ERGÄNZENDE TATSACHEN ÜBER DAS LEBEN ZWISCHEN TOD UND
NEUER GEBURT
Breslau, 5. April 1913
(Hörernotizen)
Wenn wir hier in unserem Zweige beisammen sind, dann ist es
wohl möglich, über manche Dinge genauer zu sprechen,
als das in öffentlichen Vorträgen oder Schriften
geschehen kann. Und so möchte ich heute einiges
auseinandersetzen, das als Ergänzung dienen kann zu
Erkenntnissen, die uns bekannt sind aus unsern Schriften und
Zyklen.
Sie
können sich denken, meine lieben Freunde, daß das
Leben zwischen Tod und neuer Geburt ebenso reich und ebenso
mannigfaltig ist wie das Leben hier zwischen Geburt und Tod, so
daß man immer, wenn man schildert, was da vorgeht zwischen
Tod und neuer Geburt, selbstverständlich nur Teile, nur
Einzelheiten herausgreifen kann. Ich will heute weniger
berühren, was schon bekannt ist, sondern auf einiges
hinweisen, was das Bekannte genauer beleuchten soll.
Wenn derjenige, der in die geistigen Welten hineinzuschauen
vermag, wirklich den Blick richtet in jene Welt, in welcher der
Mensch verweilt zwischen Tod und neuer Geburt, dann ergibt sich
gerade für unsre Zeit so recht die Notwendigkeit
desjenigen, was wir hier wollen durch unsere
geisteswissenschaftliche Arbeit; durch das, was gegeben werden
kann dem Herzen und der Seele des Menschen durch die
geisteswissenschaftliche Arbeit.
Es
sei von einem besonderen Falle ausgegangen. Da ereignete es
sich zum Beispiel, daß ein Mann hinweggestorben ist von
seiner Familie, der seine Gattin hier im Leben
außerordentlich lieb hatte, der seiner Familie immer
zugetan war. Und als er vom Seherauge aufgesucht wurde, litt er
ganz besonders daran, daß er nicht finden konnte, wenn er
seinerseits auf die Erde hinunterschaute, die Seelen seiner
Kinder, die Seele seiner Frau. Und auf die Art, wie sich der
Seher in Verbindung setzen kann mit Menschenseelen, sozusagen
sich besprechen kann mit Menschenseelen zwischen Tod und neuer
Geburt, tat er dann kund, wie er zwar mit seinen Gedanken, mit
all seinen Empfindungen zurückdenken kann an die Zeit, wo
er mit den Seinigen auf der Erde verweilte; aber er sagte dann
etwa so: Ja, als ich auf der Erde war, da war mir meine Gattin
wie eine Art Sonnenschein, jetzt muß ich das entbehren.
Ich kann nur den Gedanken zurückrichten an das, was ich
auf der Erde gehabt habe, aber ich kann die Gattin nicht
finden. Woher kommt das? Denn es ist nicht bei allen so, die
durch die Pforte des Todes gegangen sind. Wenn wir viele
Jahrtausende zurückgingen, würden wir finden,
daß die Seelen der Menschen auch von diesem geistigen
Gebiet hinunterschauen konnten, teilhaben konnten an dem, was
die Hinterbliebenen auf der Erde trieben. Warum war das so
für alle Seelen in alten Zeiten, in den Zeiten vor dem
Mysterium von Golgatha? Warum ist es heute für viele nicht
so? Ja, in alten Zeiten, da lebten, wie wir wissen, die
Menschen auf der Erde so, daß sie noch ein gewisses
ursprüngliches Hellsehen hatten. Es sahen die Menschen
nicht nur durch die Augen in die sinnliche Welt, sondern sie
sahen hinter den sinnlichen Dingen die geistigen Urgründe,
die Urwesenheiten. Und diese Fähigkeit, mit der geistigen
Welt im physischen Dasein zusammenzuleben, brachte es mit sich,
daß die Seele, wenn sie durch die Pforte des Todes
gegangen war, alles das Seelische wieder wahrnehmen konnte, was
sie hier zurückgelassen hatte. Jetzt haben die
Menschenseelen hier nicht mehr die Fähigkeit, mit der
geistigen Welt unmittelbar zu leben, denn darin besteht ja die
Entwickelung der Menschheit, daß der Mensch
heruntergestiegen ist vom geistigen Leben zum physischen Leben.
