Teil 4
Diese Betrachtungen möchten nicht aus solcher
Seelenstimmung heraus die Frage beantworten: Wer hat diesen
Krieg gewollt?, wie dies manche Persönlichkeiten der mit
Mitteleuropa im Kriege befindlichen Länder tun. Sie
möchten die Bedingungen der Ereignisse durch sich
selbst sprechen lassen. Der diese Betrachtungen
niederschreibt, frug bei Russen an, ob sie einen Krieg gegen
Mitteleuropa gewollt haben. - Ihm scheint das, was Renan
im Jahre 1870 vorausgesagt hat, auf einen sichereren Weg zu
führen, als was gegenwärtig aus der Leidenschaft
heraus geurteilt wird. Es scheint ihm dies ein Weg zu dem
einzigen Urteilsgebiete zu sein, das gegenüber dem Kriege
auch von demjenigen besreten werden kann und soll, der sich
Vorstellungen darüber macht, welche Gedankenurteile
überflüssig und unangebracht sind, wenn die
Taturteile der Waffen aus Blut und Tod heraus über
Völkerschicksale zu entscheiden haben.
Gewiß ist, daß Triebkräfte, die zum Kriege
drängen, durch andere Kräfte so lange in ein
Friedensleben hineingezwungen werden können, bis sie sich
so weit in sich selber geschwächt haben, daß sie
unwirksam werden. Und wer durch diese Wirksamkeit zu leiden
hat, wird sich bemühen, diese den Frieden erhaltenden
Kräfte zu schaffen. Der Verlauf der Geschichte
zeigt, daß Deutschland seit Jahren sich gegenüber den
von Westen und Osten strömenden Willenskräften dieser
Bemühung unterzogen hat. Alles andere, was man mit
Bezug auf den gegenwärtigen Krieg in der Richtung auf
Frankreichs und Rußlands Triebkräfte sagen kann,
wiegt weniger als die einfache, offen liegende Tatsache,
daß diese Triebkräfte in dem Wollen der beiden
Länder genügend tief verankert waren, um allem zu
trotzen, was sie niederhalten wollte. Wer diese Tatsache
ausspricht, muß nicht notwendig zu denjenigen
Persönlichkeiten gezählt werden, die aus -
selbstverständlich in dieser Zeit ganz begreiflicher - von
den Ereignissen vorbestimmter Zu-oder Abneigung zu diesem oder
jenem Volke urteilen. Verachtung, Haß oder
ähnliches braucht mit solcher Urteilbildung nichts zu tun
haben. Wie man solche Dinge liebt oder nicht liebt, wie man sie
gefühlsmäßig einschätzt, das ist etwas
durchaus anderes als das Hinstellen der einfachen Tatsache. Es
hat auch nichts damit zu tun, wie man die Franzosen liebt oder
nicht liebt, wie man ihren Geist schätzt, wenn man glaubt,
Gründe zu der Meinung zu haben, daß Triebkräfte,
die in Frankreich zu finden sind, in die
gegenwärtigen Kriegsverwickelungen
hineinverschlungen sind. Was über solche Triebfedern, die
bei Völkern vorhanden sind, gesagt wird, kann freigehalten
werden von dem, was in das Gebiet der Anklage oder
Beschuldigung im gewöhnlichen Sinne fällt.
Man
wird bei den Deutschen vergeblich nach solchen Triebfedern
suchen, die zu dem gegenwärtigen Kriege in ähnlicher
Art führen mußten wie die von Solowieff bei den
Russen gekennzeichneten, von Renan für die Franzosen
vorausverkündeten. Die Deutschen konnten voraussehen,
daß man diesen Krieg einmal gegen sie führen werde.
Es war ihre Pflicht, sich für ihn zu rüsten. Was sie
zur Erfüllung dieser Pflicht getan haben, nennt man
bei ihren Gegnern die Pflege ihres Militarismus.
