaftsverhältnisse sich symptomatisch anzeigen, daß
man mit einer solchen Symptomenkur überhaupt das Übel gar nicht
anpackt, und daß es sich darum handelt, viel tiefer und tiefer in
die sozialwirtschaftlichen Zustände der Gegenwart hineinzugehen,
wenn man in irgendeiner Weise dazu kommen will, die Probleme
realistisch zu besprechen, für die die Andeutung gegeben werden
sollte in den «Kernpunkten der sozialen Frage». Und so ist es denn
gekommen, daß das, was ich wiederholt am Schlüsse von Vorträgen,
die ich im Anschlüsse an die «Kernpunkte» hielt, damals gerufen
habe: man solle sich besinnen, ehe es zu spät ist —, daß dieses «Zu
spät!» in einem hohen Grade heute eingetreten ist, daß wir gar
nicht mehr in der Lage sind, in dem ursprünglichen Sinne, der die
«Kernpunkte» durchpulst, die Sache anzufassen; denn mittlerweile
ist das Chaos des Wirtschaftslebens so hereingebrochen, daß
wiederum ganz andere Ergänzungen notwendig wären zu dem, was
dazumal nicht bloß ausgesprochen werden sollte, sondern
ausgesprochen werden mußte, meiner Überzeugung nach. Und man wird
wohl doch kaum vorübergehen können an einer Charakteristik unseres
Zeitalters im allgemeinen, wenn man das besprechen will, was heute
auch dem Wirtschaftsleben am allerschädlichsten ist.
Als ich gestern ein
Zeitungsblatt in die Hand nahm, da trat mir — und es können einem
heute ja die wichtigsten Symptome gewissermaßen aus einzelnen
Sätzen, die heute unsere Zeitgenossen aussprechen, überall
entgegentreten —, es trat mir ein Artikel entgegen: «Verschiebung
der Demission des Lloyd George bis nach der Konferenz von Genua».
Damit war wieder einmal die heutige Tagessituation ausgesprochen,
indem alles, was heute den Tag charakterisiert, «wartet». «Wir
wollen warten» — das ist eigentlich heute überall das Prinzip;
warten, bis irgend etwas geschieht, von dem man nicht sagen kann,
was es eigentlich sein wird. Was da geschehen soll, weiß man nicht,
aber man wartet, bis es geschehen ist! Das ist das, was heute den
Leuten tief in den Seelen sitzt, auf allen Gebieten. Und nun möchte
ich etwas scheinbar — aber nur scheinbar — recht Abstraktes
vorbringen; aber auch das ist durchaus in realistischem Sinne
gemeint, denn es weist hin auf die unter uns wirksamen Kräfte,
durch die wir eigentlich im Laufe der Menschheitsentwicklung
allmählich dazu gekommen sind, dieses so aussichtsvolle Prinzip
«wir wollen warten» überall geltend zu machen.
Wenn wir in ältere
Kulturentwicklungen zurückblicken, so finden wir gerade bei diesen
älteren Kulturen, daß ein eigentliches wissenschaftliches Denken,
auch in dem Sinne, wie es in den alten Zeiten vorhanden war — Sie
wissen das ja aus dem Vortrage, den ich hier zuletzt in der
Philharmonie gehalten habe —, nicht rein «wissenschaftlich» zu
nennen ist. Sieht man aber auf das, was an Stelle des heutigen
wissenschaftlichen Denkens stand, so kann man wissen, daß aus jenem
Denken zunächst nicht unmittelbar das wirtschaftliche Leben
hervorgegangen ist. Das wirtschaftliche Leben hat sich zunächst
mehr oder weniger unabhängig von dem menschlichen Gedanken, wie
instinktiv — um nicht zu sagen automatisch — im Wechselverkehr der
Menschheit entwickelt. Was man im wirtschaftlichen Leben hat tun
wollen, hat sich einfach aus der Lebenspraxis heraus entwickelt.