Das hat gebracht die Fähigkeit zu urteilen und so weiter,
aber es hat genommen die Fähigkeit, mit den geistigen
Welten zu leben. Eine Zeitlang, in den Zeiten unmittelbar nach
dem Mysterium von Golgatha, als die Menschenseelen ergriffen
waren von dem ChristusImpuls, konnte wenigstens ein Teil der
Menschheit in einer gewissen Weise die Fähigkeit wieder
erlangen. Aber jetzt leben wir wiederum in einer Zeit, wo die
Seelen, die durch die Pforte des Todes gehen und die sich nicht
gekümmert haben um die geistigen Welten, von der geistigen
Welt aus den Zusammenhang verlieren.
Wir
brauchen die Offenbarung, die wir die spirituelle Offenbarung
nennen und von der wir die berechtigte Anschauung haben,
daß sie sich einprägen soll in die Menschenseelen.
Heute genügt nicht mehr das alte bloß religiöse
Bekenntnis; heute brauchen die Seelen, wenn sie geistig schauen
wollen von der jenseitigen Welt hierher, was ihnen gegeben
werden kann durch das geisteswissenschaftliche Verständnis
des Mysteriums von Golgatha. So bemühen wir uns,
Geisteslicht in die Seelen zu bekommen.
Der
Mann, der in der geschilderten Weise gefunden worden war, hatte
sich nicht gekümmert um irgendwelche Gedanken und
Empfindungen der geistigen Welt. Er ging durch die Pforte des
Todes, ohne daß er hier durch seine Seele hatte ziehen
lassen Gedanken der geistigen Welt. So kam es, daß der
Mann sagen konnte: Ich weiß aus meinem Gedächtnis,
daß da unten meine Gattin ist; ich weiß, sie ist da,
aber ich kann sie nicht sehen, nicht finden.
Wann hätte er sie finden können? Von jener Welt
herunter kann man heute nur solche Seelen sehen, in denen
spirituelle Fähigkeiten leben. Solche Seelen kann man
schauen von der ändern Welt her, in denen die Gedanken
eines spirituellen Verständnisses leben. Wenn man
hinunterblickt, so wird eine Seele, die hier geblieben ist,
erst sichtbar für den Toten, wenn in dieser Seele
spirituelle Gedanken leben. Diese Gedanken sieht man. Sonst
bleibt die Seele unsichtbar. Sonst leidet man unter den Qualen,
zu wissen, sie ist da, aber man kann sie nicht finden. In dem
Augenblicke, wo es gelingt, einer solchen Seele irgendwelche
Gedanken zu übermitteln über die spirituelle Welt, da
beginnt die Erdenseele für den in der ändern Welt
Lebenden aufzuleuchten, dann beginnt sie dazusein für
ihn.
Sagen Sie nicht, daß es eine Ungerechtigkeit wäre,
wenn solche Seelen, die hier auf Erden vielleicht ohne ihre
Schuld keine spirituellen Gedanken haben, unsichtbar bleiben
für die Toten. Wenn die Welt nicht so eingerichtet
wäre, daß dies so ist, dann würden die Menschen
niemals dazu kommen, nach Vervollkommnung zu streben. Die
Menschen müssen durch das, was sie entbehren, lernen. Eine
solche Seele, die dann in dem Leben zwischen Tod und neuer
Geburt leidet an dem Schmerz und an der Einsamkeit, eine solche
Seele bekommt dadurch den Impuls, spirituelle Gedanken
aufzunehmen.
