DAS
LEBEN NACH DEM TODE
Straßburg, 13. Mai 1913
Die
ganze Bedeutung und Aufgabe der spirituellen Weltanschauung
tritt uns entgegen, wenn wir das Leben des Menschen in der Zeit
zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ins Auge fassen. Es
gibt Menschen, besonders in unserer materialistischen Zeit gibt
es viele solcher Menschen, die sagen: Warum sollte der Mensch
sich eigentlich kümmern um das Leben zwischen dem Tode und
einer neuen Geburt oder — wenn sie nicht von wiederholten
Erdenleben sprechen wollen — um das Leben, das nach dem
Tode liegt, denn wir können ja warten, bis der Tod
eingetreten sein wird, und werden dann schon sehen, was auf den
Tod folgt. Das sagen diejenigen Menschen in der Gegenwart, die
noch nicht ganz die Empfindung für die geistige Welt
verloren haben, aber doch nicht die nötige
Seelenstärke haben, um sich Begriffe und Empfindungen von
der übersinnlichen Welt verschaffen zu können. Solche
Menschen sagen: Wir tun hier auf Erden unsere Pflicht, dann
werden wir schon in entsprechender Weise erleben können,
was uns nach dem Tod erwartet.
Nun
zeigt ein wirkliches Verhältnis zu dem Leben zwischen Tod
und einer neuen Geburt uns aber so recht, wie falsch eine
solche Auffassung ist und wie wichtig es für die Menschen
im physischsinnlichen Dasein ist, in diesem Leben schon einen
Zusammenhang zu haben mit den Lebensformen, die der Mensch zu
durchleben hat zwischen Tod und neuer Geburt.
Es
ist sehr schwierig, in Worten, die unserer gewöhnlichen
Sprache entnommen sind, über dieses Leben zu sprechen,
denn diese Worte sind ja für diejenige Welt gebildet, die
zwischen Geburt und Tod verläuft, und beziehen sich auf
die Dinge dieser Welt. Deshalb können wir in der Regel nur
mehr oder weniger indirekt andeuten dasjenige, was sich
zwischen Tod und neuer Geburt abspielt, was ja in seinem Wesen
so verschieden ist von allem, was wir hier erleben können
zwischen der Geburt und dem Tode. Man muß sich vorstellen,
daß alles, was der Mensch hier in der sinnlichen Welt
wahrnimmt, was gewissermaßen seine Welt ist, nicht seine
Welt sein kann nach dem Tode, denn es fehlen ihm dann die
Organe des physisch-sinnlichen Daseins. Auch der Verstand, der
an das menschliche Gehirn gebunden ist, hört mit dem Tode
auf. Nur gewissermaßen in scheuer Weise können wir
uns heranwagen an die Schilderung eines Lebens, das so ganz
anders ist als das Leben hier auf Erden, und in gewissem Sinne
sind die Worte des gewöhnlichen Lebens nur vergleichsweise
zu gebrauchen. Aber die Geisteswissenschaft lehrt uns die Worte
auch auf das Spirituelle zu beziehen und nimmt mit den Worten
etwas auf, was sich auch ausgießen kann über das
Verständnis der übersinnlichen Welt.
Hier in der physischen Welt bezeichnen wir als den Menschen
dasjenige Physische, was innerhalb der Haut eingeschlossen ist,
das übrige betrachten wir als unsere Umgebung. Was der
Mensch erlebt, hängt ab von den Funktionen der
Sinnesorgane, auch von Herz, Lungen und so weiter. Das alles
verschwindet aber auf dem Wege, den wir gehen zwischen Tod und
neuer Geburt. Unser seelischgeistiger Teil ist während des
Erdenlebens gleichsam eingebettet in unseren physischen Leib,
und jener lebt von den Tätigkeiten der genannten Organe.
Nach dem Tode vergrößert sich dasjenige, was den
physischen und den Ätherleib verläßt, immer mehr
und mehr, und es kommt eine Zeit, in der das, was sonst an die
Grenze unserer Haut gebunden ist, sich so weit ausbreitet,
daß es den ganzen Umkreis der Mondbahn erfüllt. Dann
wächst das Geistig-Seelische allmählich bis zur
Merkur-, Venus-Sphäre, dann zur Mars-, Jupiter-,
Saturnsphäre heran und sogar darüber hinaus in den
Weltenraum hinein. Nachher zieht es sich wieder zusammen und
verbindet sich als kleiner Geistkeim mit dem Strom der
Vererbungskräfte, die ihm den physischen Leib durch Vater
und Mutter zubereiten. Diese Schilderung stimmt überein
mit dem, was in der «Theosophie» geschrieben ist; bei
der Mars-Sphäre beginnt das Geisterland.