Man hat instinktiv gehandelt, hat ja wohl auch den Bereich des
Handels erweitert über dieses oder jenes Gebiet, aber alles ist
eben mehr oder weniger instinktiv geschehen. Man mag nun das eine
oder andere einwenden vom Gesichtspunkte der heutigen Auffassungen
von Menschenfreiheit, Menschenwürde und so weiter gegen die
wirtschaftlichen Zustände älterer Zeiten; allem, man wird gut tun,
auch auf der anderen Seite zu sehen, wie ganz merkwürdige Symptome
in der Menschheitsentwicklung, die auch heute noch lehrreich sein
können, sich zum Beispiel zeigen in der Art und Weise, wie
Arbeitnehmer und Arbeitgeber — wenn wir diese modernen Ausdrücke
auf alte Zeiten anwenden wollten — im Verhältnis zueinander lebten
im alten Griechentum, im alten Ägyptertum, bis nach Asien hinüber.
Diese Dinge nehmen sich gegenüber den heutigen Empfindungen so aus,
daß sie eben die schärfste Kritik selbstverständlich herausfordern;
allein, jede solche Kritik ist eben unhistorisch, und man muß
sagen: Es waren eben diejenigen Verhältnisse in den entsprechenden
Zeitepochen da, die sich aus dem damaligen Empfinden jener
Menschheit ergaben. Das ist das eine, was man ins Auge fassen
muß.
Das andere ist die
Tatsache, die zusammenhängt mit jenem Umschwung in der
Menschheitsentwicklung, auf den ich schon öfters hindeuten mußte,
der etwa im 15. Jahrhundert liegt, und durch den die
Seelenverfassung der zivilisierten Menschheit eine ganz andere
geworden ist. Ich sagte schon: Die äußere Geschichte weist wenig
darauf hin, wie damals die Gesamtlebensauffassung der menschlichen
Seele eine andere geworden ist. Und wenn wir uns dann fragen: Wie
steht diese menschliche Entwicklung zum Wirtschaftsleben? — dann
bekommen wir die Antwort: Die Zeit der instinktiven Führung des
Wirtschaftslebens, die so war, wie ich sie eben charakterisiert
habe, diese Zeit reichte noch herein bis in die Epoche dieses
Umschwunges. Mit diesem Umschwünge kam dann herauf in die
Seelenverfassung der Menschheit der Intellektualismus, der Drang,
mit reiner Verstandeslogik die Welt zu begreifen. Dieser Drang, der
einfach ein tiefes Bedürfnis der menschlichen Seelenverfassung
wurde, er bewährte sich ja in so glänzender Art gerade auf
naturwissenschaftlichem Gebiete und auf jenem Gebiete, das aus der
Naturwissenschaft in so glänzender Weise sich herausgebildet hat:
auf dem Gebiete der Technik, wo er die außerordentlichsten, nicht
genug anzuerkennenden Triumphe gefeiert hat. Aber dieser
Intellektualismus — und das werden doch verschiedene
Auseinandersetzungen gezeigt haben, die hier auch während dieses
Kursus schon gepflogen worden sind — hat sich völlig unfähig
gezeigt, die Erscheinungen des Menschenlebens und Menschenwesens
selbst, auch in sozialer Beziehung, zu ergreifen. Man kann mit
diesem Intellektualismus, mit dieser intellektualistischen
Orientierung der Seele in grandioser Weise die äußere sinnliche
Natur auf ihre Gesetzmäßigkeiten zurückführen. Man kann aber nicht
mit diesem Intellektualismus diese sich ineinander verschlingenden
und während des Verschlingens sich organisierenden und während des
Organisierens sich seelisch auslebenden und geistig sich
durchdringenden Verhältnisse des sozialen Lebens ergreifen. Ich
möchte sagen: Das Netzwerk intellektualistischer Ideen ist einfach
zu weitmaschig für das, was im sozialen Leben vorliegt. Aber
wissenschaftlich zu denken — das hat die Menschheit gelernt an
diesem Intellektualismus. In ihn ist ja zuletzt alles einbezogen
worden, bis in die Theologie hinein. Der Intellektualismus
beherrscht, wenn wir auch beobachten und experimentieren, doch
unsere ganze wissenschaftliche Denkweise, und wir haben es zuletzt
dahin gebracht, das, was nicht in die Bahnen des Intellektualismus
hineingebracht wird, einfach als nicht wissenschaftlich
anzusehen.
