Abschiedsansprache
VIERZEHNTER VORTRAG
Ilkley, 17. August 1923
Dasjenige, was ich als Dank empfinde für das Komitee,
für Miß Beverley und für Sie alle, die Sie Ihr
Interesse unserer Sache während dieser vierzehn Tage
gewidmet haben, habe ich bereits heute morgen ausgesprochen,
und Sie können versichert sein, daß dieses
Dankesgefühl in wärmster "Weise als ein
Andenken mich begleiten wird.
Ich
möchte nur einige Worte zu dem noch hinzufügen, was
ich mir schon in den vergangenen Tagen von den verschiedensten
Gesichtspunkten aus zu sagen erlaubte. Die meisten von
Ihnen kennen ja gut den Zusammenhang zwischen dem, was als
pädagogische Prinzipien die Waldorfschul-Bewegung
durchdringt, und dem, was als Anthroposophie durch die
anthroposophische Bewegung geht; und vielleicht gerade
über diesen Zusammenhang darf ich am Schlüsse dieser
Veranstaltung noch ein paar Worte sagen.
Die
Welt hat von der anthroposophischen Bewegung eigentlich im
Grunde genommen heute noch eine mißverständliche
Meinung; und das kommt vielleicht davon her, daß ein
Wunsch, den ich wirklich, so paradox er klingt, als einen
innigen Wunsch habe, nicht eigentlich erfüllt werden
kann. Denn so wahr es ist, daß die Waldorfschul-Bewegung
herausgewachsen ist aus der anthroposophischen Bewegung, so
wahr ist es, daß ich es am liebsten hätte, wenn wir
der anthroposophischen Bewegung jede Woche einen anderen Namen
geben könnten. Ich weiß, es würde eine
furchtbare Unordnung geben, aber dennoch, es wäre
mir das allerliebste. Denn Namen schaden gerade in unserer Zeit
außerordentlich viel. Nun, allerdings, wenn man bedenkt,
daß immer die Köpfe der Briefbögen dann jede
Woche umgedruckt werden müßten, daß irgend
jemand einen Brief bekäme mit der Aufschrift des
Namens der vorigen Woche der Anthroposophischen
Gesellschaft, die es schon gar nicht mehr gibt —
man kann sich vorstellen, was für eine Unordnung in den
Köpfen der Menschen dadurch entstehen würde!
Aber es wäre das dennoch für die anthroposophische
Bewegung etwas außerordentlich Gutes, wenn sie gar keinen
ständigen Namen hätte; denn dieser Name führt
eigentlich dazu, daß sich ein großer Teil der
Menschheit heute noch bloß mit dem Namen befaßt und
gar nicht auf die Sache eingeht.
So
kann man finden, daß die Leute zunächst ein
griechisches Wörterbuch nachschlagen, und da auf
irgendeine Weise in ihrer Landesspräche einen Ausdruck
sich bilden für «Anthroposophie». Und dann
machen sie sich ihre eigene «Anthroposophie», und
nach dieser eigenen «Anthroposophie» werden wir
eigentlich in der Welt besprochen. Das ist die Meinung
über uns, die sich die Leute bilden nach dem, was sie sich
gerade dem Namen nach geformt haben. Da denken sie: sie
können sich dasjenige ersparen kennenzulernen, was
eigentlich Anthroposophie wirklich ist. — Jetzt ist ja
der Büchertisch am Eingang des Saales schon fort, aber es
ist wahr, ich schauderte ja selbst jeden Tag, wenn ich
hereinkam und die Flut von Literatur sah — ich wäre
froh, wenn es weniger gäbe —, aber jedenfalls,
Anthroposophie muß man kennenlernen, indem man an die
Sache herangeht. Man kann nicht bloß an den Namen
herangehen. Deshalb wäre es so gut, wenn wir gar keinen
Namen zu haben brauchten.
Nun, das geht ja nicht! Aber ich denke, wenn solch ein Kursus
über irgendein praktisches Gebiet, über eine
praktische Auswirkung der Anthroposophie stattfindet, wie
dieser war, so kann man schon sehen, wie wenig Anthroposophie
danach strebt, sektiererisch zu sein, wie wenig Anthroposophie
danach strebt, den Menschen irgendwelche Dogmen an den Kopf zu
werfen und dergleichen; sondern es handelt sich bei der
Anthroposophie wirklich nur darum, die Realitäten der Welt
ihrer wahren Wesenheit nach kennenzulernen. Und will man an der
Fortentwickelung der Welt irgendwie teilnehmen, dann
handelt es sich schon darum, daß man wirklich hineinsieht
in den Gang der Ereignisse.
