DREIZEHNTER VORTRAG
Ilkley, 17. August 1923
Die
Waldorfschule ist eine Schule für Knaben und Mädchen,
und damit ist zu gleicher Zeit zwei Zielen, wie mir
scheint, gedient. Das eine Ziel ist dieses: aus der gesamten
menschlichen Wesenheit heraus den Unterricht zu gestalten. Hat
man nur Knaben, so muß notwendigerweise nach und
nach der Unterricht einseitig werden. Auf der anderen Seite
aber kann auch durch das Zusammensein der Knaben und
Mädchen das für das soziale Leben notwendige
Verständnis von Mensch zu Mensch erzielt werden.
Ein
solches Verständnis muß ja insbesondere in unserer
Zeit schon aus dem Grunde in der Erziehung berücksichtigt
werden, weil ja die Frau in unserer sozialen Ordnung nunmehr
sich ihre Stellung schon erstrebt hat oder zu erstreben
bemüht ist.
So
rechnet also eigentlich die Pädagogik, von der die
Waldorfschule ausgeht, auch mit den modernen sozialen
Bestrebungen in dieser Beziehung. Dadurch ist manches in
der Waldorfschule in Gemeinsamkeit von Knaben und Mädchen
zu pflegen, woran sonst das eine oder das andere Geschlecht gar
nicht herankommt.
Sie
haben ja gesehen, wir legen einen großen Wert darauf,
daß das Kind nicht nur nach der Seite des Geistes und der
Seele ausgebildet wird, sondern daß es ausgebildet wird
als ganzer Mensch nach Geist, Seele und Körper. Deshalb
pflegen wir auch die körperliche Betätigung, jene
körperliche Betätigung namentlich, durch die der
Mensch richtig verständnisvoll ins Leben
hineingeführt werden kann.
Und
so können Sie bei uns in der Waldorfschule in dem
sogenannten Handarbeitsunterricht Knaben und Mädchen
strickend und häkelnd nebeneinander sitzen sehen. Daß
wir damit nichts Unmenschliches, sondern etwas sehr
Menschliches treffen, das können Sie dadurch
wahrnehmen, daß tatsächlich mit einer gewissen
Begeisterung bei uns die Knaben Strümpfe stricken und auch
Strümpfe stopfen lernen. Sie tun das, ohne zu glauben,
daß ihre männliche Würde dabei in irgendeiner
Weise einen Abbruch erleidet.
Nicht so sehr, um diese verschiedenen Künste den Knaben
beizubringen, lassen wir sie pflegen, sondern vor allen
Dingen darum, daß nach allen Richtungen hin
Verständnis entstehe. Denn das ist ja einer der
Hauptschäden unserer gegenwärtigen sozialen
Zustände, daß der eine Mensch so wenig versteht, was
der andere tut. Wir müssen tatsächlich dazu
kommen, nicht als abgesonderte einzelne Menschen oder Gruppen
dazustehen, sondern mit vollem Verständnis der eine dem
anderen gegenüberzustehen. Und was die Hauptsache ist,
eine Pflege solcher Handarbeiten macht den Menschen nach den
verschiedensten Richtungen geschickt.
Es
sieht ja vielleicht etwas paradox aus, aber dennoch bin ich der
Überzeugung, daß niemand ein ordentlicher Philosoph
sein kann, der nicht in der Lage ist, wenn es nötig wird,
sich auch seine Strümpfe zu stopfen oder seine Kleider
auszubessern. Wie soll man denn über die größten
Weltgeheimnisse irgend etwas auf vernünftige Art wissen,
wenn man nicht im Grunde genommen im Notfalle sich sogar seine
Fußbekleidungen machen kann. Man kann ja wahrhaftig nicht
mit innigem menschlichem Anteil in die Weltgeheimnisse
eindringen wollen, wenn man für das Nächste
überhaupt nicht die geringste Geschicklichkeit
hat!
Ich
weiß, daß das paradox aussieht, aber ich glaube eben,
daß sogar ein wenig Verständnis bei einem Philosophen
vorhanden sein müsse, wie man Stiefel macht und
dergleichen, weil sonst der Philosoph ein Abstraktling
wird.
Nun, das sind extreme Fälle, aber ich will durch die
extremen Fälle darauf hinweisen, wie das Hinaufsteigen in
die höchste Geistigkeit auf der einen Seite, und auch das
Hinuntersteigen zu körperlicher Behandlung,
körperlicher Pflege, in unserem pädagogischen Prinzip
vorhanden sein muß.
Dadurch sind wir aber auch in der Lage, die Kinder von diesem
Handarbeitsunterricht zu einem verständnisvollen Treiben
eines wirklichen Handfertigkeitsunterrichts zu
führen. Im entsprechenden Lebensalter, und zwar
ziemlich frühe, führen wir die Kinder dazu, sich
Spielsachen zu machen — wie Sie ja hier gesehen haben in
der Ausstellung, die wir von den Kinderhandarbeiten
machten —, sich Spielsachen selber aus Holz
herauszuschneiden und dadurch das Spiel mit dem
Künstlerischen zu verbinden.
Es
ist tatsächlich ganz demjenigen entsprechend, was aus der
menschlichen Natur heraus gefordert wird, wenn man das
Spiel allmählich überführt in
künstlerisches Gestalten, und dann auch in jenes
praktische Gestalten, von dem ich ja schon gesprochen
habe. Und es ist außerordentlich interessant, wie eine
gewisse Plastik, plastisch-künstlerische
Schöpfertätigkeit sich bei den Kindern wie von selbst
hinzufindet bei der Zubereitung von Spielsachen.
Und
so können wir dann auch das Künstlerische wiederum in
das Kunstgewerbliche überführen, so daß die
Kinder lernen einfache Werkzeuge machen, einfache
Hausgeräte machen, aber auch Sägen, Messer, andere
Werkzeuge in der richtigen Art zu Tischler-, zu
Schreinerarbeiten zu verwenden. Und mit einer
außerordentlichen Begeisterung stehen die Kinder,
Knaben und Mädchen, in unserer Werkstätte, fügen
mit Begeisterung dem anderen Unterricht dieses Arbeiten mit
Messer und Säge und den anderen Instrumenten ein und sind
froh, wenn sie dabei Dinge fertig bekommen, welche dann den
Charakter des für das Leben Nützlichen und
Brauchbaren haben. Auf diese Weise regt man alle Instinkte
für das Leben an. Wir sehen dabei, wie auf der einen Seite
der Sinn für das Praktische, auf der anderen Seite der
Sinn für die Kunst tatsächlich ausgebildet wird.