* * *
Was
die Deutschen um ihrer selbst willen und, um die ihnen durch
weitgeschichtliche Notwendigkeiten auferlegten Aufgaben zu
erfüllen, zu leisten haben, wäre ihnen ohne diesen
Krieg zu leisten möglich gewesen, wenn diese
Leistungen andern ebenso genehm wie ihnen notwendig
wären. Es hing eben durchaus nicht von den Deutschen ab,
wie die andern Völker die Erfüllung der
weltgeschichtlichen Aufgaben aufnahmen, die den Deutschen
auf materiellem Kulturgebiete in der neueren Zeit sich zu
ihren früher vorhandenen hinzufügten. Die
Deutschen konnten in die nur aus sich heraus wirksame Kraft,
die ihren materiellen Kulturleistungen Geltung
verschafft, das Vertrauen haben, das sie gewinnen mochten aus
der Art, wie ihre Geistesarbeit von den Völkern
aufgenommen worden ist. Wenn man nämlich auf deutsche Art
blickt, so gewahrt man, daß in derselben nichts liegt, was
den Deutschen notwendig gemacht hätte, das von ihm an
gegenwärtiger Arbeit zu leistende in anderer Weise
zur Geltung in der Welt zu bringen, als es bei seinen rein
geistigen Leistungen geschehen ist.
Es
ist nicht notwendig, daß der Deutsche selber den
Versuch mache, die Bedeutung der deutschen Geistesart und
Geistesleistung für die Menschheit zu kennzeichnen. Er
kann, wenn er Urteile verzeichnen will, welche Bedeutung diese
Art und Leistung für die außerdeutsche Menschheit
haben, die Antworten bei dieser außerdeutschen Menschheit
suchen. Man wird auf die Worte einer Persönlichkeit
hören dürfen, die zu den führenden im Gebiete
der englischen Sprache gehört, auf die des großen
Redners Amerikas, Ralph Waldo Emersons. Der gibt in seiner
Betrachtung über Goethe eine Kennzeichnung der deutschen
Geistesart und Geistesleistung in ihrem Verhältnisse zur
Weltbildung. Er sagt: «Eine Eigenschaft vornehmlich, die
Goethe mit seiner ganzen Nation gemein hat, macht ihn in den
Augen des französischen und des englischen Publikums zu
einer ausgezeichneten Erscheinung: daß sich alles bei ihm
nur auf die innere Wahrheit basiert. In England und Amerika
respektiert man das Talent, allein man ist zufriedengestellt,
wenn es für oder gegen eine Partei seiner Überzeugung
nach tätig ist. In Frankreich ist man schon entzückt,
wenn man brillante Gedanken sieht, einerlei wohin sie wollen.
In all diesen Ländern aber schreiben begabte Männer
soweit ihre Gaben reichen. Regt, was sie vorbringen, den
verständigen Leser an und enthält es nichts, was
gegen den guten Ton anstößt, so wird es für
genügend angesehen. So viel Spalten, so viel angenehm und
nützlich verbrachte Stunden. Der deutsche Geist besitzt
weder die französische Lebhaftigkeit noch das für das
Praktische zugespitzte Verständnis der Engländer,
noch endlich die amerikanische Art, sich in unbestimmte
Lagen zu begeben, allein, was er besitzt, ist eine gewisse
Probität, die niemals beim äußerlichen Scheine
der Dinge stehen bleibt, sondern immer wieder auf die
Hauptfrage zurückkommt: Das deutsche Publikum
verlangt von einem Schriftsteller, daß er über den
Dingen stehe und sich einfach darüber ausspreche. Geistige
Regsamkeit ist vorhanden: wohlan: wofür tritt sie auf? Was
ist des Mannes Meinung? Woher? - woher hat er alle diese
Gedanken?» Und an einer anderen Stelle dieser
Goethebetrachtung prägt Emerson die Worte: Der «tiefe
Ernst, mit dem sie - Emerson meint die in Deutschland
gebildeten Männer - ihre Studien betreiben, setzt
sie in den Stand, Männer zu durchschauen, welche bei
weitem begabter als sie selbst sind. Aus diesem Grunde
sind die in der höheren Konversation gebräuchlichen
Unterscheidungsbegriffe alle deutschen Ursprungs.