Es
ist in gewisser Beziehung so trostlos, daß heute sehr
wenig Neigung dazu besteht, in den Weltengang der
Ereignisse hineinzuschauen, und Anthroposophie ist eigentlich
diejenige Bewegung, die sich das ganz zur Aufgabe macht. Daher
kann man auch, wenn von irgendeinem speziellen Zweige die
Rede ist, wie es hier für die Pädagogik der Fall war,
immer über die Dinge sprechen, ohne von bestimmten
Programmpunkten und dergleichen auszugehen.
Und
auch bei der Einrichtung der Waldorfschule hat uns eigentlich
das vorgeleuchtet, ich habe es ja erwähnt, nicht mit dem
starren Dogmatismus, den man bei der Anthroposophie zu
finden glaubt, nun irgend etwas in die Schule hineinzutragen,
sondern soviel als möglich gerade nichts von dem in die
Schule hineinzutragen, was man für Erwachsene als
Anthroposophie gibt; lediglich die Anthroposophie so zu haben,
daß sie in einem wird die Kraft, den Menschen ganz
unbefangen zu erkennen, alles unbefangen in der Welt
anzuschauen, um dann auch alles durch die Tat unbefangen
angreifen zu können.
Ich
habe einmal vor ganz kurzer Zeit eine merkwürdige tadelnde
Kritik gelesen; solche gibt es furchtbar viele, und ich will
nicht von den Kritiken sprechen, die wir erfahren. Da steht,
daß ich das Bestreben hätte, unbefangen zu sein, und
es schien dies ein herber Vorwurf, der mir gemacht werden
müsse, daß ich in allen Dingen immer strebte,
unbefangen zu sein. Ich dachte, das wäre gerade in unserer
heutigen Zeit eine allgemeine Menschenpflicht, insbesondere auf
geistigem Gebiete; aber das ist etwas, was einem heute
als ein ganz herber Vorwurf gemacht werden kann.
Nun, ich glaube allerdings, daß gerade das
Pädagogische ein leichtes Verständnis abgeben
kann zwischen dem Kontinent und England, und wenn ich darauf
sehe, mit wie gutem Verständnisse Sie, meine sehr
verehrten Anwesenden, diesen Vorträgen entgegengekommen
sind, so betrachte ich das nach dieser Richtung als ein
außerordentlich günstiges Symptom. Man sagt so
gern äußerlich abstrakt, wenn man seine Zeit
charakterisieren will, die Phrase: Wir leben in einer
Übergangszeit. Jede Zeit ist eine Übergangszeit,
nämlich immer von der vorhergehenden zur
nachfolgenden; es kommt nur darauf an, was übergeht. Nun
aber, in der Gegenwart zeigen uns die verschiedensten Symptome,
wie wir in der Tat in einem wichtigen Übergange begriffen
sind.
Ich
kann diesen Übergang hier vielleicht am besten dadurch
charakterisieren, daß wir für einen kurzen
Augenblick zurückschauen, wie die geistige Entwickelung
etwa hier in England war im 12., 13. Jahrhundert, ja noch
im Anfange des 14. Jahrhunderts. Im Anfange des 14.
Jahrhunderts noch sprach ja hier jeder, der Bildung erworben
haben wollte, in französischer Sprache. Die englische
Sprache bestand in Dialekten, die nicht den Übergang
fanden in die allgemeine Volksbildung. Und die
Wissenschaft sprach lateinisch.
Will man zum Beispiel aus dem 14. Jahrhundert, um 1364, sich
gut unterrichten, wie das Unterrichtswesen hierzulande
beschaffen war, so kann man das aus dem damals erschienenen
«Polychronicon» von Higden; aber es ist
lateinisch geschrieben, und es wird einem klargemacht,
daß eigentlich die wirkliche Menschenbildung hierzulande
nur in lateinischer Sprache zu finden sei.
Aber während dieses Buch geschrieben wurde und
während also von der Bildung hier lateinisch gesprochen
wurde, bildeten sich allmählich die Schulen, in denen die
Volkssprache, wie auch in anderen Gegenden Europas, Eingang
fand in das Unterrichtswesen, in die Erziehung, in den
Unterricht. Und wir sehen, wie in Winchester, in Oxford Schulen
errichtet werden, die nun schon der Landessprache sich
bedienen. Es erscheint uns hier gerade in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts jener außerordentlich
wichtige Übergang von der lateinischen Sprache, die
international ist, zu der Landessprache.