Ich
habe bei der Auseinandersetzung über die einzelnen
ausgestellten Dinge ja schon erwähnt, daß es
außerordentlich interessant ist, wie die Kinder, nachdem
sie dies oder jenes über den menschlichen Organismus
gelernt haben — die plastische Formung des
Knochensystems, die Formung des Muskelsystems —, in
dieser künstlerischen Art also in den Bau und in die
Tätigkeit des menschlichen Körpers eingeführt
worden sind, wie dann die Kinder, die bei uns eigentlich gerade
im Praktischen außerordentlich frei arbeiten und ihrer
eigenen Erfindung sich hingeben dürfen, dasjenige, was
ihnen da als Gestaltung dieses oder jenes Gliedes am Menschen
eingegangen ist, in ihren plastischen Formen wiederum zum
Ausdrucke bringen, nicht in sklavischer Nachahmung,
sondern im freien Schaffen. Man sieht die merkwürdigsten
Formen aus der Seele des Kindes selbst heraus entstehen, je
nachdem das Kind über den Menschen oder über die
Tiere dies oder jenes, ich möchte sagen, von dem
real-künstlerischen Sinne der Natur abzulesen gelernt
hat.
Auf
diese Weise aber bekommt man bei dem Kinde zustande, daß
es immer auch das, was es weiß, als ganzer Mensch
weiß. Denken Sie doch nur, daß unsere Zivilisation
die Menschen so zubereitet, daß sie eigentlich alles mit
dem Kopfe wissen. Da ruhen die Ideen im Kopfe wie auf einem
Ruhebette. Sie schlafen, diese Ideen, denn sie
«bedeuten» nur etwas; die eine Idee bedeutet
dies, die andere bedeutet jenes. Wir tragen die Ideen so wie in
Schächtelchen aufgespeichert in uns, und im übrigen
ist der Mensch an seinen Ideen gar nicht beteiligt.
Die
Kinder in der Waldorfschule, die haben nicht nur eine Idee,
sondern sie fühlen jederzeit diese Idee. Diese Idee geht
über in ihr ganzes Fühlen. Ihre Seele lebt im Sinne
dieser Idee. Die Idee ist nicht ein Begriff, die Idee ist eine
plastische Form. Der Ideenzusammenhang wird zuletzt menschliche
Gestalt. Und dann geht das alles zuletzt über in den
Willen. Das Kind lernt eigentlich alles dasjenige auch machen,
was es denken lernt. So daß die Gedanken nicht auf der
einen Seite des Menschen sitzen, und der Wille bleibt auf der
anderen Seite und ist bloß instinktiv genährt, und
der Mensch ist eigentlich so eine Art Wespe! Es gibt ja solche
Wespen, die haben einen Kopf und dann einen langen Stachel, und
rückwärts sitzt der übrige Leib daran. Diese
Wespe ist eigentlich das äußere Symbolum für das
Seelisch-Geistige des gegenwärtigen Menschen, zwar nicht
in bezug auf das Körperliche, aber in bezug auf das
Seelisch-Geistige: auf der einen Seite der Kopf, dann ein
langer Stachel, und dann ist erst das andere, das
Willensgemäße daran. So daß man, geistig
angesehen, die Menschen heute eigentlich merkwürdig sieht:
der Kopf, der baumelt eigentlich so da oben herum und weiß
mit seinen Ideen nichts anzufangen.
Das
ist es, was eben gerade überwunden werden kann, wenn das
Kind angeleitet wird, jederzeit fühlend und wollend zu
wissen. Die zeitgenössische Pädagogik hat ja
natürlich längst bemerkt, daß die
Erziehung einseitig intellektuell geworden ist, daß
der Kopf da oben herumbaumelt, und da fängt sie dann an,
nun wiederum auf der anderen Seite auch das Können
auszubilden, und man verlangt heute schon neben den
Wissensschulen Könnenschulen. Aber dadurch bringt man die
beiden Dinge nicht zusammen. Man bringt die beiden Dinge nur
zusammen, wenn das Wissen von selber in das Können
übergeht, und das Können zu gleicher Zeit so
getrieben wird, daß es überall vom Denken, vom
seelischen Erfassen, vom geistigen Miterleben durchzogen
ist.
Dadurch sind wir in der Lage, von dieser Erziehungsgrundlage
die richtige Brücke wiederum herüberzuschlagen zu der
moralisch-religiösen Erziehung. Ich habe ja von der
moralisch-religiösen Erziehung bereits gesprochen. Ich
will heute nur das hinzufügen, daß alles darauf
ankommt, daß wir die sämtlichen
Unterrichtsgegenstände und die sämtlichen
gymnastischen Übungen so treiben, daß das Kind
überall fühlt: das Körperliche ist die
Offenbarung eines Geistigen, und das Geistige will überall
schöpferisch in das Körperliche übergehen; so
daß es sozusagen nirgends getrennt fühlt Geist
und Körper.
Wenn das der Fall ist, dann sitzt in der richtigen Weise im
Fühlen des Kindes das Moralische und Religiöse. Und
darauf ist eben das Hauptaugenmerk zu richten, daß wir
nicht durch katechismenartige Gebote zwischen dem Zahnwechsel
und der Geschlechtsreife das Kind moralisch und religiös
machen wollen, sondern es moralisch und religiös
dadurch erziehen, daß wir auf das Gefühl und die
Empfindung wirken durch unsere Autorität und — ich
habe ja das für dieses Lebensalter
auseinandergesetzt — dahin wirken, daß das Kind
lerne, Wollust haben am Gutsein, Abscheu haben vor dem
Bösen, daß das Kind also lernt, das Gute liebhaben
und das Böse nicht liebhaben.
Der
Geschichtsunterricht kann so getrieben werden, daß wir die
geschichtlichen Größen, die geschichtlichen Menschen
und auch die einzelnen Impulse der Zeitalter in solcher
Art hinstellen, daß das Kind lebendige moralische und
religiöse Sympathien und Antipathien entwickelt.
Dann erreichen wir etwas, was außerordentlich wichtig
ist.
Wenn das Kind geschlechtsreif geworden ist, das
fünfzehnte, sechzehnte Jahr erreicht hat, dann
vollzieht sich ja in seinem Inneren jener Umschwung, durch den
es von der Hinneigung zum Autoritativen zu seinem
Freiheitsgefühl kommt und mit dem Freiheitsgefühl zu
seiner Urteilsreife, zu seiner eigenen Einsicht. Da kommt
etwas, was in der allerintensivsten Weise für Erziehung
und Unterricht berücksichtigt werden muß. Wenn wir
bis zur Geschlechtsreife Gefühle erweckt haben
für das Gute und Böse, für das Göttliche
und Nichtgöttliche, dann kommt das Kind nach der
Geschlechtsreife dazu, aus seinem Inneren aufsteigend diese
Gefühle zu haben. Sein Verstand, sein Intellekt, seine
Einsicht, seine Urteilskraft sind nicht beeinflußt,
sondern es kann jetzt frei aus sich heraus urteilen.