In diese Zeit des
Intellektualismus fiel nun hinein der Übergang von dem rein
instinktiven zu demjenigen Wirtschaftsleben, das angefacht werden
soll mit menschlichen Gedanken. Wir dürfen sagen: In der Zeit, wo
man noch nicht intellektualistisch über die Welt gedacht hat, wurde
das Wirtschaftsleben instinktiv geführt. Als aber die Zeit
heraufkam, die immer mehr und mehr nach Weltwirtschaft und
Weltverkehr hintendierte, wurde der Mensch aus dieser Tendenz nach
Weltverkehr und Weltwirtschaft dazu angehalten, auch das
Wirtschaftsleben nun mit Gedanken zu durchdringen. Diese Gedanken
aber wurden allein aus dem Intellektualismus heraus genommen.
Dadurch zeigte sich in allem, was als wirtschaftswissenschaftliche
Gedanken heraufgezogen ist — im Merkantilismus, im Physiokratismus,
in den nationalökonomischen Ideen eines Adam Smith, wie in allem,
was dann später hervorgetreten ist bis zu Karl Marx —, daß auf der
einen Seite das Wirtschaftsleben forderte, daß nicht mehr bloß
instinktiv gewirtschaftet würde, sondern daß es mit Gedanken erfaßt
werde, daß aber auf der anderen Seite, da die Gedanken nur
hergenommen werden konnten aus dem Intellektualismus, damit alle
wirtschaftlichen Anschauungen durch und durch einseitig wurden, so
daß aus diesen wirtschaftlichen Anschauungen niemals eigentlich
etwas hervorging, was man fortwirken gesehen hätte in der
wirtschaftlichen Praxis. Auf der einen Seite waren die
Wirtschaftstheoretiker, die aus intellektualistischen Sätzen Axiome
bildeten — wie zum Beispiel Ricardo, Adam Smith oder John Stuart
Mill —, und die auf solchen Axiomen Systeme aufbauten, womit sie
eine ganz in sich verlaufende Geistesart bildeten; auf der anderen
Seite war die wirtschaftliche Praxis, die eigentlich einer
Durchdringung mit dem Geist bedurft hätte, die diese Durchdringung
geradezu forderte, aber keinen Anschluß fand, die im alten
Instinktleben fortwirkte und daher in das vollständige Chaos
verfiel.
So waren diese zwei
Strömungen in der neueren Zeit immer mehr gang und gäbe geworden:
auf der einen Seite die Wirtschaftstheoretiker — ohne Einfluß auf
die wirtschaftliche Praxis; auf der anderen Seite die Praktiker,
welche die alte, zur Routine gewordene Praxis fortsetzten, und
damit das Wirtschaftsleben der zivilisierten Welt in das Chaos
hineinwarfen. — Man muß selbstverständlich solche Dinge in einer
etwas radikalen Weise aussprechen, denn nur dadurch wird wirklich
auf das hingedeutet, was ist, was wirksam ist und was als Problem
aufgefaßt werden muß.