Ähnliche Übergänge finden sich früher oder
später auch in anderen Gegenden der zivilisierten Welt.
Wir stehen da vor einer sehr wichtigen Erscheinung.
Aber hier in England kann man sie abfangen in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts. Denn als Higden 1364 sein
Buch schreibt, kann er noch mitteilen, daß überall
die lateinische Sprache das Verständigungsmittel ist
für Erziehung und Unterricht. Als dann ein gewisser
Trevisa 1387 das Buch ins Englische übersetzt, da
kann er schon sagen, daß die englische Sprache in die
Schule hereingekommen ist; so daß man hier gerade jenen
Übergang sieht von der internationalen lateinischen
Sprache, in der man sich über Erziehung und Unterricht
über die ganze gebildete Welt hin verständigte, zu
der Zeit, in der die Volksspräche von dem Niveau des
Dialektes hinaufrückt, um innerhalb des einzelnen Volkes
nun das Verständigungsmittel für Erziehung und
Unterricht zu werden. Und damit ist ein wichtiger
Übergang geschaffen.
In
der anthroposophischen Weltanschauung können wir ihn
bezeichnen als den Übergang von der Verstandes- oder
Gemütsseele zu der Bewußtseinsseele; denn das ist das
Eigentümliche der neueren Zivilisation, daß der
Übergang stattfindet von der Verstandes- oder
Gemütsseele, in welcher der Mensch mehr noch sich
fühlt als ein Glied der Welt, zu der
Bewußtseinsseele, wo er so recht seiner Freiheit,
seiner inneren Entschlußfähigkeit, seiner
inneren Aktivität sich bewußt werden soll. Allein
damit ist ein weltgeschichtlicher Prozeß eingeleitet, in
dem wir noch mitten drinnen stehen.
Nicht sogleich ist dasjenige, was durch das Aufkommen der
Volkssprachen geschehen ist, auch in die Seelen, in die
Herzen der Menschen eingezogen; sondern zunächst ist auch
hier in England die Renaissancebewegung, die sogenannte
humanistische Bewegung vom Süden nach diesem Norden
heraufgekommen. Wir sehen, daß diese humanistische
Bewegung zunächst zwar hintrachtet nach dem, was man die
Bewußtseinsseele des Menschen nennen kann, aber gar
nicht hineinkommt in das verstehende Erfassen der
Bewußtseinsseele beim Menschen, daher geltend macht,
daß man, um überhaupt Mensch zu sein, vor allen
Dingen die humanistisch-klassische Bildung aufnehmen
müsse.
In
diesem Kampfe um menschliche Freiheit, um menschliche innere
Aktivität leben die Jahrhunderte bis zum heutigen. Aber
immer mehr und mehr stellt sich dasjenige heraus, was die
Menschheit, die zivilisierte Menschheit braucht. Wenn wir
zurückgehen in das Zeitalter, das vor dem Drange nach der
Bewußtseinsseele liegt, da war es eine Sprache selber, die
das Internationale bewirkte, die bewirkte, daß sich die
gebildeten Menschen aller Länder verständigten.
Es war die Sprache das Internationale.
Diese Sprache — und hier in England kann man den
Übergang geradezu in der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts abfangen — konnte fortan nicht mehr das
internationale Verständigungsmittel sein. Der Mensch
wollte aus einem tieferen Inneren heraus seine innere
Aktivität entfalten. Er griff zu den Volkssprachen. Das
machte immer mehr und mehr notwendig, daß die
Verständigung auf einem höheren Niveau eintritt als
durch die Sprache.
Wir
brauchen etwas, was als Geistiges nicht mehr bloß aus den
Sprachen kommt, sondern auf eine viel unmittelbarere Art aus
der Seele erwächst. Wenn wir in historischer Beziehung,
für den gegenwärtigen historischen Augenblick
die Anthroposophie im richtigen Sinne erfassen wollen, so
besteht sie darin, über die ganze Welt hin etwas wie ein
internationales Verständigungsmittel zu finden, ein
Verständigungsmittel, durch welches sich Mensch zu
Mensch findet, ein Verständigungsmittel, welches gleichsam
ein Niveau höher liegt als die Sprache.
Die
Sprache erfaßt das, was von Mensch zu Mensch spielt, im
Laute, der vermittelt wird durch die Luft. Im Grunde genommen
bewegen wir uns mit der Sprache in der sinnlichen Welt.