Bringen wir dem Kinde von vornherein ein Gebot bei, sagen wir
ihm: Du sollst dies tun, das andere lassen dann nimmt es dieses
Gebot mit ins spätere Alter, und man hat es dann
fortwährend zu tun mit dem Urteil: Man darf dies tun, man
darf jenes nicht tun. — Es entwickelt sich alles
nach dem Konventionellen. Aber der Mensch soll heute nicht mehr
im Konventionellen in der Erziehung drinnenstehen, sondern auch
über das Moralische, über das Religiöse sein
eigenes Urteil haben. Das entwickelt sich auf
naturgemäße Weise, wenn wir es nicht zu früh
engagieren.
Wir
entlassen den Menschen mit dem vierzehnten, fünfzehnten
Jahre ins Leben hinaus. Wir stellen ihn dann uns gleich. Er
blickt dann zurück auf unsere Autorität, behält
uns lieb, wenn wir rechte Lehrer, Erzieher waren; aber er geht
zu seinem eigenen Urteil über. Das haben wir nicht
gefangen genommen, wenn wir bloß auf das Gefühl
gewirkt haben. Und so geben wir dann das Seelisch-Geistige mit
dem vierzehnten, fünfzehnten Jahre frei, rechnen
damit auch in den sogenannten höheren Klassen,
rechnen von da ab mit den Schülern und
Schülerinnen so, daß wir an ihre eigene
Urteilskraft und Einsicht appellieren. Dieses Entlassen
in Freiheit in das Leben, das kann man niemals erreichen,
wenn man dogmatisch, gebotsmäßig Moralisches und
Religiöses beibringen will, sondern wenn man im
entsprechenden Alter zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife
bloß auf Gefühl und Empfindung wirkt. Das ist
das einzige, daß man den Menschen so in die Welt stellt,
daß er dann auf seine Urteilskraft vertrauen kann.
Und
dann erreicht man, daß der Mensch wirklich, weil er so im
ganz menschlichen Sinne erzogen worden ist, sich auch als
ganzer Mensch fühlen und empfinden lernt. Er kann sich
nicht als ganzer Mensch empfinden, wenn er das Unglück
hat, daß ihm ein Bein oder ein Arm fehlt; da betrachtet er
sich als einen verstümmelten Menschen. Die Kinder, die so
erzogen werden, wie es geschildert worden ist, die fangen mit
dem vierzehnten, fünfzehnten Jahre an, sich als
verstümmelt zu betrachten, wenn sie nicht
durchströmt sind von moralischem Urteil und
religiösem Gefühl. Sie fühlen dann, da fehlt
ihnen etwas als Mensch. Und das ist dasjenige, was wir als
bestes religiös-sittliches Erbgut den Menschen mitgeben
können, wenn wir sie dazu erziehen, daß sie das
Moralische und Religiöse so zu ihrem Menschentum
gehörig betrachten, daß sie sich nicht als
ganzer Mensch fühlen, wenn sie nicht moralisch
durchströmt, religiös durchwärmt sind.
Das
kann man aber nur erreichen, wenn man nicht in einem zu
frühen Alter mit einem Ideeninhalt des Religiösen und
Moralischen kommt, sondern wenn man in dem entsprechenden Alter
eben nur auf Empfindung und Gefühl wirkt. Kommt man mit
dem Ideeninhalt vor dem zwölften, vor dem vierzehnten
Lebensjahre, dann erzieht man Skeptiker, dann erzieht man
solche Menschen, die später, statt der gesunden Einsicht
gegenüber den anerzogenen Dogmen, Skepsis,
zunächst die Skepsis des Gedankens — die macht
noch das allerwenigste dann aber die Skepsis des Gefühles
entwickeln, dadurch wird man ein schlecht fühlender
Mensch. Und zuletzt die Skepsis des Willens, dadurch irrt man
wirklich moralisch ab.
Es
handelt sich also darum, daß wir unsere Kinder nicht zur
Skepsis erziehen dadurch, daß wir zu früh in sie
dogmatisch Ideale, das Moralisch-Religiöse
hineinbringen, sondern daß wir das
Moralisch-Religiöse nur in ihr Gefühl
hineingießen. Dann werden die Kinder im rechten
Lebensalter erweckt zur eigenen freien Religiosität und
Sittlichkeit. Die haben sie dann. Und sie fühlen,
daß diese sie erst zum ganzen Menschen macht.
Und
so ist dieses Hinschauen auf den freien Menschen, auf den
Menschen, der weiß, sich seine Richtung im Leben selber zu
geben, dasjenige, was wir in der Waldorfschule vor allen
Dingen erstreben.
Die
Waldorfschule ist ein in sich geschlossener Organismus, und es
kann manches gerade bei den Prinzipien, die in dieser Schule
herrschend sind, mißverstanden werden, wenn man nicht
darauf sieht, wie die Schule als ein ganzer Organismus gedacht
ist. Man kann zum Beispiel die Meinung haben, man besuche diese
Schule ein, zwei, drei Tage, und man sähe sich an, was
während dieser zwei, drei Tage getrieben wird, und
man habe genug: man habe gesehen, wie in dieser Waldorfschule
unterrichtet wird.
Das
ist nicht der Fall. Man hat dann eigentlich nichts Besonderes
gesehen. Dasjenige, was man da gesehen hat, ist vergleichbar
mit einem Stück, das man aus einem ganzen Bilde
herausgeschnitten hat, und nach welchem man nun das ganze Bild
beurteilen will.
Denken Sie sich, Sie haben ein großes historisches Bild,
schneiden ein Stückchen heraus und zeigen das jemand. Er
wird das ganze Bild nach diesem kleinen Stückchen nicht
beurteilen können; denn gerade dasjenige, um was es sich
bei der Waldorfschule handelt, ist, daß jede einzelne
Tätigkeit hineingestellt wird in den Organismus der ganzen
Schule. So daß man viel mehr von der Waldorfschule
kennenlernt, wenn man eben ihre Prinzipien kennenlernt, ihre
ganze Struktur, das ganze organische Zusammenwirken, sagen wir,
der achten Klasse mit der vierten Klasse, der ersten mit der
zehnten Klasse, als wenn man ein einzelnes herausgeschnittenes
Stückchen kennenlernt. Denn die Schulorganisation ist so
gedacht, daß eben eine jede einzelne Betätigung
in der Zeit an ihrer richtigen Stelle steht und mit dem Ganzen
zusammenstimmt. Und von diesem Gesichtspunkte aus sind auch die
einzelnen Unterrichtsfächer in die Schule
hineingenommen.
Ich
möchte dieses Hineinnehmen der einzelnen
Unterrichtsfächer in die Schule gerade an der Eurythmie
wie in einer episodischen Art jetzt einmal ganz kurz dem
Prinzip nach auseinandersetzen.
Für die Schule und ihre Betätigung sollte eigentlich
nichts erfunden werden. Wenn man irgendwie — wie es zu
stark beim Fröbelschen Kindergarten geschehen ist —
besondere Dinge ausdenkt, die für die Kinder gut sind,
wenn man Dinge besonders für die Kinder zurichtet und nun
sagt: Das gehört zum Erziehen, das muß dem Kinde
beigebracht werden so vertritt man in der Regel ein
falsches Prinzip.