Während die ihres Scharfsinns und ihrer
Gelehrsamkeit willen mit Auszeichnung genannten Engländer
und Franzosen ihr Studium und ihren Standpunkt mit einer
gewissen Oberflächlichkeit ansehen, Lind ihr
persönlicher Charakter mit dem, was sie ergriffen haben,
und mit der Art, wie sie sich darüber ausdrücken, in
nicht allzu tiefem Zusammenhange steht, spricht Goethe, das
Haupt und der Inhalt der deutschen Nation, nicht weil er Talent
hat, sondern die Wahrheit konzentriert ihre Strahlen in seiner
Seele und leuchtet heraus aus ihr. Er ist weise im
höchsten Grade, mag auch seine Weisheit oftmals durch sein
Talent verschleiert werden. Wie vortrefflich das ist, was
er sagt, er hat etwas im Auge dabei, was noch besser ist. Er
hat jene furchterweckende Unabhängigkeit, welche aus
dem Verkehr mit der Wahrheit entspringt. Lausche auf seine
Worte oder wende dein Ohr ab: die Tatsache bleibt
bestehen, wie er sie sagte.»
Einige Gedanken Emersons seien noch angefügt, die ganz
gewiß hier werden stehen dürfen; hat sie doch ein
Englisch-Amerikaner über die Deutschen gesprochen.
«Die Deutschen denken für Europa ... Die
Engländer sehen nur das einzelne und wissen die
Menschheit nicht nach höheren Gesetzen als ein
Ganzes aufzufassen ... Die Engländer ermessen die
Tiefe des deutschen Geistes nicht.» Emerson konnte wissen,
welchen Einschlag deutsche Geistesarbeit der Menschheit zu
geben vermag.
Emerson spricht in den angeführten Sätzen von
der«Lebhaftigkeit der Franzosen» und von dem
«für das Praktische zugespitzten
Verständnis der Engländer». Wollte man in seinem
Sinne mit Bezug auf die Russen fortfahren, so könnte man
vielleicht sagen: der Deutsche besitzt nicht den Trieb der
Russen, für alle ihre Lebensäußerungen, selbst
für die praktischen, eine mystische Kraft zu suchen, durch
die sie sich rechtfertigen.
Und
in diesen Verhältnissen der Geister dieser Völker
liegt etwas, das den Kriegsgegensätzen, die
gegenwärtig wirksam sind, durchaus ähnlich ist. In
der Triebfeder, welche von den Franzosen her zum Kriege mit
Deutschland führte, wirkt deren Temperament, wirkt, was
Emerson mit ihrer Lebhaftigkeit meint. In diesem Temperament
liegt die geheimnisvolle Macht, welche so übersprudelnd
sich ausspricht in Renans Worten: «Haß auf den
Tod, Vorbereitungen ohne Rast, Allianz mit wem es sich
trifft.» Daß Frankreich mit einem absolut fast
gleichen, im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl
aber sogar mehr als anderthalbmal so großem Heer wie
Deutschland vor dem Kriege gerüstet dastand, ist ein
Ergebnis dieser geheimnisvollen Macht, über das die Phrase
von dem «deutschen Militarismus» als
verbergender Schleier gezogen werden soll. - In Rußlands
Kriegswillen wirkt der mystische Glaube selbst noch da, wo er
nur einen instinktiven Ausdruck findet. Man wird, um die heute
wirksamen Gegensätze zwischen Franzosen und Russen
einerseits, Deutschen andererseits zu kennzeichnen, die
Stimmungen der Seelen beobachten müssen. - Der
Kriegsgegensatz zwischen Briten und Deutschen ist dagegen ein
solcher, daß die Deutschen sich nur «für das
Praktische zugespitzten» Triebfedern
gegenübergestellt sehen. Das Ideal der englischen Politik
ist, dem Wesen des Landes entsprechend, ganz auf praktische
Ziele hingeordnet. Betont sei: dem Wesen des Landes
entsprechend. Was seine Bewohner etwa in ihrem Verhalten
von diesem Wesen offenbaren, ist selber eine Wirkung
dieses Wesens, nicht aber die Grundlage des englischen
politischen Ideals. Die Betätigung im Sinne dieses Ideals
hat in dem Briten die Gewohnheit erzeugt, als Richtschnur
dieser Betätigung das gelten zu lassen, was ihm den
persönlichen Lebensinteressen entsprechend
dünkt. Dem Vorhandensein einer solchen Richtschnur
widerspricht nicht, daß sie sich im gesellschaftlichen
Zusammenleben als bestimmte Regel geltend macht, der man
streng gehorcht, wenn man Lebensart haben will. Es widerspricht
ihm auch nicht, daß man die Richtschnur für etwas
ganz anderes hält, als sie ist. Alles dies gilt nur von
dem Briten, insoferne er eingegliedert ist der Welt seines
politischen Ideales. Und durch dieses ist ein Kriegsgegensatz
zwischen England und Deutschland geschaffen.