Verstehen wir uns durch tiefere Elemente der Seele, verstehen
wir uns durch die gefühlsgetragenen, durch die
herzdurchwärmten Gedanken über die Sprachen
hinaus, dann haben wir wiederum ein internationales
Verständigungsmittel. Aber wir müssen eben auch
ein Herz haben für dieses internationale
Verständigungsmittel. Wir müssen den Weg zum Geiste
des Menschen über die Sprache hinweg finden.
Das
bedeutet aber zugleich neben allem übrigen
Weltanschaulichen, neben allem Pädagogischen, neben
Religiösem, neben Künstlerischem für die
anthroposophische Bewegung im gegenwärtigen historischen
Augenblicke: zu suchen gewissermaßen nach einer Sprache
der Gedanken.
Die
gewöhnliche Lautsprache bewegt sich in der Luft, sie lebt
noch im sinnlichen Elemente. Die Sprache, die angestrebt wird
durch die Anthroposophie, wird sich bewegen — mehr als
bildlich ist das gemeint — im reinen Elemente des
Lichtes, das von Seele zu Seele, von Herz zu Herz geht.
Und
die moderne Zivilisation wird ein solches
Verständigungsmittel brauchen. Sie wird es nicht nur
für die Dinge der höheren Bildung, sie wird es
brauchen auch für die Dinge des täglichen Lebens.
Zwar werden, bevor man dieses einsieht, noch viele Kongresse
gehalten werden, die nicht auf diesem Standpunkte stehen.
Doch hat man ja in der letzten Zeit nicht gerade viel von der
Fruchtbarkeit solcher Kongresse für das allgemeine Heil
der Menschheit wahrnehmen können. Aber für das wahre
allgemeine Heil der Menschheit, das nur aus der gegenseitigen
Verständigung hervorgehen kann, möchte gerade die
anthroposophische Bewegung eintreten. Deshalb, weil dies der
Fall ist, versuchen wir in solcher Weise den historischen
Augenblick wiederum zu erfassen, auf daß wir
wiederum eine Menschheit werden können, aber
allerdings eine Menschheit mit der voll bewußten Seele,
wie sie einst auf einer anderen Stufe der menschlichen
Entwickelung da war, als das internationale
Verständigungsmittel die lateinische Sprache
war.
Damals
die lateinische Spräche; jetzt allgemein-menschliche
Ideen, durch welche der Mensch den Menschen über die ganze
Erde hin eigentlich finden kann.
Im
äußeren Praktischen ist mit der Weltwirtschaft der
Körper schon geschaffen gewesen. Allein dieser Körper
hat noch nicht Seele und Geist. Was in der Welt leben will,
braucht aber nicht bloß Körper, braucht Seele und
Geist. Zu dem Körper, der über die ganze
zivilisierte Welt hin in der Weltwirtschaft, in den
anderen praktischen Betätigungen sich gebildet hat,
möchte Anthroposophie in richtiger, wahrer Weise
Seele und Geist zu diesem Leibe sein. Sie verschmäht es
nicht, sich zu befassen mit den allerpraktischsten
Lebenszweigen, möchte aber auch in diese
allerpraktischsten Lebenszweige hineingeheimnissen, was
einzig und allein zu dem wirklichen Fortschritt der wirklichen
Weiterentwickelung der Menschheit dienen kann.
Dafür, meine sehr verehrten Anwesenden, daß man auf
einem speziellen Gebiete, auf dem pädagogischen Gebiete
hier hat verstehen wollen, wie in dieser Art ein
pädagogisches Streben fußt auf der anthroposophischen
Bewegung als einer Erfassung gerade des
gegenwärtigen historischen Augenblickes der
Menschheit — dafür, daß man das hat verstehen
wollen, daß man Interesse gehabt hat für diejenige
Nuance, die ich gerade diesmal in die Vorträge
hineinzubringen versucht habe, die historische
Charakteristik auch desjenigen, was mit dieser
Pädagogik gewollt wird, dafür bin ich so unendlich
dankbar. Und ich danke namentlich für die herzlichen
Gefühle, welche gerade diesem Kursus entgegengebracht
worden sind, der herausheben wollte dasjenige, was aus
dem gegenwärtigen menschlichen Augenblicke mit der
Waldorfschul-Pädagogik angestrebt wurde im Fortschritte
der Menschheitszivilisation.
Ich
habe die Waldorfschul-Pädagogik als dasjenige darstellen
wollen, was in freier Weise hindeutet auf die tiefsten
Bedürfnisse der Menschheit in der Gegenwart. Daß Sie
dem haben Verständnis entgegenbringen wollen, das
werde ich als ein gutes Angedenken gerade an diesen Kursus
sehr, sehr in meinem Herzen und in meiner Seele bewahren.
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