In
die Schule soll nichts hineinerfunden werden, sondern im Grunde
alles aus dem Leben hineingetragen werden. Der Lehrer soll den
freien, unbefangenen Blick ins Leben haben, soll das Leben
verstehen, und soll für dieses Leben, das er versteht, die
Kinder in der Schule unterrichten und erziehen
können. Je mehr der Lehrer mit dem unmittelbaren
Leben zusammenhängt, desto besser wird die Schule versorgt
sein. Engherzige Lehrer, die nichts vom Leben kennen als nur
die Schule, sind daher am allerwenigsten bedeutsam für
dasjenige, was eigentlich den Menschen zum Menschen machen
kann. Und so haben wir die Eurythmie nicht hineingetragen in
die Schule von dem Gedanken aus: man braucht nun gymnastische
Übungen für die Schule, man muß etwas Besonderes
für die Kinder zubereiten — nein, die Eurythmie ist
zunächst überhaupt nicht als Erziehungssache
entstanden, die Eurythmie ist aus gewissen
Schicksalsfügungen um das Jahr 1912 entstanden, aber
zunächst gar nicht als Erziehungsakt, sondern sie ist
entstanden aus künstlerischen Intentionen, als
Kunst. Und man wird immer für die Eurythmie als
Erziehungssache etwas Unvollkommenes denken, wenn man eine
besondere Erziehungseurythmie absondert von der
künstlerischen Eurythmie.
Mir
wäre es daher viel angemessener erschienen, wenn hier bei
der Veranstaltung zuerst die künstlerisch-eurythmischen
Vorstellungen gegeben worden wären und man daran
gesehen hätte, wie Eurythmie als Kunst gedacht ist.
Dadurch, daß sie Kunst ist, steht sie im Leben
darinnen, und dann überträgt man dasjenige, was
im Leben drinnen steht, auf die erzieherischen Formen; so
daß man eigentlich erst die Eurythmie bei Kindern
beurteilen kann, wenn man sich ein Verständnis dafür
erworben hat, was die Eurythmie als Kunst selber einmal sein
wird, aber doch vielleicht schon heute etwas mehr ist, als
manche glauben.
Eurythmie als Kunst ist eben um 1912 herum entstanden,
zunächst auch nur als Kunst getrieben worden, und die
Waldorfschule haben wir 1919 eingerichtet. Und weil wir
gefunden haben, daß die eurythmische Kunst nun auch in der
Kindererziehung Verwendung finden kann, deshalb haben wir die
Eurythmie in der Schule eingeführt.
Aber das ist das Sekundäre. Diesen Zusammenhang, den
sollte man in allen Dingen sehen, wenn man das Verhältnis
der Schule zum Leben ins Auge fassen will. Man sollte ein
Verständnis dafür haben, daß man ja auch nicht
ein besonderes Malen für die Kinder einzurichten habe;
sondern wenn man findet, daß die Kinder ins Malen in
irgendeiner Weise hineinwachsen sollen, dann müssen
die Prinzipien aus der lebendigen Malkunst heraus, nicht aus
einer pädagogisch besonders zurechtgeschusterten Methode
gemacht werden. Es muß das wirklich Künstlerische
dann in die Schule hineingetragen werden, nicht ein
wiederum verstandesmäßig Ausgedachtes. Und
gerade an der Eurythmie ist es möglich, das rein
Künstlerische der Menschheitszivilisation wiederum
einzufügen.
Wie
Eurythmie eine bewegte sichtbare Sprache ist, das ist ja auch
hier schon wiederholt auseinandergesetzt worden und hat ja den
Gegenstand der Einleitungen bei den Aufführungen
gebildet. Ich möchte jetzt nur noch einiges
hinzufügen, das mehr noch hineinführt in die
Beziehung der Eurythmie zum Künstlerischen im
allgemeinen anhand der Figuren.
Diese Figuren sind auf Anregung Miss Maryons entstanden,
aber sind dann durchaus ausgeführt worden nach den
Intentionen, die ich selber nach den Gesetzen der Eurythmie
für absolut richtig halte.
Ich
möchte gerade bei solchen Figuren Ihnen zeigen — Sie
haben hier die Versinnlichung des S-Lautes (die in Holz
ausgeführte und bemalte Figur für den S-Laut wird
gezeigt) wie das Eurythmische als Künstlerisches
eigentlich gedacht ist. Wenn Sie sich eine solche Figur
ansehen, so stellt sie ja einen Menschen dar. Aber derjenige,
der im Sinne der heutigen Zivilisation und Konvention darauf
ausgeht, das zu sehen, was man einen hübschen Menschen
nennt, der sieht da nicht gerade einen hübschen Menschen.
Er sieht überhaupt nicht dasjenige, was ihm dann am
Menschen gefällt, wenn er auf der Straße einem
Menschen begegnet.
Nun, wenn man solche Figuren formt, so hat man vielleicht schon
auch einen Geschmack für einen hübschen Menschen,
aber es ist just nicht die Aufgabe, an der Formung dieser
Figuren den hübschen Menschen zur Ausführung zu
bringen, sondern dasjenige, was in der Eurythmie unmittelbar
zum Ausdruck kommt: menschliche Bewegung. Und so ist hier von
allem abgesehen, was nicht ausmacht die Bewegungsform
selber, das Gefühl, das man an dieser Bewegung haben kann,
und den Grundcharakter, den diese Bewegung zum Ausdruck bringt,
der diese Bewegung durchsetzt.
Wenn Sie singen, dann nehmen Sie dasjenige, was die Seele
bewegt, körperlich ganz in den eigenen Organismus hinein.
Dann verfließt dasjenige, was am Menschen bewegt ist, ganz
innerhalb seiner Haut, und es bleibt die Bewegung ganz
unsichtbar, es geht die Bewegung ganz über in den
hörbaren Ton.
Das
hier ist bewegte Musik. Was die Seele fühlt, löst
sich ganz vom Menschen los, wird Bewegung des Menschen im
Räume, und an der Gestalt, die diese Bewegung bekommt,
drückt sich das Künstlerische aus. Man sieht, was man
sonst hört. Man hat daher nur auf dasjenige zu sehen, was
Bewegung wird. Daher ist hier abstrahiert von allem
übrigen, was der Mensch von Natur hat, einzig und allein
auf dasjenige gesehen, was der Mensch im Eurythmisieren
wird. Und ich habe es insbesondere dadurch ausgedrückt,
daß ich jede Bewegung durch das Ausschneiden im Holze
angedeutet habe; das hat dann eine bestimmte
Grundfarbe.