Dafür, daß einmal die Zeit kommen muß, in
welcher auf seelischem Gebiete die auf das Geistige gehende
Weltanschauung des deutschen Wesens sich ihre Weltgeltung
-selbstverständlich nur durch einen Kampf der Geister -
gegenüber derjenigen wird erobern müssen, die in
Mill, Spencer, dem Pragmatiker Schiller, in Locke und Huxley
und anderen ihre Repräsentanten aus dem englischen
Wesen heraus hat: dafür kann die Tatsache des
gegenwärtigen Krieges eine Mahnung sein. Es hat dies aber
mit diesem Kriege unmittelbar nichts zu tun.
Die
gekennzeichnete Richtschnur für das politische Ideal
Englands hatte Goethe im Sinne, als er, der Shakespeare zu den
Geistern zählte, die auf ihn den größten
Einfluß ausgeübt haben, die Worte sprach:
«Während aber die Deutschen sich mit Auflösung
philosophischer Probleme quälen, lachen uns die
Engländer mit ihrem großen praktischen
Verstande aus und gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre
Deklamationen gegen den Sklavenhandel, und, während sie
uns weiß machen wollen, was für humane Maximen
solchem Verfahren zugrunde liegen, entdeckt sich jetzt,
daß das wahre Motiv ein reales Objekt sei, ohne welches es
die Engländer bekanntlich nie tun, und welches man
hätte wissen sollen.» - Über Byron, der ihm das
Vorbild des Euphorion im zweiten Teil des Faust geworden
ist, sagt Goethe: «Byron ist zu betrachten als Mensch, als
Engländer und als großes Talent. Seine guten
Eigenschaften sind vorzüglich vom Menschen herzuleiten;
seine schlimmen, daß er ein Engländer ... war ...
Alle Engländer sind als solche ohne eigentliche Reflexion;
die Zerstreuung und der Parteigeist lassen sie zu keiner
ruhigen Ausbildung kommen. Aber sie sind groß als
praktische Menschen.»
Auch diese Goetheschen Urteile treffen nicht den
Engländer als solchen, sondern nur das, was als
«Gesamtwesen England» sich offenbart, wenn dieses
Gesamtwesen als Träger seines politischen Ideals
sich offenbart.
Das
erwähnte politische Ideal hat die Gewohnheit
entwickelt, einen möglichst großen Raum der
Erde zum Gebrauche für England nach der
gekennzeichneten Richtschnur einzurichten. Diesem Raum
gegenüber erscheint England wie eine Person, die ihr Haus
nach ihrer Annehmlichkeit einrichtet, und die sich daran
gewöhnt, auch den Nachbarn zu verwehren, etwas zu tun, was
die Bewohnbarkeit des Hauses weniger angenehm macht als man
wünscht.