So
sehen wir, daß Geisteswissenschaft unter diesem
Gesichtspunkte ist wie eine Sprache, durch die Lebende und Tote
sich verstehen, durch die sie füreinander da sind und
wahrnehmbar sind.
Und
noch in anderer Beziehung zeigt sich, welche Mission
Geisteswissenschaft hat in bezug auf die Überbrückung
des Abgrundes zwischen Leben und Tod. Wenn Menschenseelen durch
die Pforte des Todes schreiten, dann treten sie ja in ein Leben
ein, welches den Zusammenhang mit dem Erdenleben erhält
durch die Erinnerung an das, was vergangen ist. — Ich
schildere nicht das, was in unseren Büchern zu finden ist,
sondern zur Ergänzung dessen. Längere Zeit nach dem
Tode hat der Mensch damit zu tun, daß er noch
zurückempfinden muß die Erde, daß er sich
abgewöhnen muß die Sehnsucht, einen physischen Leib
zu haben. In der Zeit des Sichabgewöhnens lernt der Mensch
als ein seelisch-geistiges Wesen leben. Stellen wir uns recht
lebendig vor, wie es sich der seherischen Forschung darbietet.
Zunächst hat die Seele einen Zusammenhang nur mit dem, was
sie selber war; man schaut hin auf das eigene innere Leben, das
in Gedanken, Vorstellungen und so weiter abgelaufen ist; man
erinnert sich an Beziehungen, die man zu ändern Menschen
gehabt hat. Aber wenn man auf die Erde hinunterschauen will,
dann bietet sich ein besonderer Anblick. Man hat den Trieb,
hinunterzuschauen. Dieser Trieb, der Erde zu gedenken, bleibt
im ganzen Leben zwischen Tod und neuer Geburt. So lange der
Mensch berufen ist, von Leben zu Leben zu gehen, so lange
bleibt das Bewußtsein: Du bist für die Erde bestimmt,
du mußt immer wieder auf die Erde zurückkehren, wenn
du dich in der rechten Weise entwickeln willst. — Da
zeigt sich bei dem Toten, daß, wenn er den Gedanken an die
Erde verlieren würde, er dann als Toter ganz verlieren
würde den Gedanken an sein Ich. Dann würde er nicht
mehr wissen, daß er selber ist, und das würde ein
ungeheures Leidesgefühl bedeuten. Der Mensch darf eben den
Zusammenhang mit der Erde nicht verlieren, es darf die Erde
nicht sozusagen entrinnen für sein Vorstellen. Im
allgemeinen kann sie ihm auch nicht ganz verschwinden. Nur in
unserer Zeit der materialistischen Hochflut, wo diese
spirituelle Offenbarung kommen muß, damit der Zusammenhang
zwischen Lebenden und Toten erhalten bleibe, da ist das
Zurückblicken schwierig für die Seelen, die mit
keinen ändern Seelen auf der Erde zusammenkamen, in denen
spirituelle Gedanken und Empfindungen vorhanden sind.