Sie
finden hier bei den Figuren überall rückwärts
angeschrieben, welche Grundfarbe der Bewegung entspricht, Sie
finden dann angeschrieben, welche Grundfarbe dem
sogenannten Gefühl entspricht. Wenn Sie die
Eurythmisierenden auf der Bühne ihre Schleier beherrschen
sehen, so ist das ja im wesentlichen eine Fortsetzung der
Bewegung. Und das wird sich weiter so ausbilden, daß
im entsprechenden Augenblicke immer ein Wehenlassen des
Schleiers entsteht, ein Zurücknehmen des Schleiers, ein
Abfangen des Schleiers, ein ganzes Gestalten des Schleiers. So
sitzt die durch die Gliedmaßen ausgeführte Bewegung
in dem, was nun in der Schleierbehandlung das Gefühl
ausdrückt. Und wir sehen in dem Umwallen des
Schleiers das Gefühl zum Ausdrucke kommen.
Fühlt der Eurythmisierende an der Bewegung, in die er
seine Arme, seine Beine hineinbringt, das Richtige, dann wird
ganz instinktiv diese gefühlte Bewegung übergehen in
die Schleierbehandlung, und er wird das Gefühl, das
begleiten soll die Bewegung, in der Schleierbehandlung
haben.
Das
dritte ist, daß der Eurythmisierende mit seinem
Gefühl so weit gehen kann, daß er nun wirklich, wenn
er zum Beispiel diese Bewegung macht, I, nach dieser
Richtung mit dem Arme leicht ausgreift, so daß er den Arm
fühlt als ganz leicht in der Luft schwebend, nicht von
innerlicher Kraft durchsetzt. Den anderen Arm fühlt er so,
wie wenn er alle Kraft der Muskeln anfeuern würde und dick
in den Arm hineinstecken würde. Das ist ein Arm, der mit
Leichtigkeit gehoben wird (rechter Arm), das ist ein Arm
(linker Arm), in dem man in seinen Muskeln fortwährend
etwas wie ein leises Stechen fühlt, der gespannt ist.
Dadurch kommt Charakter in die Bewegung hinein. Dieses
Hineinbringen von Charakter in die Bewegung, die
überträgt sich dann auf den Zuschauer. Der Zuschauer
fühlt dann schon mit.
Da
fragen die Leute nun bei diesen Figuren: wo ist hier das
Gesicht und wo der Hinterkopf? Das geht einen in der Eurythmie
gar nichts an. Es kann ja bei der Eurythmie unter
Umständen auch so sein, daß man ein bißchen
entflammt ist für ein hübsches Gesicht, welches da in
der Eurythmie begriffen ist. Aber das gehört nicht zur
Gesinnung der Eurythmie. Dieses Gesicht, das da aussieht, als
ob es von Ihnen nach links wäre, ist eigentlich gerade
nach vorn gerichtet, und diese Farbe ist gerade als
Charakterisierung angebracht, weil der Eurythmisierende sein
rechtes Haupt fühlen soll wie leicht durchwellt von
eurythmischer Kraft, sein linkes Haupt gespannt durchzogen von
innerer Kraft, so daß sich asymmetrisch hier
gewissermaßen sein Haupt aufplustert und er hier
gespannt sich fühlt. Dadurch wird der richtige Charakter
hineingebracht. Hier an diesen Figuren ist gerade das
ausgedrückt, was man im Eurythmisieren sehen soll.
Und das sollte eigentlich in allem Künstlerischen
sein. Man sollte von dem Stofflichen, von dem Inhaltlichen, von
dem Prosaischen absehen können und auf das
Künstlerische, Poetische übergehen können. Ein
schönes Mädchengesicht ist beim Eurythmisieren
wie Prosa. Dasjenige, was sie zustandebringt, daß
sie die rechte Seite des Hauptes leicht von Kraft durchzogen
hat, die linke Seite gespannt hat, das ist dasjenige, was
eigentlich die eurythmische Schönheit gibt. Und so
könnte man sich denken, daß auch ein ganz
häßliches Gesicht eurythmisch außerordentlich
schön würde, und ein ganz schönes Gesicht,
verzeihen Sie, eurythmisch ganz häßlich wirken
könnte.
Also gerade bei diesem Eurythmischen hat man das im
eminentesten Sinne zu sehen, was ja — jeder Künstler
wird mir darin recht geben — für alle Kunst gilt.
Der ist nicht bloß ein großer Künstler, der ein
schönes Mädchengesicht ansprechend malen kann,
sondern der wirkliche Maler muß unter Umständen
auch ein altes, verdorrtes, runzeliges Gesicht so malen,
daß es in der Kunst schön wirken kann. Das muß
aller Kunst zugrunde liegen.
Das
wollte ich noch zu der Eurythmie hinzufügen, die in den
Vorstellungen hier gegeben worden ist. Ich möchte nur noch
sagen, daß die Eurythmie deshalb hineingenommen worden ist
in Unterricht und Erziehung, weil sie zu der äußeren
Gymnastik ein ganz wunderbares Gegenstück abgibt. Nehmen
Sie das, was man in Deutschland Turnen nennt. Die
körperlichen Übungen werden durchaus, wie
erwähnt, in unserer Waldorfschule genügend gepflegt,
aber wenn Sie diese äußere Gymnastik nehmen, so
werden Sie die Formen dieser Gymnastik so ausgebildet sehen,
daß der Mensch gewissermaßen bei jeder Übung,
die er vollführt, den Raum zuerst empfindet, die
Raumrichtung. Und die Raumrichtung ist eigentlich zuerst da.
Der Mensch fühlt also die Raumrichtung und legt nun seinen
Arm in diese Raumrichtung hinein. Es gibt sich also der Mensch
turnend gymnastisch an den Raum hin.
Das
ist die Art und Weise, wie man allein in gesunder Weise
gymnastische Übungen finden kann. Der Raum ist nach
allen Seiten bestimmt. Unsere abstrakte Raumanschauung,
die sieht drei aufeinanderstehende senkrechte Raumrichtungen,
die man gar nicht unterscheiden kann. Die gibt es nur in der
Geometrie. In Wirklichkeit haben wir oben den Kopf, unten die
Beine: das ist oben und unten. Dann haben wir links und rechts.
Wir leben in dieser Richtung drinnen, wenn wir die Arme
ausstrecken. Da handelt es sich gar nicht darum, wo die
absolute Richtung ist: daß wir uns drehen können,
darin liegt alles. Und dann haben wir vorne und hinten. Und
darauf sind alle übrigen Raumrichtungen orientiert. Sie
strecken sich und brechen sich und schieben sich zurück.
Und findet man auf diese Weise den Raum, dann findet man die
gesunde Bewegung für Turnen und Gymnastik. Da gibt sich
der Mensch an den Raum hin.
Wenn er eurythmisiert, dann ist der Charakter der Bewegung aus
dem menschlichen Organismus herausgeholt. Dann ist die Frage
diese: Was erlebt die Seele, wenn sie diese Bewegung macht,
wenn sie jene Bewegung macht? — Dadurch kommen ja die
einzelnen Laute in der Eurythmie gerade zustande. Was kommt
zustande, wenn Sie Ihre Kraft in die Glieder hineingießen?