Die
Gewohnheit, in dieser Art weiterleben zu können, glaubte
England durch die Entwickelung, die Deutschland in der neuesten
Zeit notwendig erstreben mußte, bedroht. Verständlich
ist daher, daß es einen kriegerischen Konflikt zwischen
Rußland-Frankreich einerseits und
Deutschland-Österreich andererseits nicht entstehen
lassen wollte, ohne alles zu tun, was beitragen konnte, den Alp
der Bedrohung, den ihm Deutschlands Kulturarbeit verursachte,
wegzuschaffen. Das aber war, sich Deutschlands Gegnern
anzuschließen. Ein rein politischer «für
das Praktische zugespitzter Verstand» errechnete,
welche Gefahr für England aus einem gegen Rußland und
Frankreich siegenden Deutschland erstehen könnte. -
Mit einer bloß moralischen Entrüstung über
die «belgische Neutralitätsverletzung» hat
dieses Errechnen so wenig zu tun, wie es mit dem «für
das Praktische zugespitzten Verstand», der die Deutschen
in Englands Interessenkreise sieht, wenn sie Belgien betreten,
viel zu tun hat.
Was
diese «für das Praktische zugespitzte»
Willensrichtung in Verbindung mit anderen gegen
Deutschland gerichteten Kräften zu Wirksamkeit im
Laufe der Zeit bringen müsse, das konnte sich für
eine deutsche Empfindung ergeben, wenn gefragt wurde: Wie
wirkte das politische Ideal Englands stets dann, wenn eine
europäische Landmacht es von den weitgeschichtlichen
Verhältnissen gefordert finden mußte, ihre
Betätigung über die Meere hin auszudehnen? Man
brauchte bloß auf das zu blicken, was dieses politische
Ideal Spanien und Portugal, Holland, Frankreich
gegenüber getan hatte, als diese ihre
Betätigung zur See entfalteten. Und man konnte sich
erinnern, daß dieses politische Ideal stets «sich auf
das Praktische zuspitzte» und zu errechnen
wußte, wie die europäischen Willensrichtungen, die
gegen die Länder gerichtet waren, in denen eine junge
Seebetätigung sich entfaltete, so in ein
Kräfteverhältnis zu bringen waren, daß
sich Aussicht eröffnete, England werde von seinem
Mitbewerber befreit werden.
Was
das Volk Deutschlands gegenüber der europaischen Lage vor
dem Kriege empfinden mußte, ergibt die Beobachtung
der auf dieses Volk aus dem Umkreis gerichteten Kräfte.
Von England her das «für das Praktische
zugespitzte» «Ideal» dieses Landes. Von
Rußland her Willensrichtungen, die den Aufgaben, welche
sich Deutschland und Österreich-Ungarn für «
Europas Mitte » ergeben hatten, widerstrebten. Von
Frankreich her Volkskräfte, deren Wesenheit für
den Deutschen nicht anders zu empfinden war als in der Art, die
Moltke einmal im Hinblick auf Frankreichs Verhältnis
zu Deutschland in die Worte geprägt hat: «Napoleon
war eine vorübergehende Erscheinung. Frankreich
blieb. Mit Frankreich hatten wir es schon vor
Jahrhunderten zu tun, mit ihm werden wir es noch in
Jahrhunderten zu tun haben ... (es) wird die
jüngere Generation in Frankreich in dem Glauben erzogen,
sie habe ein heiliges Recht auf den Rhein und die Mission, ihn
bei der ersten Gelegenheit zur Grenze Frankreichs zu machen.
Die Rheingrenze muß eine Wahrheit werden, das ist das
Thema für die Zukunft Frankreichs.»