Aus
dem Gesagten folgt schon, daß alle Menschen, die durch die
Pforte des Todes gehen, in denselben kosmischen Raum
hineinwachsen, so daß wir also nach dem Tode
gewissermaßen alle ineinanderstecken. Dennoch sind die
toten Menschen nicht alle zusammen, denn das Zusammensein
hängt nach dem Tode von etwas ganz anderem ab als hier auf
Erden. In der geistigen Welt sind wir zwar räumlich alle
beisammen, können aber in Wirklichkeit nur Zusammensein,
wenn wir geistige Beziehungen zu anderen Menschen haben. Nehmen
wir als einen extremen Fall einmal einen Menschen an, der auf
Erden ganz und gar sowohl in seinen Gedanken wie auch in seinen
Empfindungen die geistige Welt verleugnet hat. Nun gibt es zwar
viele theoretische Materialisten, die die geistige Welt
leugnen, die aber doch mit ihren Empfindungen irgendwie mit der
geistigen Welt zusammenhängen. Solche Menschen, die ganz
und gar die geistige Welt verleugnen, gibt es also in
Wirklichkeit kaum, und das Furchtbare, was jetzt beschrieben
werden soll, tritt daher nie so ganz ein. Nehmen wir an, zwei
solcher Menschen sterben, die sich hier auf Erden gut gekannt
haben. Dann werden sie nach dem Tode in demselben Raum darinnen
sein, aber nichts voneinander wissen, denn für die Welt
nach dem Tode ist die Empfindung für das Geistige
entsprechend dem, was hier zum Beispiel die Augen sind. Ohne
Augen kein Licht — ohne Empfindung für das
Spirituelle keine Wahrnehmung der geistigen Welt. Sogar ein
noch schrecklicheres Schicksal als das Nichtwahrnehmen der
geistigen Welt würde solchen Menschen bevorstehen, denn da
die Seelen, die durch die Pforte des Todes gehen, selber
geistiger Natur sind, würde eine solche Seele
überhaupt nichts von Menschenseelen wahrnehmen
können; wie ein gähnender Abgrund würde es sich
um solche Menschenseelen ausbreiten. Man könnte fragen:
Was nimmt ein solcher Mensch nach dem Tode denn überhaupt
wahr? Auch nicht sich selbst, so wie er nach dem Tode ist, kann
er wahrnehmen, denn das klare Selbstbewußtsein fehlt ihm.
Was ihm noch bleibt, das wird sich uns aus dem Folgenden
ergeben.
Hier auf Erden stehen wir sozusagen auf einem Punkt der
Erdoberfläche da und haben unsere Organe in uns,
während wir die Himmelskörper außer uns haben.
Nach dem Tode ist es gerade umgekehrt. Der Mensch wächst
dann zu einer kosmischen Größe. Wenn er bis zur
Mondsphäre gewachsen ist, dann wird der Mond, das
Geistige, was zum Monde gehört, ein Organ in ihm und wird
dasselbe für ihn nach dem Tode, was hier auf Erden das
Gehirn für uns als physische Menschen ist. So wird jeder
Planetenkörper ein Organ für uns nach dem Tode, je
nachdem wir zu ihm hinwachsen. Es wird die Sonne für uns
zum Herzen. So wie wir hier das physische Herz in uns tragen,
tragen wir dann den geistigen Teil der Sonne in uns. Der
Unterschied besteht nur darin, daß wir hier als physische
Menschen erst dann vollkommene Menschen sind, wenn wir nach der
Embryonalentwickelung schon gleich all unsere Organe
ausgebildet haben; sie sind sozusagen alle gleichzeitig da.
Nach dem Tode erhalten wir diese Organe allmählich, eins
nach dem anderen. In dieser Hinsicht sind wir,
äußerlich betrachtet, dann ganz ähnlich einem
Pflanzenwesen, das auch seine Organe nacheinander ausbildet.