Während wir durch die äußerlich
gymnastischen Übungen den Menschen in den Raum sich
hineinlegen lassen, lassen wir den Menschen in der
Eurythmie seiner Wesenheit gemäß nach außen die
Bewegung so ausführen, wie sie der Organismus selber
fordert. Das Innere nach außen sich bewegen lassen, das
ist das Wesen des Eurythmischen. Das Äußere vom
Menschen ausfüllen, so daß der Mensch sich verbindet
mit der Außenwelt, das ist das Wesen der Gymnastik.
Will man ganze Menschen erziehen, so kann man gerade dieses
Gymnastische vom anderen Pole ausgehen lassen, von dem, wo die
Bewegung des Menschen ganz aus dem Inneren geholt wird in der
Eurythmie. Aber jedenfalls muß das Eurythmische immer,
wenn es im Unterricht verwendet wird, herausgeholt sein aus dem
künstlerisch Erfaßten der Eurythmie.
Meine Überzeugung ist, daß die besten Gymnastiklehrer
diejenigen sind, die ihre Gymnastik an der Kunst gelernt haben.
Die Griechen haben die Anregungen und Impulse zu ihrer
Schulgymnastik, zu ihren Olympischen Spielen von der Kunst
geholt. Und wenn man die Konsequenzen des Auseinandergesetzten
voll einhält, alles im Schulmäßigen aus
dem Künstlerischen herauszuholen, dann wird man dasjenige,
was ich an dem Beispiel der Eurythmie gezeigt habe, schon auch
für die anderen Zweige des Lebens finden. Man wird nicht
etwas Besonderes für den Unterricht erfinden, sondern das
Leben in die Schule hineintragen wollen. Dann wird das
Leben in der sozialen Ordnung auch wieder aus der Schule
herauswachsen können.
In
dem Organismus, wie ich ihn geschildert habe, den eine Schule
bilden soll, steht jedes einzelne organisch eingegliedert
darin, und alle die verschiedenen Fäden von
Tätigkeiten, welche ausgeübt werden müssen,
damit der ganze Organismus der Waldorfschule lebt, laufen
zusammen in den Lehrerkonferenzen, die möglichst oft
stattfinden. Und bei einer größeren Anzahl solcher
Lehrerkonferenzen im Laufe des Jahres bin ich ja selbst
anwesend.
Diese Lehrerkonferenzen sind nicht nur etwa dazu bestimmt, um
den Schülern Zeugnisse vorzubereiten, um sich über
die Verwaltungsangelegenheiten der Schule zu beraten und
dergleichen, oder über die Strafen, die für die
Schüler angesetzt werden sollen, wenn sie dies oder jenes
verbrochen haben und dergleichen, sondern diese
Schulkonferenzen sind eigentlich die fortlaufende
lebendige Hochschule für das Lehrerkollegium. Sie
sind das fortdauernde Seminar.
Das
sind sie dadurch, daß für den Lehrer wiederum jede
einzelne Erfahrung, die er in der Schule macht, ein Gegenstand
für seinen eigenen Unterricht, für seine eigene
Erziehung wird. Und in der Tat, wer in dieser Weise, indem er
lehrt, indem er erzieht, zu gleicher Zeit auf der einen Seite
tiefste psychologische Einsicht in die unmittelbare Praxis aus
der Handhabung des Unterrichts und der Erziehung, wie
andererseits aus der besonderen Eigentümlichkeit —
den Charakteren, den Temperamenten der Kinder —, wer eine
solche Selbsterziehung, einen solchen Unterricht für sich
selber herausholt aus der Praxis des Unterrichtens, der wird
fortwährend Neues finden. Neues für sich, Neues
für das ganze Lehrerkollegium, mit dem alle die
Erfahrungen, alle die Erkenntnisse, die gewonnen werden in der
Handhabung des Unterrichts, in den Konferenzen ausgetauscht
werden sollen. So daß das Lehrerkollegium wirklich
innerlich geistig-seelisch ein Ganzes ist, daß jeder
weiß, was der andere macht, was der andere für
Erfahrungen gemacht hat, inwiefern der andere
weitergekommen ist durch dasjenige, was er in der Klasse
mit den Kindern erlebt hat.
So
gestaltet sich das Lehrerkollegium wirklich zu einem
Zentralorgan, von dem das ganze Blut der
Unterrichtspraxis ausgehen kann, und der Lehrer hält sich
dadurch frisch und lebendig.
Die
beste Wirkung wird vermutlich sein, daß durch solche
Konferenzen, durch solches Konferenzleben die Lehrer
fortwährend eben in innerer Lebendigkeit verbleiben, nicht
eigentlich in Wirklichkeit seelisch und geistig alt werden;
denn das muß ja der Lehrer gerade erstreben: seelisch und
geistig jung zu bleiben. Das kann aber nur dann geschehen, wenn
ein wirklich geistig-seelisches Lebensblut zu einem
Zentralorgan hinfließt, wie das menschliche Blut zum
Herzen und von da wiederum ausfließt. Das ist konzentriert
als ein geistig-seelisches Kräftesystem in demjenigen, was
gesucht wird in der Waldorfschule als das Leben in den
Lehrerkonferenzen, die allwöchentlich und eben, wie
gesagt, auch von Zeit zu Zeit in meiner Gegenwart abgehalten
werden.
Ich
möchte nur ein Kleines andeuten, das aber bedeutsam ist.
Wir haben, sagte ich, in den Klassen Knaben und Mädchen
durcheinander. Da wir natürlich die Kinder aus dem Leben
hereinbekommen, haben wir solche Klassen, wo die Mädchen
in der Majorität sind, andere Klassen, wo die Knaben in
der Majorität sind, andere, wo sich die Zahl der Knaben
und der Mädchen die Waage hält, und man kann ganz
absehen von dem, was da äußerlich vor sich geht: ein
Rationalist, ein Intellektualist wird kommen und wird solche
Dinge auf rationalistische, intellektualistische Weise
sich erklären; aber das trifft gewöhnlich nicht das,
was das eigentliche Leben ausmacht. Unterrichtet man in einer
Klasse, wo die Mädchen in der Majorität sind, so ist
es darinnen ganz anders als in einer Klasse, wo Mädchen
und Knaben in gleicher Zahl oder die Knaben in der
Majorität sind. Die Klassen bekommen nicht durch
dasjenige, was die Knaben mit den Mädchen sogar vielleicht
auch an allerlei kleinen Nichtsnutzigkeiten treiben, ihr
Gepräge, sondern einfach durch Imponderabilien, durch
Dinge, die sich der äußeren intellektualistischen
Beobachtung ganz entziehen, bekommen die Klassen durch
die Majorität des einen oder anderen Geschlechts ihr
besonderes Gepräge. Und da sind die allerinteressantesten
Erkenntnisse zu gewinnen, wenn man auf diese Weise auch das
ganze unwägbare imponderable Leben der Klasse fortdauernd
studiert. Man stellt sich natürlich nicht als ein Lehrer
in die Klasse hinein, der sich eben hinstellt und dann etwas
zurücktritt und mit verschränkten Armen jetzt seine
Schüler studiert. Wenn der Lehrer mit der nötigen
Lebendigkeit und Hingabe an das Schülerwesen unterrichtet,
dann wird er einfach dadurch, daß er auch durch den Schlaf
in der richtigen Weise das durchgebracht hat, am nächsten
Vormittag mit sehr bedeutsamen Erkenntnissen über
dasjenige, was gestern sich in der Schule zugetragen hat,
aufwachen, aufstehen; das kann er sich dann zum
Bewußtsein bringen in verhältnismäßig
kurzer Zeit, es wird das alles wie selbstverständlich
gehen, was in einer solchen Weise geschehen soll.