Gegenüber diesen drei Willensrichtungen hatte die
weltgeschichtliche Notwendigkeit Deutschland und
Österreich-Ungarn zu «Europas Mitte»
zusammengeschmiedet. Es hat immer mit der Kultur dieser
europäischen Mitte verwachsene Menschen gegeben, welche
empfanden, wie dieser europäischen Mitte Aufgaben
erwachsen werden, die ihnen als von den Völkern dieser
Mitte gemeinsam zu lösende sich offenbaren
werden.Wie eines Repräsentanten solcher Menschen sei hier
eines lang Verstorbenen gedacht. Eines, der die Ideale von
«Europas Mitte» tief in seiner Seele trug, in der sie
erwärmt wurden von der Kraft Goethes, von der er
seine ganze Weltauffassung und die innersten Impulse seines
Lebens tragen ließ. Gemeint ist der österreichische
Literar- und Sprachforscher Karl Juijus Schröer. Ein Mann,
der von seinen Zeitgenossen in seiner Wesenheit und Bedeutung
allzuwenig gekannt und gewürdigt worden ist. Der
Schreiber dieser Betrachtungen zählt ihn zu
denjenigen Persönlichkeiten, denen er im Leben
unermeßlichen Dank schuldig ist. Schröer schrieb in
seinem Buche über die «Deutsche Dichtung» im
Jahre 1875 als Niederschlag der Empfindungen, die die
Ereignisse von 1870/1871 für die Formung eines Ideals von
«Europas Mitte» erregt hatten, die Worte nieder:
«Wir in Österreich sehen uns gerade bei diesem
bedeutenden Wendepunkte in einer eigentümlichen
Lage. Hat die freie Bewegung unseres staatlichen Lebens die
Scheidewand hinweggeräumt, die uns bis vor kurzem
von Deutschland trennte, sind uns nun ... die Mittel an
die Hand gegeben, uns emporzuarbeiten zu einem gemeinsamen
Kulturleben mit den übrigen Deutschen, so ist gerade
jetzt der Fall eingetreten, daß wir an einer großen
Handlung unseres Volkes uns nicht beteiligen sollten ... Im
deutschen Geistesleben konnte dadurch eine Scheidewand
nicht entstehen. Die Wurzeln desselben sind nicht politischer,
sondern kulturgeschichtlicher Natur. Diese
unzerreißbare Einheit deutschen Geisteslebens ...
wollen wir im Auge behalten ... im Deutschen Reiche wolle man
unsere schwere Kulturaufgabe würdigen und ehren, und
übers Vergangene nicht uns anrechnen, was unser Schicksal,
nicht unsere Schuld ist.» Aus welchen Empfindungen
würde eine so fühlende Seele sprechen, wenn sie noch
unter den Lebenden weilte und schaute, wie der
Österreicher in voller Einheit mit dem Deutschen
Deutschlands eine «Handlung ihres Volkes»
vollbringt.
«Europas Mitte» ist durch das «Schicksal»
gebildet; die Seelen, die mit verständnisvollem Anteil
sich dieser Mitte zugehörig fühlen,
überantworten es dem Geiste der Geschichte, zu
beurteilen, was in der Vergangenheit - und was auch in der
Gegenwart und Zukunft ihr «Schicksal, nicht ihre
Schuld» ist.
Und
wer das Verständnis beurteilen will, das die Ideen einer
gemeinsamen Willensrichtung der «Mitte Europas» nach
außen hin in Ungarn gefunden haben, der lese Stimmen aus
Ungarn, wie sich eine in dem Artikel über «die
Genesis des Defensivbündnisses» von Emerich von
Halasz in dem Heftevon «Jungungarn»vomMärz 1911
findet. Darin stehen die Worte: «Wenn wir ... bedenken,
daß Andrassy schon vor mehr als dreißig und auch
Bismarck vor mehr als einundzwanzig Jahren von der
Leitung der Geschäfte zurückgetreten ist und
dieses große Friedenswerk noch immer in voller Kraft
besteht und noch weiter eine lange Dauer zu haben verspricht:
so brauchen wir uns wohl nicht einem trübseligen
Pessimismus hinzugeben ... Bismarck und Andrassy haben
mit vereinter Kraft eine imponierende Lösung des
mitteleuropäischen Problems gefunden und hiermit ein
zivilisatorisches Werk vollbracht, welches hoffentlich
mehrere Generationen überdauern wird ... In der
Geschichte derAllianzen suchen wir vergebens nach einem Gebilde
von solcher Dauer und von solch gewaltiger
Konzeption.»