Für die Toten ist es wichtig, daß diejenigen, mit
denen sie auf Erden in Verbindung gestanden haben, allabendlich
in die Welt des Schlafes hinein mitnehmen Gedanken an die
spirituelle Welt. Je mehr wir Gedanken an die spirituelle Welt
hineinnehmen in den Schlaf, desto Besseres leisten wir für
diejenigen, die uns hier im Leben persönlich bekannt waren
oder mit uns in irgendwelchen Beziehungen gestanden haben und
vor uns hinweggestorben sind. Es ist ja schwierig, über
diese Verhältnisse zu sprechen, denn unsere Worte sind
genommen von dem physischen Plan. Dasjenige, was wir in den
Schlaf hinein mitbringen an spirituellen Gedanken, das ist die
Welt, von der in einer gewissen Weise die Toten leben
müssen, und ein Toter, welcher niemand hier auf Erden hat,
der in den Schlaf hinein spirituelle Gedanken
hinüberträgt, der hungert gewissermaßen, der ist
wie einer, der auf Erden auf eine Felseninsel versetzt ist. So
fühlt der Tote, wenn er keine Seelen findet, in denen
spirituelle Empfindungen leben, wie wenn er in einer Öde
wäre, wie wenn nichts da wäre, was er zum Leben
braucht. Daher kann man gar nicht sagen, wie ernst wiederum die
Gedanken geisteswissenschaftlicher Weltanschauung zu nehmen
sind, wenn man in unserer Zeit immer mehr die Weltanschauung
überhandnehmen sieht, die nichts wissen will von geistigen
Welten. Früher, wo man mit einem andächtigen
Abendgebet zur Ruhe ging und mitnahm die Nachwirkungen dieses
Abendgebetes, war das anders als heute, wo die Menschen
vielleicht nach einem Mahle oder ändern Genüssen,
ohne an etwas Übersinnliches zu denken, gedankenlos in
de« Schlaf sinken. So entzieht man den Toten ihre geistige
Nahrung. Diese Erkenntnisse müssen immer mehr und mehr zu
dem führen, was da, wo es von unsern Freunden geleistet
wird, schon recht gute Früchte getragen hat: das ist
dasjenige, was ich nennen möchte das Vorlesen den Toten.
Dieses Vorlesen den Toten hat eine ungeheure Bedeutung.
Nehmen wir an, hier auf Erden hätten zwei Menschen
nebeneinander gelebt; der eine hätte durch innere Impulse
des Herzens den Drang empfunden zur Geisteswissenschaft, der
andere wird ihr aber gerade dadurch immer mehr abgeneigt. In
einem solchen Falle vermag man oftmals über den Lebenden
nichts, um ihm zu einer spirituellen Weltanschauung zu
verhelfen; ja vielleicht gerade dadurch, daß man sich
darum bemüht, macht man ihn erst recht zu einem Hasser
derselben. Nehmen wir an, ein solcher Mensch stirbt vor uns,
dann haben wir die Möglichkeit, ihm nach seinem Tode um so
besser zu helfen.
Dasjenige, was in unsern Seelen lebt, ist etwas recht
Kompliziertes, und dasjenige, worüber sich unser
Bewußtsein ausbreitet, ist nur ein Teil des Seeleninhalts.
Der Mensch weiß gar vieles nicht, was in seiner Seele ist;
und es ist manchmal etwas vorhanden, wovon er glaubt, es sei
das Gegenteil da. So kann es sein und sich wirklich zutragen,
daß jemand ein Hasser der Geisteswissenschaft wird. Das
nimmt er wahr mit seinem Bewußtsein. In der Tiefe seiner
Seele kann er aber eine um so tiefere Sehnsucht nach
Geisteswissenschaft haben. Wenn wir durch die Pforte des Todes
geschritten sind, da leben wir das Leben, das wir in der Tiefe
unserer Seele gelebt haben. Wenn man an die Toten herantritt,
die man hier im Leben gekannt hat, zeigen sie sich oft als ganz
anders geartet als hier. Ein Mensch, der mit Bewußtsein
die Geisteswissenschaft gehaßt hat, aber in tiefster Seele
danach Sehnsucht hat, ohne daß er es weiß, in dem
tritt oftmals nach dem Tode diese Sehnsucht ganz besonders
hervor. Wir helfen ihm, wenn wir ein Buch
geisteswissenschaftlichen Inhalts nehmen, uns das Bild des
Toten innerlich vorstellen und wie einem Lebenden, nicht laut,
sondern leise, dem Toten vorlesen. Das verstehen die Toten.
Natürlich um so eindringlicher verstehen es diejenigen,
die schon im Leben dem Spirituellen nahegestanden haben. Wir
sollten nicht versäumen, den Verstorbenen vorzulesen oder
uns mit ihnen in Gedanken zu unterhalten. Dabei möchte ich
auf das eine Praktische hinweisen, daß der Mensch viele
Jahre nach dem Tode, etwa drei bis fünf Jahre, ein
Verständnis hat für die Sprache, die er gesprochen
hat. Das hört allmählich auf, aber er hat dann noch
Verständnis für die spirituellen Gedanken. Es kann
dann auch vorgelesen werden in einer Sprache, die der Tote
nicht verstanden hat, wenn man sie nur selber versteht. Auf
diese Weise werden den Toten große Dienste geleistet.