Ein Organ zum Beispiel, das sich vergleichen läßt mit
unseren Lungen und unserem Kehlkopf, erhalten wir auf dem Mars
und so weiter.
Nach dem Tode wachsen wir so hinein in dasjenige, wovon wir
hier den physischen Teil abgelegt haben, und der geistige Teil
der kosmischen Organe ist dann in uns. Was ist dann also
für uns eine Außenwelt? Dasjenige, was jetzt unsere
Innenwelt ist, dasjenige, was wir mit Hilfe unserer Organe
erleben, die uns zum physischen Erdenmenschen machen, und was
wir mit Hilfe dieser Organe getan haben.
Nehmen wir noch einmal jenen extremen Fall von einem Menschen,
der ganz und gar keine Beziehungen mit der geistigen Welt
angeknüpft hat. Für ihn ist nach dem Tode seine
Außenwelt dasjenige, was er auf Erden vermöge seiner
physischen Organe erlebt hat. Für solch einen radikalen
Atheisten bleibt die Welt nach dem Tode ganz ohne
Menschenseelen, und er muß zurückschauen auf sein
Erdenleben, auf das, was seine Welt war, was er umfaßt hat
mit seinen Taten und Erlebnissen. Das ist dann seine
Außenwelt: nichts anderes als das, was ihm als Erinnerung
bleibt von dem Leben zwischen Geburt und Tod, und das ist keine
ausreichende Welt für die Erlebnisse, die der Mensch
braucht im Leben zwischen Tod und neuer Geburt. In dem Leben
zwischen Tod und neuer Geburt, wenn der Mensch außerhalb
seiner Haut ist, sieht nämlich das Leben zwischen Geburt
und Tod ganz anders aus. Hier auf Erden stehen wir zum Beispiel
einem Menschen gegenüber, gegen den wir Antipathie haben,
mit dem wir Streit gehabt haben, dem wir Beleidigungen und
Schmerzen bereitet haben. Wir stecken im Affekt darinnen in
bezug auf einen solchen Menschen; wir würden das nicht
tun, wenn uns nicht in gewissem Sinne doch wohl wäre bei
einer solchen Tat. Vielleicht hat man etwas Reue darüber,
dann vergißt man es wieder. Nach dem Tode trifft man
diesen Menschen wieder, aber man hat dann das Gegenteil der
Befriedigung von dem Erlebnis. Man empfindet dann dieses:
Hätten wir das nicht getan, so wären wir
vollkommenere Menschen gewesen, also ist unsere Seele in diesem
Punkte unvollkommen. — Diese Unvollkommenheit ist der
Seele geblieben und muß ihr so lange bleiben, bis die Tat
ausgeglichen ist. Wir schauen weniger die Tat als den Makel in
unserer Seele: der muß ausgelöscht werden. Das
fühlen wir als eine Kraft in uns, die uns führt, eine
Gelegenheit zu suchen, um die Tat wieder auszulöschen. Bei
einer antispirituellen Seele würde noch dieses dazukommen,
daß sie fühlt: Von der Seele, der ich unrecht getan
habe, bin ich geschieden; ich muß warten, bis ich ihr
wieder einmal begegne, um den Flecken auszuwischen. — Als
Empfindung des notwendigen Karma ergibt sich der Rückblick
auf das vorige Leben. Mahnend steht das Akasha-Chronik-Bild der
anderen Seele vor uns; in lauter solchen Akasha-Chronik-Bildern
leben wir dann. Solche extreme Fälle gibt es nun aber
eigentlich nicht. Der Seher, der mit den Seelen der Gestorbenen
in Verbindung tritt, kann folgende Erfahrung haben. Er findet
eine ihm bekannte Seele, die aus einem männlichen Leibe in
den Tod gegangen ist, Weib und Kind zurückgelassen hat.
Die Seele sagt ihm: Ich habe Weib und Kinder
zurückgelassen, mit denen ich zusammenlebte. Jetzt habe
ich nur die Bilder von dem, was wir zusammen erlebt haben. Die
Meinen sind auf Erden, wo ich sie aber nicht sehen kann. Ich
fühle mich von ihnen getrennt — ja, vielleicht ist
auch schon einer von ihnen gestorben, und den kann ich auch
nicht finden. Das ist der Jammer der Seele, die in einer
Umgebung gelebt hat, die keinen Umgang pflegte mit dem
geistigen Leben. Darum bleiben diese Seelen im Dunklen mit
Bezug auf die geistige Welt, und sie können von der
geistigen Welt aus nicht gesehen werden.