Als
sich die gekennzeichneten, gegen «Europas Mitte»
gekehrten Wollensrichtungen zum gemeinsamen Druck
zusammengefunden hatten, war es unvermeidlich, daß
dieser «Druck» die Empfindungen bestimmte, die
innerhalb der mitteleuropäischen Völker über den
Gang der Weltereignisse sich bildeten. Und als die
Tatsachen des Sommers 1914 eintraten, trafen sie Europa in
einer weltgeschichtlichen Lage, in welcher die im
Völkerleben wirksamen Kräfte in den Gang der
Ereignisse so eingreifen, daß sie die Entscheidung
darüber, was geschehen wird, aus dem Bereiche
gewöhnlicher menschlicher Beurteilung hinwegnehmen
und in das einer höheren Ordnung stellen, einer Ordnung,
durch die die weltgeschichtliche Notwendigkeit innerhalb des
Ganges der Menschenentwickelung wirkt. Wer das Wesen solcher
Welt-Augenblicke empfindet, der hebt auch sein Urteil aus dem
Gebiete heraus, in dem Fragen nisten von der Art, was wäre
geschehen, wenn in schicksalsschwerer Stunde dieser oder jener
Vorschlag dieser oder jener Persönlichkeit mehr
Wirkung gehabt hätte, als es der Fall war? Die Menschen
erleben in Augenblicken weltgeschichtlicher Wendungen in ihren
Entscheidungen Kräfte, über die man nur richtig
urteilt, wenn man bestrebt ist - an Emersons Worte sei erinnert
-, nicht nur das «einzelne zu sehen», sondern
die Menschheit «nach höheren Gesetzen als ein Ganzes
aufzufassen». Wie sollten Entscheidungen der Menschen nach
den Gesetzen des gewöhnlichen Lebens beurteilt
werden dürfen, die nicht aus diesen Gesetzen heraus
gefällt werden können, weil in ihnen der Geist wirkt,
der nur in den weltgeschichtlichen Notwendigkeiten erschaut
werden kann. - Naturgesetze gehören der Naturordnung an;
über ihnen stehen die Gesetze, die der Ordnung des
gewöhnlichen menschlichen Zusammenlebens
angehören; und über ihnen stehen die
geistig-wirksamen Gesetze des weltgeschichtlichen
Werdens, die einer noch anderen Ordnung angehören,
derjenigen, durch welche Menschen und Völker Aufgaben
lösen und Entwickelungen durchmachen, die außerhalb
des Gebietes des gewöhnlichen menschlichen
Zusammenlebens liegen.
* * *
Nachträgliche Bemerkung: Die vorstehenden Gedanken
enthalten, was der Verfasser des Schriftchens in Vorträgen
ausgesprochen hat, die vor dem kriegerischen Eintreten
Italiens in das gegenwärtige Völkerringen
gehalten worden sind. Man wird es aus dieser Tatsache heraus
begreiflich finden, daß in der Schrift nichts über
die Triebkräfte enthalten ist, die von dieser Seite
her gegen «Mitteleuropa» zum Kriegswillen geworden
sind. Ein später erscheinendes Schriftchen wird
hoffentlich eine darauf bezügliche Ergänzung
bringen können.
Berlin, 5. Juli 1915.
Anderes über die gegenwärtige Zeit und Europas
Völker hofft der Verfasser bald in einem zweiten
Schriftchen geben zu können. Die hier niedergeschriebenen
Gedanken sind aus Vorträgen zusammengezogen, welche der
Verfasser an mehreren Orten in den letzten Monaten
gehalten hat.
Emersons Sätze sind hier angeführt nach der
Übersetzung Herman Grimms. Vgl. dessen Buch: Fünfzehn
Essays. Dritte Folge.
Zuletzt aktualisiert: 24-Mar-2024
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