Und
ebenso wie nach dem Zentrum hin die Lehrerkonferenz uns ein
Wesentliches ist, so ist uns nach der Peripherie hin dasjenige,
was wir in den Elternabenden haben, etwas außerordentlich
Wichtiges. Wir versuchen wenigstens von Monat zu Monat,
jedenfalls aber von Zeit zu Zeit Elternabende zu veranstalten.
Da versuchen wir, die Eltern zu versammeln, die Kinder in
unserer Schule haben, und die eben kommen können,
und da wird von den Lehrern für die Eltern dasjenige
auseinandergesetzt, was eine Verbindung schaffen kann zwischen
der Schuljugend und den Elternhäusern. Und gerade auf
dieses dem ganzen Schulwesen entgegenkommende
Verständnis von Seiten der Eltern rechnen wir so stark. Da
wir nicht aus Verordnungen, aus Programmen heraus, sondern aus
dem Lebendigen heraus unterrichten und erziehen,
können wir uns auch nicht sagen: du hast deinen Lehrplan,
der dir von dieser oder jener Intelligenz vorgeschrieben ist,
beobachtet, also hast du das Richtige getan. Wir müssen
wiederum lernen, das Richtige zu fühlen im lebendigen
Verkehr mit denjenigen, die als Eltern, als die
Verantwortlichen, uns ihre Kinder in die Schule
hineingebracht haben. Und an diesem Echo, das da an den
Elternabenden den Lehrern wiederum entgegenkommt, belebt sich
auch von der anderen Seite her das, was der Lehrer
braucht, was der Lehrer namentlich dazu braucht, um immer
selber innerlich lebendig zu bleiben.
Ein
Lebewesen lebt nicht allein dadurch, daß es in einer Haut
eingeschlossen ist. Der Mensch ist auch nicht dasjenige,
was da in dem Rauminhalte steckt, der in die Haut
eingeschlossen ist. Wir tragen in jedem Augenblicke eine
bestimmte Luftmenge in uns; die war vorher draußen, sie
gehörte der ganzen Atmosphäre an. Wir werden bald
wiederum die Luft, die wir in uns haben, ausgeatmet haben; sie
wird wiederum in der ganzen Atmosphäre wirken. Ein
Lebewesen gehört der ganzen Welt an und ist nicht denkbar
ohne die ganze Welt, ist nur ein Glied in dem Universum. So ist
es aber auch mit dem Menschen in bezug auf das gesamte Wesen
und Leben überhaupt. Der Mensch ist nicht ein einzelnes
Wesen innerhalb der sozialen Ordnung, sondern er ist ganz
eingeordnet in diese soziale Ordnung. Er kann nicht leben, ohne
daß er mit dem Äußeren der sozialen Ordnung
ebenso in Verbindung steht wie mit Luft und Wasser, wie
dasjenige, was vom physischen menschlichen Wesen in die
Haut eingeschlossen ist. Und um zu erfahren, daß in dieser
Beziehung die Schule außerordentlich Wichtiges in der
Gegenwart zu tun hat, dazu braucht man gar nicht so sehr weit
zu gehen. Ich versuche immer, die Dinge, die charakterisieren
sollen, nicht aus ausgedachten weiten Ideengängen
herzuholen, sondern ich versuche, sie vom allernächsten
Schritt zu nehmen.
Da
ging ich vor ein paar Tagen in das Nebenzimmer im College
hinein und fand da drinnen Berichte von den
Sonntagsschulleitern. Der erste Satz erzählt gleich: Bei
der jährlichen Versammlung der Sonntagsschul-Union hat
einer der Chairmen, der ein sehr bedeutender Mensch ist,
gesagt, daß sich diese Leitungen der Sonntagsschulen
allmählich hinentwickelt hätten zu einer
außerordentlichen Exklusivität, zu einem Absondern
von dem übrigen religiösen Leben, daß man viel
zu wenig wisse von dem übrigen religiösen Leben.
Sehen Sie, ich habe das nur von dem Tisch da drinnen genommen
im Nebenzimmer, und es ist gleich ein lebendiges Symptom
für dasjenige, was wir für die innere Belebung
unserer gegenwärtigen Zivilisation brauchen. Ich
hätte ebensogut an einen anderen Tisch gehen können
und dort etwas wegnehmen oder auf der Straße mir etwas
geben lassen können, man wird überall finden:
dasjenige, was dem Menschen heute nicht anerzogen wird, das ist
die Weite des Horizontes für das Leben, das volle
Verständnis für das Leben. Das ist es, was wir gerade
bei den Waldorfschullehrern haben müssen, was wir dann
übertragen müssen von dem Lehrer eben auf die
Schüler, so daß tatsächlich gerade durch
Erziehung und Unterricht das Leben immer mehr und mehr zu
Weiten der Interessen getrieben wird.
Wie
kapselt sich heute jeder ein! Wie ist das Fachmannsystem
ausgebildet! Man schämt sich, irgend etwas zu
wissen, was nicht gerade in der Einkapselung des Faches ist. Da
muß man zu dem Sachverständigen gehen.
Die
Sache, um die es sich handelt, ist diese, daß die Menschen
weitherzig werden, daß sie mit ihrem Herzen Anteil
nehmen können an der Gesamtzivilisation. Das ist etwas,
was durch die Prinzipien derjenigen Pädagogik, die
hier vertreten wird, hineinzubringen versucht wird zuerst in
die Lehrerschaft — denn zuerst hat es sich bei der
Waldorfschule um die Erziehung der Lehrerschaft gehandelt
— und auf dem Umwege durch die Lehrerschaft in die
Schülerschaft. Und die Schülerschaft, das ist unsere
große Hoffnung, unser Ziel, an das wir bei jeder einzelnen
Maßnahme denken, die Schülerschaft soll es in
rechtmäßiger Weise in das Leben
hinaustragen.
Das, meine sehr verehrten Anwesenden, ist, ich möchte
sagen, die Gesinnung, die derjenigen Pädagogik zugrunde
liegt, von der ich vor Ihnen nun auch hier sprechen durfte.