— Und gerade auf solchem Gebiete merkt man besonders die
ganze Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung,
da sie die Kluft hinwegschafft zwischen Lebenden und Toten. Und
wir können uns denken, daß, wenn es uns gelingt, auf
Erden für die Geisteswissenschaft immer weitere und
weitere Verbreitung zu gewinnen, daß dann in den Seelen
immer mehr das Bewußtsein hervorkommen wird davon,
daß man mit den Toten zusammen ist. Eine Zeitlang also
nach dem Tode hängt der Mensch unmittelbar noch mit der
Erde zusammen. Dann aber muß er in die geistige Welt
hineinwachsen, er muß ein Bürger der geistigen Welt
werden. Dazu muß er vorbereitet sein, muß
Empfänglichkeit und Verständnis für die geistige
Welt haben. Da kommt zum Beispiel eine Zeit heran, wo für
die seelische Forschung, wenn die Toten beobachtet werden, ein
großer Unterschied auftritt zwischen solchen Seelen,
welche hier auf Erden moralische Stimmungen und Empfindungen
gepflegt haben, und solchen, die ohne moralische Empfindungen
hier gelebt haben. Wenn der Mensch hier keine moralischen
Empfindungen gepflegt hat, so wird er dann sein wie ein
Einsiedler. Er wird den Weg nicht finden zu ändern
Menschen im Jenseits und auch nicht den Weg zu höheren
Hierarchien. Niemals erlischt das Bewußtsein des Menschen;
aber was dann des Menschen harrt, ist Einsamkeitsgefühl.
Die Möglichkeit, von einer gewissen Zeit an nach dem Tode
mit ändern Wesenheiten zu leben — eine Zeit, die man
die Merkurzeit nennt —, erwirbt sich der Mensch durch
moralisches Leben. So daß man sagen kann: Wie der Mensch
hier auf Erden gelebt hat, das bildet die Ursache, ob er in der
Merkurzeit in einsiedlerischem, grauenvollem Elend lebt oder ob
er den Anschluß findet, den Zusammenhang mit
Menschenseelen oder Wesenheiten der höheren Welt.
Dann kommt später eine Zeit, für die der Mensch in
anderer Weise vorbereitet sein muß und in welcher er sich
wieder zur Einsamkeit verdammen würde, wenn er nicht hier
auf Erden religiöse Empfindungen entwickelt hätte.
Diese Zeit nennt man die Venuszeit. Derjenige, der nicht
religiöse Empfindungen in sich entwickelt hat, fühlt
sich blind und taub gegenüber dem, was um ihn herum
ist.
Dann kommt eine Zeit, für welche der Mensch, um nicht
gewissen Wesenheiten der höheren Welt gegenüber
unempfänglich zu werden, als Vorbereitung ein
völliges Verständnis für alle Religionen haben
muß. Das ist die Sonnenzeit. Sie wird vorbereitet hier auf
Erden durch ein Verständnis für alles Menschliche,
für die verschiedenen religiösen Bekenntnisse. In
alten Zeiten genügte es für die Sonnenzeit, wenn ein
Mensch die Religion des Brahma hatte, ein anderer die Religion
des Laotse und so weiter. Jetzt aber, wie die Zeiten sich
entwickelt haben, stehen die Menschen durch die religiösen
Bekenntnisse gegeneinander, und so kann die Sonnenzeit nicht in
der richtigen Weise durchgemacht werden. Es gehört
spirituelles Empfinden hierzu. Diese Sonnenzeit, die der Mensch
durchzumachen hat zwischen Tod und neuer Geburt, sie ist so,
daß man fühlt, man sei eingetreten in eine Welt, in
welcher entweder, je nachdem man vorbereitet ist, ein gewisser
Platz leer erscheint oder nicht. Wollen wir verstehen, wodurch
wir ihn nicht leer erblicken, so müssen wir das Mysterium
von Golgatha verstehen. In dem Christus-Impuls liegt die
Möglichkeit, jegliches menschliche Empfinden zu verstehen.