Wenn der Seher dagegen Seelen aufsucht, die in der physischen
Welt andere Seelen zurückgelassen haben, die hier auf
Erden das geistige Leben pflegen, wie zum Beispiel die
Geisteswissenschaft, dann findet er, daß diese Seelen nach
dem Tode solche anderen Seelen wahrnehmen und mit ihnen Umgang
haben können im Leben nach dem Tode. Die sogenannten Toten
brauchen die Lebenden, denn sonst würden sie nichts
anderes auf Erden schauen können als sich selbst, das
heißt ihr eigenes abgelaufenes Leben. Darauf beruht die
Wohltat, die wir den gestorbenen Seelen erweisen können,
wenn wir ihnen geistig vorlesen — nicht laut, sondern in
Gedanken, während wir zugleich die Toten in Gedanken vor
uns haben. Wir können in dieser Weise verschiedenen Toten
zu gleicher Zeit vorlesen, sei es mit oder ohne Buch, und ihnen
damit eine große Wohltat erweisen. Die Gedanken aber
müssen auf etwas Geistiges Bezug haben; anderes hat
für den Toten keine Bedeutung. Durch diese Gedanken
schaffen wir dem Toten eine Außenwelt, etwas, was er
wahrnimmt. Chemische Gesetze und so weiter zu denken hat gar
keinen Sinn, da diese Gesetze keine Bedeutung haben für
die geistige Welt.
Man
kann auch nicht nach dem Tode in der geistigen Welt noch
Geisteswissenschaft lernen, wie man vielleicht glauben
könnte, weil Geisteswissenschaft doch geistige Gedanken
enthalte. Seelen, die hier schon etwas von Geisteswissenschaft
gehört haben, können wir große Dienste erweisen,
indem wir ihnen Zyklen vorlesen. Solche Seelen sind zwar
imstande, eine geistige Welt wahrzunehmen, aber sie können
deshalb doch nicht die Begriffe und Ideen bilden, die nur hier
erlangt werden können.
Nehmen wir ein Beispiel. Es gibt Wesenheiten, die man
Bodhisattvas nennt, hohe, vorgerückte menschliche
Wesenheiten, die sich immer wieder auf Erden verkörpern,
bis sie zum Buddha-Dasein aufgestiegen sind. Solange ein
Bodhisattva in seinem physischen Leibe ist, lebt er als Mensch
unter Menschen, als geistiger Wohltäter der Menschen. Aber
schon hier auf Erden hat er eine besondere Aufgabe, nicht nur
die in Leibern Lebenden zu lehren, sondern er lehrt auch die
Toten, ja auch sogar Wesenheiten der höheren Hierarchien.
Das rührt davon her, daß der Inhalt der irdischen
Theosophie nur auf Erden erlangt werden kann, in einem
physischen Leibe. Dann kann sie in der geistigen Welt gebraucht
werden, aber erworben muß sie werden in einem physischen
Leibe. Nur ausnahmsweise können Bodhisattvas andere Wesen
nach dem Tode weiterbringen, die schon hier den Funken des
geistigen Lebens aufgenommen haben. Durch die geistige Welt
selber entsteht nicht Theosophie; sie entsteht nur auf Erden
und kann dann durch die Menschen in die geistige Welt
hinaufgetragen werden. Das ist zu verstehen, wenn man bedenkt,
daß zum Beispiel die Tiere alles auf Erden schauen so wie
die Menschen, aber es nicht verstehen können. So
können die übersinnlichen Wesen die
übersinnliche Welt nur schauen, aber nicht verstehen.
Begriffe und Ideen von der übersinnlichen Welt können
nur auf Erden entstehen und strahlen von dort wie ein Licht auf
die geistige Welt aus. Daraus versteht man so recht die
Bedeutung der Erde. Sie ist nicht bloß eine
Durchgangsstufe oder ein Jammertal, sondern sie ist da, damit
hier ein geistiges Wissen entwickelt werden kann, das dann
hinaufgetragen werden kann in die geistigen Welten.
|