Wenn man nun, ich möchte
sagen, eine Art Verbindung, eine Art Synthese zwischen
wirtschaftlichem Denken — das aber von der Praxis allmählich ganz
ausgerottet worden ist — und dieser wirtschaftlichen Praxis sucht,
so findet man diese Verbindung höchstens in einem. In der neuesten
Zeit bildete sich nämlich heraus eine Art von wirtschaftlichem
Realismus, eine Art wirtschaftlich-wissenschaftlicher Realismus,
der da sagt, man könne überhaupt nicht so allgemein zu Gesetzen des
Wirtschaftslebens kommen, sondern man müsse die Tatsachen der
Wirtschaft betrachten, wie sie sich bei einzelnen Nationen oder
Menschengruppen abspielen, und nur wenn man in dieser Weise rein
äußerlich betrachtet, was geschehen ist, könne man einige
Richtlinien für das wirtschaftliche Handeln finden. Was aus diesen
Untergründen heraus entstanden ist, das ist das, was dann als die
sogenannte sozialpolitische, als die wirtschaftliche Gesetzgebung
aufgetreten ist. Das heißt, man hat allmählich geglaubt,
herausgefunden zu haben, daß man zwar durch die Betrachtung der
tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse im Zusammenhange mit
den sie durchsetzenden sozialen Verhältnissen gewisse Richtlinien
bekommen könne, die man dann in der wirtschaftlichen Gesetzgebung
zum Ausdruck brachte; man hat also auf dem Umwege durch den Staat
versucht, einiges von dem zu verwirklichen, was aus den
Beobachtungen hervorgegangen ist, aber dadurch hat man in
Wirklichkeit selbst zugegeben, daß aus diesen Beobachtungen
wirkliche wissenschaftliche Wirtschaftsgesetze gar nicht
hervorgehen können. Ja, in dieser Situation steht man eigentlich im
Grunde genommen heute noch drinnen. Und gerade, wenn man in der
Lage ist, einschneidende Erfahrungen zu machen und, ich möchte
sagen, soziale Urphänomene in der richtigen Weise zu werten, dann
sieht man, wie man in dieser Situation drinnen steht.
Sie wissen ja alle, daß in
das in ein so furchtbares Chaos hineingehende Zivilisationsleben in
einem gewissen Zeitpunkte die sogenannten «Vierzehn Punkte» Woodrow
Wilsons fielen. Was waren diese Vierzehn Punkte denn eigentlich?
Sie waren im Grunde genommen nichts anderes als die abstrakten
Prinzipien eines weltfremden Mannes, die abstrakten Prinzipien
eines Menschen, der von der Wirklichkeit wenig wußte, wie sich dann
in Versailles, wo er in der Wirklichkeit eine hervorragende Rolle
hätte spielen können, gezeigt hat. Ein wirklichkeitsfremder Mann
wollte aus dem Intellektualismus heraus der Welt zeigen, wie sie
sich organisieren sollte. Man muß nur erlebt haben, mit welcher
Begeisterung die zivilisierte Menschheit an diesen Vierzehn Punkten
hing, allerdings mit Ausnahme eines großen Teiles der
mitteleuropäischen Bevölkerung, für die es aber leider auch einen,
wenn auch kurzen Zeitraum gab, in dem sie auf diese Vierzehn Punkte
hereinfiel.