Das Christentum ist schon eine allgemeine Religion; das
Christentum ist nicht eine Stammes-, Rassenoder
Nationalreligion, wie der Hinduismus oder andere
Nationalreligionen es sind. Wenn die mitteleuropäischen
Völker ihre alten Stammesreligionen behalten hätten,
so hätten wir heute noch den Wotandienst, den Thordienst
und so weiter. Doch die europäischen Völker haben das
Bekenntnis des Christentums angenommen. Man ist aber im
richtigen Sinne Christ nicht dadurch, daß man dieses oder
jenes christliche Dogma vertritt, sondern daß man
weiß, daß Christus für alle Menschen gestorben
ist. Die Menschen werden erst nach und nach lernen, sich als
Christen zu verhalten. Wenn heute ein Europäer nach Indien
kommt, dann ist in der Regel das, was er vertritt, ein
Wörtbekenntnis. Die richtige Empfindung aber, die man
haben muß, ist diese: Wo man auch auf der Erde eine
Menschenseele trifft, kann man finden den Christus-Impuls. Der
Hindu wird nicht glauben, daß sein Gott in allen Menschen
lebt. Der Christ weiß, daß Christus in allen Menschen
lebt. Geisteswissenschaft wird zeigen, daß das richtig
verstandene Christentum den Wahrheitskern aller Religionen
enthält und daß jede Religion, wenn sie sich ihres
Wahrheitskernes bewußt wird, zum Mysterium von Golgatha
hinführt.
Wenn man einen ändern Eingeweihten oder irgendeinen
ändern Religionsstifter betrachtet, dann ist es klar,
daß er etwas aus den höheren Welten verkünden
will, weil er durch die Einweihung gegangen ist. Derjenige
versteht den Christus nicht wirklich, der nicht klar sieht,
daß der Christus auf Erden nicht durch irgendwelche
Einweihung gegangen ist; sondern dadurch, daß er da war,
war er eingeweiht und vereinigte alles in sich.
Wenn man als Seher auf das Buddha-Leben hinblickt und es
verfolgt, dann wird einem gerade in der geistigen Welt viel
klarer, was der Buddha war. Mit dem Christusleben ist es nicht
so. Das Christusleben ist so, daß man schon hier auf der
Erde eine Beziehung zu ihm gewinnen muß, um es in der
geistigen Welt zu verstehen. Wenn man hier eine solche
Beziehung nicht gewinnt, dann kann man, wenn man initiiert
wird, wohl alles mögliche sehen, aber den Christus kann
man nicht sehen, wenn man nicht von der Erde aus eine Beziehung
zu ihm gewonnen hat.
Daher verstehen so wenige, was das Mysterium von Golgatha ist.
Es macht den Christus zu einer Wesenheit, welche
gleichbedeutend ist für den primitiven Menschen und den
höchsten Eingeweihten. Die primitivste Menschenseele kann
eine Beziehung zu Christus haben, und der Eingeweihte muß
sie auch finden. Wenn man hineinkommt in höhere Welten, da
lernt man vieles kennen; nur eines gibt es nicht, eines lernt
man nicht: das ist der Tod. Der Tod ist nur in der physischen
Welt. In der geistigen Welt ist wohl Verwandlung, aber nicht
der Tod. So daß wir sagen können: Alle geistigen
Wesen, die niemals auf unsere Erde kommen, die nur in den
spirituellen Welten bleiben, die gehen nicht durch den Tod.