Diese Erziehung ist einzig und allein darauf gerichtet,
dasjenige, was als Maßnahme da sein soll in Erziehung und
Unterricht, aus dem Menschen selber herauszuholen, so daß
der ganze Mensch nach Leib, Seele und Geist voll zur
Entwickelung komme; auf der anderen Seite aber den
Menschen so in das Leben hineinzustellen, daß er als Kind
wiederum nach Leib, Seele und Geist, nach dem Religiösen,
nach dem Ethischen, nach dem Künstlerischen, nach
dem Erkenntnisleben hin gewachsen ist und sich diejenigen
Tugenden entwickeln kann, durch die der Mensch seinem
Mitmenschen am meisten nützlich und fruchtbar werden
kann. Dadurch allein ist der Mensch ja ein wirklich richtig
Erzogener, daß er seinen Mitmenschen am besten nach seinen
Kräften dienen kann. Darauf muß im Grunde genommen
jedes Erziehungsideal gerichtet sein. Daß ich über
ein solches Erziehungsideal sprechen durfte, dafür bin ich
den Veranstaltern hier außerordentlich dankbar.
Sie
werden gesehen haben, daß es sich wahrhaftig, wenn auch
das Waldorfschul-Prinzip einem ganz bestimmten Sprachgebiete
entstammt, dabei durchaus nicht um etwas Nationales handelt,
sondern um etwas im besten Sinne Internationales, weil
Allgemein-Menschliches. Nicht den Angehörigen irgendeiner
Klasse, nicht den Angehörigen irgendeiner Nation,
nicht den Angehörigen überhaupt irgendeiner
Einkapselung, sondern den Menschen mit den breitesten,
herzhaftesten menschlichen Interessen wollen wir
erziehen. Deshalb durfte das Gefühl, die Empfindung da
sein, daß man, wenn auch diese Erziehung zunächst in
einem bestimmten Sprachgebiete ausgebildet ist, auch in einem
anderen Sprachgebiete über diese Erziehung, die ja
durchaus in diesem Sinne international ist, sprechen darf.
Um
so größer war dann meine Befriedigung, als ich sehen
konnte, daß sich in Anlehnung an dasjenige, was in diesen
Konferenzen besprochen worden ist, ein Komitee gebildet
hat, welches durch Begründung einer Schule dieses
Waldorfschul-Prinzip auch hierher in tatkräftiger
Weise übertragen will.
Nun, wir können, wenn wir heute an die Gründung
solcher Schulen herangehen, dennoch nichts anderes machen, als
was auch der Waldorfschule Schicksal war: wir können
nur sozusagen Modelle, Musterschulen schaffen. Denn erst
wenn das, was diesem Schulwesen zugründe liegt, in
den breitesten Kreisen der öffentlichen Meinung
eingesehen wird, dann kann ja erst dasjenige, was hier
als Impuls gegeben wird, in der richtigen Weise fruchtbar
werden.
Ich
erinnere mich aus meiner Jugend, wie ich einmal in einem
Witzblatte einiges gelesen habe, worin man sich lustig
machte über Architektenpläne — ich habe
ja schon gestern etwas Ähnliches erwähnt. Das
Witzblatt, das zu Leuten, die etwas banausisch denken, sprechen
wollte — denn es hatte in diesen Kreisen seine Abonnenten
—, das sagte: Man sollte sich doch nicht an einen
Architekten wenden, der da alles Mögliche zeichnen und im
einzelnen berechnen wolle, auch künstlerisch die Dinge
zusammensetzen wolle, sondern man solle sich an einen
einfachen Maurer wenden, der einfach Ziegel auf Ziegel
setze. — Nun ja, diese Gesinnung, die herrscht gerade in
bezug auf das Erziehungs- und Unterrichtswesen noch in
zahlreichem Maße. Man findet dasjenige, was der Architekt
hier macht, leicht abstrus gegenüber dem Maurer, der die
Ziegel setzt, und man möchte gern, daß nur Ziegel auf
Ziegel gelegt würde, daß nicht eingegangen wird auf
dasjenige, was nun dem Bau wirklich zugrunde liegen
muß.
Daß aber gerade innerhalb dieses Kreises ein so
schönes Verständnis und Interesse vorhanden war,
dafür bin ich außerordentlich dankbar. Vorzugsweise
aber möchte ich Miß Beverley und ihren Mitarbeitern
aufs herzlichste danken. Danken möchte ich auch den lieben
Waldorfschullehrern und den anderen Freunden, die
mitgekommen sind zu dieser Veranstaltung, und die in einer so
schönen, wirklich tief anerkennenswerten Weise bei
diesen Konferenzen gewirkt haben, danken auch allen denjenigen,
die künstlerisch in diesen Tagen mitgewirkt haben. Danken
möchte ich allen denjenigen, die in irgendeiner Weise
etwas beigetragen haben zum Zustandekommen dieser Konferenz,
die hoffentlich durch das Komitee recht fruchtbar werden wird;
danken Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit und für
das Interesse, das Sie der Sache entgegengebracht haben.
Je
weiter wir in der Verbreiterung dieses Interesses kommen, desto
mehr werden wir auch dem Schulwesen, dem Unterrichtswesen, dem
Erziehungswesen dienen können. Und daß Ihnen das auf
dem Herzen liegt, haben Sie ja durch Ihre lebendige Anteilnahme
in diesen Tagen gezeigt. Mit diesen Worten möchte ich
diese Vorträge, die ich hier wirklich nicht bloß aus
dem Intellekt heraus, sondern aus dem wahren Anteil
für alles, was der Erziehung zugrunde liegt, gehalten
habe, mit einem Abschiedsgruß beschließen.
Nach
der Übersetzung:
Noch ein letztes Wort: Es ist ja während des ganzen
Konferenz-Verlaufes ganz gewiß jedem der Teilnehmer
ersichtlich geworden, mit welch ungeheurer Hingebung und auch
mit welcher Kraft, die Sache zu lösen, Mr. George Kaufmann
sich dem Übersetzen der Vorträge hingegeben hat. Auch
bei früheren Vorträgen ist es mir immer so gegangen,
daß Mr. Kaufmann wirklich alles so übersetzt hat,
daß er die Intentionen in einer seltenen Weise so
getroffen hat, daß die Vorträge ohne seine
Übersetzung ja gar nicht sein könnten; aber nur immer
diese letzten Worte, die ich ausgesprochen habe auch schon in
Oxford, die hat er merkwürdigerweise immer nicht
mitübersetzt. Daher möchte ich unseren Freund
Mr. Collison bitten, daß er mit einem möglichst
lauten Organ mitteilt, wie ich aus tiefstem Herzen heraus Mr.
Kaufmann den wohlverdienten Dank für seine so
außerordentlich bedeutsam geleisteten Dienste als
Übersetzer hiermit am Schlüsse zum Ausdruck
bringe.
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