Im Jahre 1917 versuchte
ich demgegenüber, einzelnen Persönlichkeiten Mitteleuropas, die
sich dafür interessierten, denen aber nicht nachgelaufen wurde,
sondern die entweder herankamen oder herangebracht wurden, zu
zeigen, wie abstrakt, wie wirklichkeitsfremd dasjenige ist, was da
in die soziale Gestaltung der Welt herein will, wie sozusagen alles
das, was an schlechten Erziehungsgrundsätzen m der modernen
Zivilisation waltet, kondensiert in diesem Weltschulmeister Woodrow
Wilson sich darstellte, und wie die abstrakten Grundsätze dieser —
im schlechten Sinne — Weltschulmeisterei von den Leuten mit
Begeisterung aufgenommen wurden. Dazumal versuchte ich zu zeigen,
daß eine Gesundung dieser Verhältnisse nur eintreten könne, wenn
man gegenüber allen solchen abstrakten Einstellungen sich auf den
Boden stellt, der die Gedanken nicht ausschließt, der aber gerade
die Gedanken so hervorbringt, daß sie aus der Wirklichkeit, aus der
Realität herauswachsen. Dann darf man sich aber nicht irgend etwas
Utopistisches ausdenken — ich möchte sagen, die Woodrow Wilsonschen
Grundsätze waren der verdichtetest Utopismus, waren der Utopismus
in der dritten Potenz schon —, sondern dann muß man sich klar sein,
daß man aus den realen Bedingungen der gegenwärtigen Menschheit
selbst suchen muß, wie Impulse zu finden sind. Daher verzichtete
ich bei dem, was ich auseinanderzusetzen hatte, auf jede
utopistische Theorie, verzichtete darauf, überhaupt zu sagen, wie
sich etwa Kapital, wie sich Arbeit und dergleichen gestalten
sollten; ich gab höchstens einige Beispiele dafür, wie man sich
denken könne, daß sie sich aus den gegenwärtigen Verhältnissen
heraus in eine nächste Zukunft hinein gestalten könnten. Das aber
war alles nur zur Illustration dessen gesagt, was sie werden
sollten; denn ebenso gut wie ich da über die Wandlung der
Kapitalkräfte in meinen «Kernpunkten» gesprochen habe, ebenso gut
könnte diese Wandlung auch in einer modifizierten Weise sich
vollziehen. Nicht darauf kam es mir an, ein abstraktes Zukunftsbild
hinzustellen, sondern zu sagen, aus welchen Untergründen heraus,
auf reale Art, man nun — nicht zu einer theoretisch ausgedachten,
sondern zu einer wirklichen Lösung der sogenannten sozialen Frage
kommen könnte. Es handelte sich nicht darum, zu sagen: Dies oder
jenes ist die Lösung der sozialen Frage. Um eine solche Lösung zu
versuchen, dazu habe ich nun wirklich zu viele Erfahrungen gemacht.
Ich war schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in dem
gemütlichen Wien fast jeden Nachmittag nach zwei Uhr eine Stunde
zusammen mit allen möglichen gescheiten Leuten. Da ist im Verlaufe
einer Stunde die soziale Frage jeden Nachmittag mehrmals gelöst
worden! Und derjenige, der unbefangen genug in die Verhältnisse der
Gegenwart hineinsieht, weiß schon ganz gut, daß Lösungen, die heute
oftmals in dicken Büchern auftreten, auch nicht viel mehr wert
sind, als die, welche damals in Wien mit einigen Bleistiftstrichen
und vielen fanatischen Worten über einer weißen Tischplatte
verhandelt worden sind. Darum konnte es sich also nicht handeln,
und das war das ärgste Mißverständnis, das mir entgegengebracht
wurde, daß es sich um so etwas handeln sollte.