Christus ist ein Mitbürger der Menschen auf der physischen
Welt geworden, und dasjenige, was sich auf Golgatha abgespielt
hat, das macht, daß, wenn man den einzigen Göttertod
versteht, man in der Sonnenzeit nicht leer ausgeht. Die
ändern Eingeweihten sind Menschen, die sich durch
verschiedene Erdenleben besonders entwickelt haben. Christus
war nicht vorher als Christus auf der Erde, sondern er war in
Welten, wo es keinen Tod gibt. Er ist der einzige unter
seinesgleichen, der den Tod kennenlernte. Daher muß man,
um den Christus kennenzulernen, seinen Tod verstehen, und weil
der Tod das Wesentliche ist, deshalb kann nur hier auf der
Erde, wo der Tod vorhanden ist, das Mysterium von Golgatha
verstanden werden. Gelangt man hier auf der Erde nicht zu einer
Beziehung zum Christus, dann erlebt man ihn in der höheren
Welt nicht; dann finden wir in der Sonnenzeit seinen Platz
leer. Nehmen wir aber den Christus-Impuls mit, dann erscheint
der Sonnenthron nicht leer; dann finden wir bewußt den
Christus.
Es
ist wichtig für unsere heutige Menschheitsentwickelung,
daß wir in diesem Punkte den Christus in der geistigen
Welt finden, indem wir ihn wiedererkennen. Warum? Ja, wenn wir
durch diese Sonnenzeit gehen, dann sind wir allmählich
eingetreten in eine Welt, wo wir angewiesen sind auf geistiges
Licht. Vorher, vor der Sonnenzeit, da haben wir noch die
Nachwirkungen der Erde, die Nachwirkungen dessen, was wir
persönlich gewesen sind: moralische und religiöse
Empfindungen. Jetzt brauchen wir mehr. Jetzt brauchen wir die
Fähigkeit, dasjenige zu schauen, was in der geistigen Welt
ist und was hier noch nicht in uns vorbereitet werden kann;
denn wir müssen nun durch Welten von Kräften
hindurchgehen, von denen man hier nichts wissen kann.
Wenn der Mensch durch die Geburt in das Leben hereinkommt, ist
sein Gehirn unentwickelt. Der Mensch muß es sich erst
erarbeiten nach dem, was er sich in früheren Leben
erworben hat. Denn wenn man eine bestimmte Art von
Fähigkeiten notwendig hat, dann genügt es nicht,
daß man sie sich erworben hat, sondern man muß auch
wissen, wie das erforderliche physische Organ gebaut sein
muß.
Es
gibt einen wichtigen, aber sehr gefährlichen Führer.
Hier auf Erden bleibt er unbewußt. Aber von der Sonnenzeit
an wird er notwendig: Luzifer. Wir würden in Finsternis
wandeln, wenn nicht Luzifer an uns herantreten würde. Wir
können aber nur an der Seite Luzifers wandeln, wenn wir
die Führung des Christus haben. Die beiden führen den
Menschen nach der Sonnenzeit dann weiter durch das folgende
Leben: die Marszeit, die Jupiterzeit, die Saturnzeit. In diesen
Zeiten nach der Sonnenzeit kommt der Mensch zusammen mit
Kräften, die er zur neuen Verkörperung braucht. Es
ist nämlich Unsinn, wenn die materialistische Wissenschaft
glaubt, daß der materielle Körper vererbt werde. Sie
hat heute keine Möglichkeit, ihren Irrtum einzusehen; aber
man wird die spirituellen Wahrheiten erkennen, und dann wird
man den Irrtum einsehen. Den Menschen kann nichts vererbt
werden als nur die Anlagen für Gehirn und Rückenmark,
für alles das, was eingeschlossen ist in die nach
außen fest abgeschlossene Knochenkapsel des Gehirns und
die Ringe des Rückgrates. Alles andere wird durch
Kräfte aus dem Makrokosmos bestimmt. Der Mensch würde
eine sozusagen vollständig unmenschliche Masse sein, wenn
ihm nur das gegeben würde, was ihm vererbt wird. Dieses,
was ihm vererbt wird, muß durchgearbeitet werden von dem,
was der Mensch sich aus den geistigen Welten mitbringt.