Was ich zeigen wollte,
war: Die Lösung des sozialen Problems kann nur auf reale Weise
selbst erfolgen; diese Lösung kann überhaupt nicht durch
Diskussionen, sondern nur durch Geschehen, durch Tätigkeit
erfolgen. Zu dieser Tätigkeit müssen aber erst die Bedingungen
hingestellt werden, und auf diese Bedingungen versuchte ich in
meinen «Kernpunkten» und in anderen Auseinandersetzungen zu
verweisen. Ich versuchte zu zeigen, daß wir in unserem sozialen
Organismus einmal solche Einrichtungen brauchen, die es
ermöglichen, daß ein Geistesleben aus seinen eigenen Bedingungen
heraus sich entwickeln kann, wo also nur die Bedingungen des
Geisteslebens selbst wirken; daß wir sodann ein zweites Glied
brauchen, wo nur die rechtlich-staatlichen Impulse wirken, und
außerdem ein drittes Glied, wo nur diejenigen Impulse wirken, die
aus der Warenproduktion und der Warenkonsumtion hervorgehen, und
die zuletzt, wenn sie sich aus einem assoziativen Wirtschaftssystem
entwickeln, gipfeln müssen in einer gesunden Preisbildung. Damit
sollten nicht etwa die alten Stände wieder ins Dasein zurückgerufen
werden. Nicht die Menschen sollten sich gliedern in einen
Lehrstand, einen Wehrstand und einen Nährstand; sondern der Mensch
der neueren Zeit ist bis zur Individualität vorgeschritten, und er
wird nicht in abstrakter Weise eingegliedert sein in einen
bestimmten Stand. Aber was draußen als Einrichtungen vorhanden ist,
das tendiert einfach aus den Kräften, die im geschichtlichen Werden
vorhanden sind, dazu, daß abgesondert aus den eigenen Bedingungen
heraus verhandelt wird, etwas getan wird für das Geistesleben, für
das Rechts- oder Staatsleben und für das Wirtschaftsleben. Dann
erst, wenn die Bedingungen dazu geschaffen sind, daß zum Beispiel
der Wirtschafter rein aus wirtschaftlichen Impulsen heraus das
gestalten kann, was etwa die gegenwärtigen Marktverhältnisse
modifizieren soll, oder was die gegenwärtigen Kapitalverhältnisse
modifizieren soll, erst wenn solche Möglichkeiten geschaffen sind,
entwickelt sich unter den Menschen dasjenige, was eine reale Lösung
— die aber in fortwährendem Werden ist — der sozialen Frage genannt
werden kann.
Also es geht mir nicht
darum, die soziale Frage zu lösen, weil ich der Meinung sein mußte,
daß überhaupt diese Lösung nie in einem einzelnen Moment als etwas
Abgeschlossenes gegeben werden kann, weil das soziale Problem,
nachdem es einmal heraufgekommen ist, in fortwährendem Fluß ist.
Der soziale Organismus ist etwas, was jung wird, altert, und dem
immer neue Impulse eingeflößt werden müssen, von dem aber nie
gesagt werden kann: so und so ist seine Gestalt. Wenn der soziale
Organismus nicht so ist, daß die Menschen in einem, alle Interessen
zusammenmischenden Parlament zusammensitzen, wo dann wirtschaftlich
Interessierte über Fragen des Geisteslebens, staatliche Interessen
über wirtschaftliche Fragen und so weiter entscheiden, sondern wenn
in einem gesunden sozialen Organismus die einzelnen Gebiete aus
ihren eigenen Bedingungen heraus betrachtet werden, dann wird
einmal das Staatsleben auf eine reale demokratische Grundlage
gestellt werden können; dann wird das, was zu sagen ist, nicht von
einem Menschen in einem solchen einzigen Parlament gesagt werden,
sondern es wird hervorgehen aus den fortdauernden kontinuierlichen
Verhandlungen unter den einzelnen Gliedern des sozialen
Organismus.
In diesem Sinne war also
mein Buch eine Mahnung dazu, endlich aufzuhören mit dem
unfruchtbaren Reden über die soziale Frage und sich auf einen Boden
zu stellen, von dem aus man jeden Tag die Lösung der sozialen
Probleme in die Hand nehmen kann. Es war ein Ruf, der an die
Verstehenden ging, um wirklich das, was immer nur im Abstrakten
gedacht war, überzuführen in das durchdachte Handeln. Dazu sollten
zum Beispiel im wirtschaftlichen Leben die Assoziationen dienen.