Warum nenne ich die Zeiten nach dem Tode Merkurzeit,
Venuszeit, Sonnenzeit, Mars-, Jupiterund Saturnzeit?
Wenn der Mensch hindurchgegangen ist durch die Pforte des
Todes, wird er immer größer und größer. In
der Tat ist das Leben nach dem Tode so, daß man sich
über einen großen Raum ausgebreitet weiß. Da
wächst man zunächst so weit, daß man sozusagen
den Raum ausfüllt, der durch den Umlauf des Mondes
umgrenzt wird. Dann wächst man weiter bis zum Kreis des
Merkur, okkult gesprochen, dann bis zum Kreis der Venus, der
Sonne, des Mars. Man wächst in den großen Himmelsraum
hinaus. Jeder Mensch wächst nach dem Tode in den
Himmelsraum hinaus. Aber dieses räumliche Zusammensein
aller dieser Menschenseelen hat keine Bedeutung. Wenn Sie die
ganze Venus-Sphäre durchdringen, so tun das die
ändern auch, aber sie brauchen deswegen voneinander nichts
zu wissen. Wenn man auch weiß, daß man nicht ein
einsames Wesen ist, man kann sich dennoch einsam fühlen.
Man wächst schließlich in das Weltenall hinaus bis zu
einer Sphäre, die beschrieben wird durch den Saturn, und
noch weiter. Und indem man so hinauswächst, eignet man
sich die Kräfte an, die man braucht, um das nächste
Leben aufzubauen. Und dann geht man wieder zurück, wird
immer kleiner und kleiner, bis man sich wieder mit der Erde
verbindet. So dehnt sich der Mensch zwischen Tod und neuer
Geburt über den ganzen Makrokosmos aus, und so sonderbar
es aussieht, es ist so: Wenn wir in ein Erdenleben wieder
eintreten, dann bringen wir die Kräfte des ganzen
Sonnensystems mit ins Dasein und vereinigen sie mit dem, was
uns vererbt wird aus den physischen Substanzen. Mit den
Kräften aus dem Kosmos bauen wir den physischen Leib und
unser Gehirn auf. Wir leben also hier zwischen Geburt und Tod
in den engen Grenzen unseres physischen Leibes; wir leben nach
dem Tode im ganzen SonnenMakrokosmos ausgebreitet.
Der
eine Mensch empfindet tief moralisch, der andere weniger. Der
eine Mensch, der jetzt tief moralisch empfindet, er geht durch
die geistige Welt und kann alles erleben als ein geselliges
Wesen. Aus dem Sternenleben herein kommt die Kraft dazu. Ein
anderer bereitete sich nicht so vor, er konnte keine
Beziehungen gewinnen, er brachte keine vergeistigenden
Kräfte herein, er kann zunächst auch keine
moralischen Anlagen haben. Er geht daher einsam durch die
Sphären. Alles, was im Menschen ist, seine Beziehungen zur
Welt, alles tritt uns in bedeutungsvoller Weise entgegen durch
eine solche spirituelle Erkenntnis.
Kant hat den Ausspruch getan: «Zwei Dinge
erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender
Bewunderung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir
und das moralische Gesetz in mir.» Er hat damit etwas sehr
Bedeutungsvolles gesagt. Geisteswissenschaft zeigt, daß
beides dasselbe ist. Was wir erleben zwischen Tod und neuer
Geburt, bringen wir als moralisches Gesetz mit; was wir
durchleben zwischen Tod und neuer Geburt, den bestirnten
Himmel, wir tragen ihn herein in unser Erdenleben, wo er zu
unserem moralischen Gesetz werden muß.
So
bringt uns Geisteswissenschaft die Anschauung von der
Größe der menschlichen Seele und die Anschauung von
der menschlichen Verantwortlichkeit.
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