Solche Assoziationen sind grundverschieden von dem, was in der
neueren Zeit an Vergesellschaftenden zustande gekommen ist, und
können jeden Tag aus den wirtschaftlichen Untergründen gebildet
werden. Bei ihnen handelt es sich darum, daß nun wirklich
diejenigen Menschen, die im Behandeln von Warenproduktion, von
Warenzirkulation und im Konsumieren von Waren verbunden sind — was
jeder Mensch ist —, sich zu Assoziationen zusammenschließen, so daß
daraus vor allem die gesunde Preisbildung hervorgeht. Es ist ein
langer Weg von dem, was aus Sach- und Fachkenntnis heraus die in
den Assoziationen verbundenen Menschen werden zu leisten haben, bis
zu dem, was nicht durch eine Gesetzgebung, auch nicht als Resultat
von Diskussionen, sondern als Resultat der Erfahrung sich ergibt
als die gesunde Preisbildung. Doch vor allem hatten Menschen das
Bedürfnis, die Grundzüge dessen, was damals gewollt wurde und was
ich jetzt m diesen einleitenden Worten vor Sie hinzustellen
versuchte, zu diskutieren; denn die Welt war so eingeschult in
abstraktes Denken, daß man auch diese Anregung nur vom
Gesichtspunkte des abstrakten Denkens nahm, und daß man sich mit
dem, was ich nur als Illustration gegeben habe, vor allem so hilft,
daß man stundenlang diskutiert, während es sich darum handeln
sollte, wirklich einzusehen, wie jeden Tag die Gliederung des
sozialen Organismus in Angriff genommen werden kann in der Weise,
wie es in den «Kernpunkten» angedeutet ist.
So handelt es sich heute
nicht darum, theoretische Lösungen der sozialen Frage zu suchen,
sondern die Bedingungen aufzusuchen, unter denen die Menschen
sozial leben werden. Und sie werden sozial leben, wenn der soziale
Organismus nach seinen drei Gliedern hinarbeitet, wie ja der
natürliche Organismus auch unter dem Einfluß seiner relativen
Dreigliederung gerade zur Einheit hin arbeitet.
Sehen Sie, man muß heute
erst einmal sagen, wie solche Dinge gemeint sind. Und wenn man sie
ausspricht, wird immer noch gefordert, daß nun die Worte, deren man
sich schon einmal bedienen muß, so genommen werden sollen, wie man
sie nimmt nach der intellektualistischen Bedeutung, die man ihnen
heute beilegt. Man übersetzt sofort in seinen Intellektualismus
das, was ganz ausdrücklich nicht in Intellektualismus eingetaucht
ist. Daher ist über Kapital, über die Naturgrundlagen der
Produktion, über die Arbeit in meinem Buche so gesprochen, daß die
Ideen einfach für das Leben gedacht sind. Wenn wir abstrakt
verhandeln, können wir lange definieren, und das ist ja auch
geschehen. Der eine sagt mit demselben Recht: Kapital ist
kristallisierte Arbeit, ist Arbeit, die aufgespeichert ist —, wie
der andere mit demselben Recht sagt: Kapital ist ersparte Arbeit.
Und so kann man es mit allen volkswirtschaftlichen Begriffen
machen, wenn man innerhalb des Intellektualismus stehen bleibt.
Aber das alles sind nicht Dinge, mit denen man es nur theoretisch
zu tun haben kann, sondern die man lebendig in ihrer Gestaltung
erfassen muß. Und wer sich wie die Praktiker, die viel auf ihre
Praxis und Routine sich zugutetun, der Abstraktheit in diesen
Dingen befleißigt, der kann folgendes machen, was ich durch einen
Vergleich verdeutlichen will.
Ich sehe den Ernst Müller.
Er ist klein, hat durchaus kindliche Züge und kindliche
Eigenschaften. Ich sehe diesen Ernst Müller nach zwanzig Jahren
wieder und sage: Das ist nicht der Ernst Müller, denn der ist
klein, hat kindliche Eigenschaften und eine ganz andere
Physiognomie. Ja, wenn ich mir damals meinen Begriff von dem Ernst
Müller gebildet habe und ihn nun nach zwanzig Jahren zur Deckung
bringen will mit dem, was mir jetzt als reale Wesenheit
entgegentritt, so mache ich einen furchtbaren Fehler. Doch so wenig
es die Menschen glauben mögen: es ist so, wenn sie heute
wirtschaftlich denken. Sie machen sich Gedanken und Begriffe über
Kapital und Arbeit und so weiter, und sie meinen, diese Begriffe
müßten immer Geltung haben. Aber da braucht man nicht zwanzig Jahre
zu warten, braucht man nur von einem Arbeitgeber zum Ändern zu
gehen, aus einem Lande ins andere und entdeckt dann, daß der
Begriff, den man sich an der einen Stelle gebildet hat, eben an der
anderen Stelle gar nicht mehr gilt, wenn er sich nicht von selbst
umgewandelt hat — wie der Ernst Müller. Man erkennt nicht, was da
ist, wenn man nicht bewegliche Begriffe hat, die voll im Leben
drinnen stehen.
Das ist das, was möglich
machte, daß gerade auf anthroposophischem Boden in unserer heutigen
Zeit der Not auch wirtschaftliche Einrichtungen ihren Ausdruck
finden, weil Anthroposophie es ihrer Natur nach gegenüber dem
beweglichen Geiste mit beweglichen Ideen zu tun haben muß, weil man
an ihr lernen kann, wie man seine Ideen mit Wachstumskraft, mit
innerer Beweglichkeit ausstatten muß und dann mit solchen Ideen —
so wenig es die heutigen Praktiker glauben mögen — auch in die
andersgeartete Wirklichkeit eintauchen kann, die sich abspielt als
soziales Leben von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk durch die
ganze, nunmehr notwendig gewordene und so künstlich beeinträchtigte
Weltwirtschaft hindurch. Und so darf wohl gesagt werden: Nicht eine
Äußerlichkeit ist es, daß gerade auf anthroposophischem Boden auch
der Versuch gemacht wurde, zu — nicht sozialen Ideen, sondern zu
sozialen Impulsen zu kommen. Ich erinnere mich noch an die Zeit, in
der über diese Dinge viel diskutiert worden ist. Ich habe immer
sagen müssen: Ich meine soziale Impulse! — Das hat die Leute
furchtbar geärgert. Denn selbstverständlich hätte ich sagen sollen:
soziale Ideen oder soziale Gedanken; denn die Leute hatten für
solche Dinge nur Gedanken im Kopfe. Daß ich von Impulsen sprach,
ärgerte sie furchtbar; denn sie merkten nicht, daß ich «Impulse»
brauchte aus dem Grunde, weil ich Realitäten meinte und nicht
abstrakte Ideen. Ausdrücken muß man sich selbstverständlich in
abstrakten Ideen.
So muß heute wieder
begriffen werden, daß ein neues Verständnis gesucht werden muß für
das, was man das soziale Problem nennt. Wir leben heute unter
anderen Verhältnissen als im Jahre 1919. Die Zeit ist insbesondere
auf dem Wirtschaftsgebiete außerordentlich schnelllebig. Notwendig
ist es, daß selbst solche Ideen, die schon für die damalige Zeit
beweglich gehalten worden sind, weiter in Fluß gehalten werden, und
daß man bei seinen Beobachtungen auf dem Standpunkte des
Geistesgegenwärtigen steht. Wer die Verhältnisse des
Wirtschaftslebens real ins Auge zu fassen vermag, der weiß, daß sie
sich seit der Abfassung der «Kernpunkte» wesentlich geändert haben,
und daß man nicht wieder bloß so deduzieren kann wie damals. Aber
man wird dort [in den «Kernpunkten»] wenigstens einen Versuch
finden, diese Methode des sozialen Denkens in einer realistischen
Weise zu suchen, gerade vielleicht deshalb, weil dieser Versuch
entsprossen ist einem Boden, wo Realitäten immer gesucht wurden, wo
man nicht in Schwärmerei oder in falsche Mystik hineinfallen will —
weil dieser Versuch erwachsen ist auf dem nach Exaktheit ringenden
Boden der anthroposophischen Weltanschauung.
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